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Smithback spähte durch den Gitterboden eines rostigen Laufstegs in den mit Ziegeln ausgemauerten Schacht, der unter seinen Füßen senkrecht hinunter in die Erde führte. Aus der Tiefe konnte er die Stimmen von Waxie und den anderen hören, und er fragte sich, ob es wirklich so klug gewesen war, den Männern dort hinunter zu folgen, während draußen die größte Straßenschlacht tobte, die New York seit vielen Jahren erlebt hatte.

Jetzt aber war er schon mal hier, und da wollte er wenigstens wissen, was dieser Waxie im Untergrund zu schaffen hatte.

Vorsichtig bewegte Smithback sich nach vorn und spähte in die Tiefe. Der alte Laufsteg, auf dem er sich befand, hing an der Unterseite eines riesigen Eisenkessels, an dessen niedrigstem Punkt ein dickes Rohr in dem gemauerten Schacht verschwand. Die alte Eisenkonstruktion ächzte furchterregend, als der Journalist sich über die Balustrade beugte. Aus dem Schacht, der von ein paar schwachen Glühbirnen nur unzureichend beleuchtet wurde, wehte ein kalter, frischer Luftzug herauf, der Smithback die Haare aus der Stirn blies. Aus einem winzigen Loch in der Wand des Eisenkessels über ihm sprühte ein dünner Wasserstrahl herab, und Geräusche wie das Ächzen eines vom Wasserdruck der Tiefsee zusammengepreßten U-Boot-Rumpfs hallten von den Wänden des Schachtes wider.

Bisher hatte Smithback nicht gewußt, daß es unterhalb des Wasserreservoirs im Central Park so einen seltsamen und unheimlichen Ort überhaupt gab. Bei dem riesigen Metallbecken über ihm mußte es sich wohl um den Abfluß des künstlichen Sees handeln, von dem aus das Trinkwasser in die unzähligen unter der Stadt verlaufenden Leitungen verteilt wurde. Allein bei dem Gedanken an die zig Millionen Tonnen Wasser direkt über seinem Kopf spürte Smithback eine Art Beklemmung in sich aufsteigen.

Jetzt konnte er die Männer auf einer kleinen Plattform weiter unten im Schacht entdecken. Sie standen vor einem Gewirr von Rohren, Handrädern und Ventilen, das Smithback wie ein Alptraum aus dem frühen Industriezeitalter vorkam. Der Journalist begann, die Leiter hinunterzuklettern, besann sich aber nach wenigen Sprossen eines Besseren und kehrte wieder um.

Die Leiter war feucht und glitschig, und die Plattform unter ihm hatte kein Geländer. Außerdem war es ohnehin viel gescheiter, oben auf dem Laufsteg zu bleiben. Von hier aus hatte er alles im Blick und blieb selbst praktisch unsichtbar.

Tief unter ihm glitten die Strahlen von Taschenlampen über die Ziegelwände des Schachtes, die Stimmen der Polizisten hallten hohl und verzerrt herauf. Smithback erkannte Waxies tiefen Baß, den er schon einmal im Vortragssaal des Museums gehört hatte. Der fettleibige Captain sprach offenbar in ein Funkgerät Als er es wieder wegsteckte, wandte er sich an den kleinen Mann mit dem Schnurrbart Die beiden schienen nicht allzu gut aufeinander zu sprechen zu sein. »Sie verdammter Lügner«, fuhr Waxie den Mann an. »Sie haben mir nie gesagt, daß man das Ablassen des Reservoirs nicht mehr aufhalten kann.«

»Doch, das habe ich«, antwortete eine hohe weinerliche Stimme. »Das habe ich sehr wohl. Sie haben damals sogar gesagt, daß Sie es gar nicht aufhalten wollten. Hätte ich nur ein Tonbandgerät dabeigehabt, dann ...«

»Halten Sie den Mund. Wo sind die Ventile?«

»Da hinten.«

Die Männer traten schweigend auf die andere Seite der Plattform. Smithback konnte hören, wie die betagte Stahlkonstruktion unter ihrem Gewicht ächzend protestierte.

»Ist diese Plattform denn sicher?« schallte Waxies Stimme aus der Tiefe des Schachts.

»Woher soll ich denn das wissen?« entgegnete der andere Mann. »Seit das System auf Computersteuerung umgestellt wurde, hat man alle Wartungsarbeiten hier eingestellt, weil die Stadt ja sparen muß und ...«

»Schon gut, schon gut. Halten Sie hier keine Volksreden, sondern tun Sie Ihre Arbeit, Duffy. Ich will so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden.«

Der Mann, den Waxie Duffy genannt hatte, tratvor eine Batterie von Handrädern. »Die müssen wir alle zudrehen«, sagte er.

»Damit schließen wir einen Notschieber, der das Wasser zurückhält, wenn der Computer den Haupts chieber per Automatik öffnet. Ich kann nur hoffen, daß der Mechanismus noch funktioniert Er wurde seit vielen Jahren nicht mehr betätigt«

»Verschonen Sie mich mit dieser alten Leier, Duffy, und tun Sie gefälligst das, wozu Sie hier sind.«

Was haben die vor? fragte sich Smithback. Soweit er es verstanden hatte, versuchten sie, ein Ablassen des Reservoirs zu verhindern. Die Vorstellung, daß das ganze Wasser vielleicht durch das Rohr neben ihm rauschen würde, war Smithback alles andere als angenehm. Was war passiert? Spielte ein Computer verrückt?

Was immer es auch sein mochte, es war bestimmt nicht so interessant wie die Vorgänge, die sich inzwischen oben an der Oberfläche abspielten, Srnithback hätte niemals aufgrund einer bloßen Ahnung Waxie hinunter in diese feuchte Tiefe folgen dürfen.

»Helfen Sie mir, und drehen Sie an diesem Rad«, sagte Duffy.

»Haben Sie nicht gehört?« fuhr Waxie einen der Polizisten an.

Von seinem Beobachtungsposten aus konnte Smithback sehen, wie zwei der Männer sich an einem großen Eisenrad zu schaffen machten. Ein leises metallisches Ächzen stieg aus dem Schacht empor. »Das Ding rührt sich nicht«, meinte einer von ihnen.

Duffy trat auf sie zu und untersuchte das Rad. »Da hat jemand dran herummanipuliert!« rief er. »Sehen Sie sich das an, Captain. Der Bolzen wurde abgebrochen. Und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Die Bruchstelle ist noch nicht mal angerostet!«

»Erzählen Sie keinen Scheiß, Duffy.«

»Das ist kein Scheiß. Sehen Sie doch selbst. Das Ventil ist hinüber.«

Eine Weile war es still in dem Schacht »Scheiße im Kanonenrohr!« polterte Waxie schließlich los. »Können Sie das reparieren, Duffy?«

»Klar kann man das. Aber es dauert mindestens einen Tag. Ich brauche dazu ein autogenes Schweißgerät, einen neuen Ventilschaft und ein paar gute Mechaniker. Dazu noch eine Reihe kleinerer Ersatzteile, die seit hundert Jahren nicht mehr hergestellt werden.«

»Vergessen Sie's. Wenn Sie es nicht gleich schaffen, können Sie es auch bleibenlassen. Sie haben uns in diesen Schlamassel gebracht, Duffy, jetzt tun Sie gefälligst etwas, um uns wieder herauszuholen.«

»Zum Teufel mit Ihnen, Waxie« gellte die schrille Stimme von Duffy aus dem Schacht herauf. »Ich habe Ihre Unverschämtheiten gründlich satt Sie sind ein dummer, ungehobelter Fettsack, sonst nichts.«

»Passen Sie auf, was Sie sagen, Duffy. Das kommt alles in meinen Bericht!«

»Hoffentlich! Und vergessen Sie nicht, daß ich Sie einen dummen Fettsack nannte, sonst werde ich es eigenhändig ...«

Duffy verstummte abrupt.

»Riechen Sie auch was?« fragte einer der Polizisten.

»Was ist das, verdammt noch mal?«

Smithback sog die kühle, feuchte Luft ein, die nach nichts weiterem als nach Schimmel und alten Ziegeln roch. »Machen wir, daß wir von hier fortkommen«, sagte Waxie und ging zur Leiter.

»Warten Sie. Was ist mit dem Ventil?« wollte Duffy wissen.

»Sie haben doch eben gesagt, daß Sie es nicht reparieren können«, entgegnete Waxie und fing an, nach oben zu klettern. Aus der Tiefe weit unterhalb der Plattform hörte Smithback ein leises klapperndes Geräusch.

»Was war das?« fragte Duffy mit zitternder Stimme.

»Jetzt kommen Sie schon!« schrie Waxie und zog seinen unförmigen Körper weiter Sprosse für Sprosse die Leiter hinauf.

Smithback sah, wie Duffy zögerte und über den Rand der Plattform nach unten blickte. Dann drehte er sich rasch um und kletterte Waxie hinterher. Die Polizisten folgten ihm.

Smithback wurde auf einmal klar, daß sie gleich oben bei ihm sein würden. Bis dahin mußte er verschwunden sein. Er drehte sich um und machte sich auf den Rückweg nach oben. Höchste Zeit, daß er sich wieder den wirklich wichtigen Dingen widmete. Wegen dieses läppischen Wortwechsels im Untergrund hatte er jetzt vielleicht das Ende der Straßenschlacht verpaßt Während Smithback den wackeligen Laufsteg entlangging, fragte er sich, wo Mrs. Wisher jetzt wohl sein mochte. Am Ende machte sich womöglich noch dieser Mistkerl Harriman an sie heran und ...

Von unten drang ein lautes Quietschen wie von rostigen Türangeln herauf, gefolgt von einem Geräusch, das sich anhörte, als sei ein eisernes Gitter zugefallen.

»Was war das?« keuchte Waxie.

Smithback machte kehrt und ging zurück zur Leiter. Er sah, daß Waxie und die anderen im Klettern innegehalten hatten und in den Schacht hinabstarrten. Alles war still. Und in dieser Stille war auf einmal ein seltsam pfeifendes Schnaufen zu hören, das Smithback einen kalten Schauder den Rücken hinunterjagte. Die Gruppe auf der Leiter leuchtete mit ihren Taschenlampen nach unten, ohne aber in der Dunkelheit etwas entdecken zu können.

»Was ist da unten los?« rief Waxie.

»Da kommt jemand die Leiter herauf«, antwortete einer der Polizisten.

»Halt, Polizei!« brüllte Waxie. Seine Stimme hatte auf einmal einen seltsam schrillen Ton.

Keine Antwort.

»Wer ist da?«

»Sie kommen näher«, rief der Polizist.

»Der Geruch wird stärker«, schrillte eine andere Stimme, und in diesem Augenblick roch Smithback es auch: Es war ein überreifer ziegenartiger Gestank, der ihn schlagartig in einen Alptraum zurückversetzte, den er vor achtzehn Monaten im Keller des Museums durchlebt hatte.

»Zieht eure Waffen«, kreischte Waxie in Panik.

Und dann konnte Smithback sie sehen: dunkle Gestalten, die, aus der Tiefe kommend, rasch nach oben strebten. Sie trugen weite dunkle Mäntel mit großen Kapuzen, die ihre Gesichter vollständig verbargen.

»Stehenbleiben, Polizei!« schrie Waxie. »Weisen Sie sich aus!«

Schwerfällig positionierte er seinen dicken Körper so, daß er nach unten schauen konnte. »Sie bleiben hier und nehmen die Personalien von diesen Leuten auf«, befahl der den Polizisten.

»Sollten sie sich unbefugt hier aufhalten, sprechen Sie ihnen eine Verwarnung aus.« Nach diesen Worten drehte er sich wieder um und kletterte weiter die Leiter hinauf. Duffy folgte ihm auf dem Fuß.

Smithback wurde gewahr, daß die Gestalten jetzt die Plattform unterhalb der Polizisten erreicht hatten. Eine von ihnen kletterte weiter und versuchte, einen der Beamten an den Füßen nach unten zu ziehen. Dann gellte ein Schuß aus einer Neun-Millimeter-Polizeipistole durch den Schacht, der in dem engen Raum wie ein ohrenbetäubender Donnerschlag klang. Dem Knall folgte ein gellender Schrei, und Smithback sah, wie der Polizist von der Leiter gezogen wurde und in den Schacht hinabstürzte. Im Fallen schrie er noch weiter, und es dauerte eine ganze Weile, bis seine immer leiser werdende Stimme gänzlich verklungen war.

»Haltet sie auf'.« brüllte Waxie über seine Schulter nach unten und wuchtete sich weiter die Leiter hinauf.

Vor Schrecken starr sah Smithback, daß die Gestalten jetzt immer rascher die unter ihrem Gewicht ächzende Leiter heraufkamen. Auch der zweite Polizist wurde von ihnen gepackt und in den Schacht geworfen. Im Hinunterfallen feuerte er immer wieder seinen Revolver ab, dessen Mündungsfeuer in unregelmäßigen Abständen wie ein fernes Gewitter aus der Tiefe aufblitzte. Der dritte Polizist begann, in panischem Schrecken die Leiter hinaufzuklettern.

Die unheimlichen Gestalten folgten ihm beängstigend rasch.

Kräftig und behende nahmen sie immer zwei Sprossen auf einmal und hatten den Polizisten rasch eingeholt.

Eine der Gestalten fuhr ihm mit ihrer Hand von hinten quer über die Beine. Smithback hörte das Schleißen von Stoff, gefolgt von einem gellenden Schrei des Polizisten. Die Gestalt kletterte zwei Sprossen hinauf, bis sie mit dem Mann auf gleicher Höhe war, und riß ihm dann mit den Händen Hals und Gesicht auf, während die anderen Wesen vorbeikletterten und nun Duffy ins Visier nahmen.

Smithback wollte sich umdrehen und weglaufen, aber er konnte seine Augen nicht von den grauenvollen Ereignissen wenden, die sich unter ihm auf der Leiter abspielten. Waxie war in seiner Panik von einer der Sprossen ausgerutscht und suchte, während er sich beidhändig an das rostige Metall klammerte, mit den Beinen verzweifelt nach einem neuen Halt. Duffy befand sich jetzt unmittelbar hinter ihm, dichtauf gefolgt von den keuchenden Gestalten.

»Es hat mein Bein!« schrie Duffy und trat wild nach unten. »O Gott, lieber Gott! Bitte hilf mir!« Seine hysterische Stimme hallte gespenstisch von den Wänden des Schachtes wider. Mit der Kraft der Verzweiflung gelang es Duffy, sich aus dem Griff des Wesens zu befreien und an dem noch immer wie ein hilfloser Sack an der Leiter hängenden Waxie vorbeizuklettern.

»Nein! Nein!« kreischte Waxie verzweifelt, als die Gestalten nach seinen Füßen faßten. Dabei strampelte er so stark, daß er einer von ihnen die Kapuze vom Kopf trat. Als Smithback das Gesicht der Kreatur sah, schloß er instinktiv die Augen. Aber es war schon zu spät. Das gräßliche Gesicht, dessen Bild sich in Bruchteilen von Sekunden tief in sein Gedächtnis eingegraben hatte, war grauenvoller als seine schlimmsten Alpträume: gelbe Augen mit schmalen reptilienhaften Pupillen, dicke fleischige Lippen und große vibrierende Nasenlöcher, durch die das Wesen mit einem leisen Pfeifen die feuchte Luft einsog. Das Schlimmste aber waren die unzähligen tiefen Falten in der narbigen, feucht glänzenden Haut, die dem Gesicht jegliche Ähnlichkeit mit einem Menschen nahmen. Schlagartig wurde Smithback klar, warum Mephisto die Wesen aus dem Untergrund die »Wrinkler« genannt hatte.

Der grauenvolle Anblick hatte Smithbacks Erstarrung gelöst.

Rasch drehte der Journalist sich um und rannte den Laufsteg entlang. Hinter sich hörte er, wie Waxie seinen Revolver abfeuerte. Dann kamen ein Schrei, der Smithback die Knie weich werden ließ, zwei weitere Schüsse in rascher Folge und schließlich ein lautes blubberndes Gurgeln, das in ein halb ersticktes, grauenhaftes Röcheln überging.

Getrieben von einer allesverschlingenden Angst, die ihm jeden klaren Gedanken zu rauben drohte, stolperte Smithback weiter. Hinter sich hörte er Duffys hastige Schritte – oder zumindest hoffte er, daß es Duffys Schritte waren – und ein verzweifeltes, von hemmungslosem Schluchzen unterbrochenes Atmen.

Ich habe einen guten Vorsprung, versuchte Smithback sich einzureden. Die Kreativen müssen immerhin erst mal die Leiter hinaufklettern,und dann ist da noch Duffy zwischen mir und ihnen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er umdrehen und Duffy zu Hilfe kommen sollte, aber er konnte ja doch nichts für ihn tun. Bitte, lieber Gott, laß mich diesmal noch davonkommen, begann er in seiner Verzweiflung zu beten. Ich verspreche dir auch, daß ich mich nie wieder in Gefahr begeben werde.

Smithback erreichte das Ende des Laufstegs und hastete erleichtert die Steinstufen hinauf, die zurück an die Oberfläche führten. Aber dann sah er etwas, das ihm das Blut in den Adern stocken ließ: Vor dem vom Mond erhellten Nachthimmel am Ende der Treppe zeichneten sich deutlich mehrere unförmige Gestalten ab, die die Stufen hinunter direkt auf ihn zukamen!

Smithback machte kehrt und suchte an den Ziegelwänden des Ganges verzweifelt nach einer Abzweigung, einer Tür, einer Nische, in der er sich verstecken konnte. Erst im letzten Augenblick entdeckte er einen von Kalk überkrusteten Durchgang, der in einen schmalen niedrigen Seitentunnel führte. Von Panik getrieben rannte Smithback in die Dunkelheit und spürte, daß der Tunnel genau in die Richtung führte, in die er überhaupt nicht wollte: nach unten.