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Smithback setzte sich in seinem Lieblingscafe an die Theke und nickte dem griechischen Koch zu, der wortlos mit der Zubereitung seines Frühstücks begann: zwei verlorene Eier und eine doppelte Portion Tatar.
Smithback schlürfte derweil den Kaffee, den der Koch vor ihn hingestellt hatte, und breitete mit zufriedenem Seufzer seine mitgebrachten Zeitungen aus.
Zuerst widmete er sich der Post und las mit gerunzelter Stirn Hank McCloskeys Artikel über den Mord im Belvedere Castle, der seinen eigenen Bericht über die Demonstration auf der Grand Army Plaza von der Titelseite verdrängt hatte. Wenn er die Geschichte über die Bißspuren an den Leichen hätte bringen dürfen, wäre das nicht passiert, aber er hatte Margo ja nun mal sein Wort gegeben. Morgen aber würde er sich mit dieser Story die Titelseite zurück erobern. Und vielleicht würde ihm ja sein Verzicht von heute in Zukunft andere, noch viel sensationellere Geschichten verschaffen.
Als sein Frühstück kam, legte Smithback die Post beiseite und aß eine Gabel von seinem Tatar, während er nebenbei die Times durchblätterte. Verächtlich grinsend überflog er die biedere langweilige Schlagzeile, bis er weiter unten eine andere Überschrift entdeckte: »Kehrt das Museumsmonster zurück?« Darunter stand:
»Exklusiv für die Times von Bryce Harriman.«
Smithbacks Tatar schmeckte auf einmal so fade wie Tapetenleim.
New York – Wissenschaftler am Museum für Naturgeschichte haben, wie die Times aus gut informierter Quelle erfahren hat, an den Leichen von Pamela Wisher und einer bisher unidentifizierten Person Bißspuren entdeckt, von denen man allerdings noch nicht weiß, ob sie mit der Todesursachein unmittelbarem Zusammenhang stehen oder den Leichen erst im nachhinein von Hunden oder anderen Tieren zugefügt wurden.
Seit dem brutalen Mord an Nicholas Bitterman gestern nacht im Belvedere Castle im Central Park arbeiten die Wissenschaftler mit Hochdruck an einer Antwort auf diese Frage. Möglicherweise passen auch die Morde, denen in den vergangenen Monaten mehrere Obdachlose zum Opfer gefallen sind, in dieses Schema. Bisher ist jedoch noch nicht bekannt, ob auch diese Leichen im Museumslabor untersucht werden sollen. Pamela Wishers sterbliche Überreste sind inzwischen ihrer Familie übergeben worden und sollen heute nachmittag um drei Uhr auf dem Holy Cross Friedhof in Bronxville beigesetzt werden.
Die Autopsien im Museum wurden unter strengster Geheimhaltung durchgeführt.
Offenbar befürchtet man, unter der Bevölkerung eine Panik auszulösen, aber das Wort, das hinter vorgehaltener Hand die Runde macht, ist: Mbwun.
Mbwun hieß jenes Monster, das eine vom Amazonas zurückkehrende Expedition unwissentlich in das Museum eingeschleppt hatte und das im April vergangenen Jahres mehrere Angestellte und Besucher des Museums tötete. Bei der Eröffnung der spektakulären Aberglauben-Ausstellung sorgte die gefährliche, mit übernatürlichen Kräften ausgestattete Kreatur für eine Massenpanik. Das Massaker, bei dem sechsundvierzig Menschen, darunter auch der Direktor des Museums, starben und bei dem fast dreihundert verletzt wurden, zählt zu den schlimmsten Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts in New York.
Der Name Mbwun wurde der Kreatur von den Kothoga gegeben, einem inzwischen ausgestorbenen Indianerstamm aus dem Amazonas-Becken. Jahrzehntelang waren Anthropologen und Kautschuksammlern am Oberlauf des Xingu-Flusses Gerüchte von einem großen, gefährlichen und reptilienartigen Tier zu Ohren gekommen, bis im Jahr 1987 das Naturgeschichtliche Museum eine Expedition unter dem Anthropologen John Whittlesey ausschickte, um mehr Informationen über die Kothoga und die geheimnisvolle Kreatur zu sammeln. Whittlesey verschwand im Regenwald, und die anderen Mitglieder der Expedition kamen auf tragische Weise auf der Rückreise in die Vereinigten Staaten bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
Mehrere Kisten mit den von der Expedition gesammelten Exponaten fanden per Schiff den Weg nach New York. Zum Verpacken der Gegenstände hatte man Pflanzenfasern verwendet, die eine ganz bestimmte Substanz enthielten. Die Kreatur, die auf bisher ungeklärte Art und Weise ins Museum gelangte – man vermutet, daß sie unbeabsichtigt in einem der Frachtcontainer nach New York verschifft wurde –, war nach dieser Substanz süchtig. Solange sie im Keller des Museums genügend von diesen Fasern fand, konnte sie dort unbemerkt leben. Erst als die Vorräte zur Neige gingen, begann sie, Besucher und Aufsichtspersonal anzufallen.
Bei der Eröffnung der Aberglauben-Ausstellung wurde die Kreatur getötet. Ihr Kadaver wurde von den Behörden beschlagnahmt und beseitigt, bevor noch eingehendere Untersuchungen an ihr vorgenommen werden konnten. Obwohl das meiste über die Kreatur im dunkeln liegt, ist sich die Wissenschaft darüber einig, daß sie auf einem tepui, einem isolierten Plateau im Urwald, lebte, das vor kurzem durch eine neu angelegte Goldmine vollständig zerstört wurde. Professor Whitney Cadwalader Frock, der bis vor kurzem zum wissenschaftlichen Stab des Naturgeschichtlichen Museums gehörte und als der Verfasser des Buches »Die Fraktale Evolution« berühmt wurde, vertritt die Auffassung, daß es sich bei der Kreatur um eine einmalige evolutionäre Mißbildung handelte, die nur in ihrem isolierten Lebensraum mitten im Regenwald entstehen konnte.
Anläßlich der jüngst in dieser Stadt verübten Morde wurden nun Vermutungen laut, daß eine zweite Mbwun-Kreatur dafür verantwortlich sein könnte.
Diese Befürchtungen teilt offenbar auch die New Yorker Polizei, denn weshalb sonst hätte sie die im Humboldt Kill gefundenen Skelette ausgerechnet im Naturgeschichtlichen Museum auf Bißspuren untersuchen lassen sollen? Es bleibt also zu hoffen, daß wir möglichst bald erfahren werden, ob die Leichen von streunenden Hunden angenagt wurden oder ob sie einem weitaus stärkeren und gefährlicheren Lebewesen zum Opfer fielen – einer Kreatur von der Sorte Mbwuns.
Zitternd vor Wut schob Smithback den Teller mit den Eiern und dem Rest des Tatars beiseite. Er wußte nicht, was schlimmer war: daß dieser Schnösel Harriman ihm eins ausgewischt hatte oder das Wissen, daß er, Smithback, die Geschichte bereits im Sack gehabt und sich dazu hatte überreden lassen, sie einen Tag aufzuschieben.
Nie wieder, schwor sich Smithback. Nie wieder würde ihm so etwas passieren.
Im fünfzehnten Stock des Polizeipräsidiums ließ Lieutenant D'Agosta dieselbe Zeitung mit einem leisen Fluch auf seinen Schreibtisch sinken. Die Öffentlichkeitsabteilung der Polizei würde beide Hände voll zu tun haben, um eine Massenhysterie zu verhindern. Wenn er herausfand, wer diese Information an die Presse weitergegeben hatte, würde er ihm höchstpersönlich den Arsch aufreißen. Aber wenigstens stammte dieser Artikel ausnahmsweise einmal nicht von seinem nervtötenden Freund Smithback.
D'Agosta griff zum Telefon, um den Polizeipräsidenten anzurufen. Wenn schon ein Arsch aufgerissen werden mußte, sollte das nach Möglichkeit nicht sein eigener sein. Bei Horlocker war es immer besser, wenn man sich mit ihm in Verbindung setzte und nicht wartete, bis er sich meldete.
D'Agosta hatte kein Glück. Er erreichte nur die Voice-Mail von Horlockers Sekretärin.
Er schlug noch einmal die Zeitung auf, warf sie aber nach kurzer Lektüre frustriert wieder auf den Schreibtisch. Jeden Augenblick konnte Waxie kommen und sich über den Termin beschweren, den der Polizeipräsident ihm und D'Agosta gesetzt hatte. Beim Gedanken an Waxie schloß D'Agosta unwillkürlich die Augen, öffnete sie aber sofort wieder, als er spürte, daß ihn ein tiefes Gefühl der Müdigkeit überfiel. Er hatte in der vergangenen Nacht wegen der Untersuchung des Bitterman-Mordes nur zwei Stunden geschlafen und war völlig fertig.
Er stand auf und trat ans Fenster. Unter einem dünnen Schleier aus Smog sah er, wie auf dem Pausenhof einer nahen Grundschule Kinder herumtollten, Seil hüpften und Fangen spielten.
Sicher brüllten sie dabei aus Leibeskräften, aber D'Agosta war viel zu weit entfernt, um etwas davon zu hören. Großer Gott, was hätte er dafür gegeben, jetzt eines dieser Kinder sein zu können.
Als er sich wieder seinem Schreibtisch zuwandte, bemerkte er, daß er mit der Zeitung das Foto seines zehnjährigen Sohnes, Vinnie junior, umgeworfen hatte. Er stellte es wieder auf, rückte es sorgfältig zurecht und lächelte es an. Danach fühlte er sich ein wenig besser. Er griff in seine Brusttasche und zog eine Zigarre hervor. Zum Teufel mit Horlocker. Er würde die Dinge einfach auf sich zukommen lassen.
D'Agosta zündete seine Zigarre an, warf das Streichholz in den Aschenbecher und trat vor den großen Stadtplan an der Wand, auf dem die West Side von Manhattan dargestellt war. In der Karte steckten zwei rote und weiße Markierungsnadeln. Die weißen standen für Menschen, die in den vergangenen sechs Monaten verschwunden waren, die roten für Morde, die denen an den Obdachlosen und an Pamela Wisher ähnelten.
D'Agosta nahm aus seiner Plastikdose eine rote Nadel, suchte sich das Wasserreservoir im Central Park aus und drückte die Nadel unmittelbar unterhalb in den Stadtplan. Dann trat er einen Schritt zurück in der Hoffnung, in den weit verstreuten Nadeln ein Muster zu erkennen.
Es gab zehnmal so viele weiße Nadeln wie rote, aber D'Agosta war klar, daß viele der von ihnen derart symbolisierten Fälle einer genaueren Überprüfung nicht standhalten würden. Jeden Tag verschwanden in New York Menschen aus den verschiedensten Gründen, die nicht unbedingt mit einem Verbrechen zu tun haben mußten, aber immerhin waren im letzten halben Jahr dreimal so viele Vermißtenanzeigen eingegangen wie sonst üblich. Obwohl die meisten Menschen in der Nahe des Central Parks verschwunden waren, konnte D'Agosta auch bei längerem Betrachten der Nadeln kein Muster entdecken.
Dennoch sagte ihm sein Verstand, daß es einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Fallen geben mußte.
»Na, Lieutenant, träumen Sie?« hörte D'Agosta eine ihm mittlerweile vertraute tiefe Stimme. Er fuhr zusammen und drehte sich um. Es war Sergeant Hayward, die ihm, ebenso wie Waxie, für den Fall zugeteilt war.
»Schon mal was von Anklopfen gehört?. fauchte D'Agosta.
»Habe ich. Aber ich dachte, Sie wollten dieses Zeug hier so schnell wie möglich auf dem Schreibtisch haben«, sagte Hayward und hielt ihm den dicken Stapel Computerausdrucke unter die Nase. D'Agosta nahm die Papiere und blätterte sie durch. Es waren die Berichte über weitere Morde an Obdachlosen, die zum Großteil in Waxies Revier um den Central Park und die West Side passiert waren. Natürlich war keines der Verbrechen ordentlich untersucht worden.
»Gott im Himmel«, murmelte er und schüttelte den Kopf.
»Am besten, wir markieren sie gleich mal auf unserer Karte.«
D'Agosta setzte sich vor die Computerausdrucke und las Hayward die Fundorte der Leichen vor, die diese dann mit einer roten Nadel auf dem Stadtplan vermerkte. Als er fertig war, hielt er inne und sah Hayward an.
Obwohl er es ihr gegenüber nie zugegeben hätte, war er insgeheim froh, daß sie ihm jetzt zur Seite stand. Ihr unerschütterliches Selbstvertrauen kam ihm vor wie ein sicherer Hafen inmitten eines tobenden Sturms, und wenn er ehrlich war, mußte er außerdem zugeben, daß sie auch ein hübscher Anblick war.
Auf einmal drangen vom Gang her das Geräusch laufender Menschen und laute Stimmen heran. Irgend etwas fiel mit lautem Krach zu Boden. D'Agosta runzelte die Stirn und nickte Hayward zu, damit sie der Ursache des Lärms auf den Grund ging. Kaum war sie draußen, da hörte D'Agosta schon noch lauteres Geschrei, aus dem er deutlich eine hohe, hysterisch kreischende Stimme seinen Namen rufen hörte.
Neugierig geworden, streckte er den Kopf aus der Tür und erblickte einen unglaublich schmutzigen, abgerissenen Mann, den zwei Polizisten nur mit Mühe unter Kontrolle halten konnten. Hayward stand daneben, ihren kleinen drahtigen Körper gespannt, als warte sie nur auf eine Gelegenheit zum Eingreifen. D'Agosta betrachtete den seltsamen Besucher genauer:
Der magere Mann hatte eine blasse gelbliche Haut und vor Schmutz starrende, zerzauste Haare. In der rechten Hand trug er einen schwarzen Plastiksack, der vermutlich seine ganze Habe enthielt.
»Ich will sofort den Lieutenant sprechen«, schrie der Mann mit seiner dünnen durchdringenden Stimme. »Ich habe wichtige Informationen für ihn! Ich verlange ...«
»Jetzt hör mal gut zu, Kumpel«, meinte einer der Polizisten, der den Mann mit angewidertem Gesicht an einem seiner speckigen Ärmel festhielt, »wenn du irgendwas zu sagen hast, dann sagst du es mir, verstanden?
Der Lieutenant hat zu tun.«
»Da ist er ja«, quiekte der Mann und deutete mit einem zitternden Finger auf D'Agosta. »Nehmt sofort eure Pfoten weg, oder ich beschwere mich über euch. Ich rufe meinen Anwalt an!«
D'Agosta ging zurück in sein Büro, schloß die Tür und widmete sich wieder dem Stadtplan. Der Streit draußen tobte weiter, wobei das schrille Geschrei des Penners immer nervtötender wurde. Selbst Hayward, deren Stimme zunehmend ärgerlicher klang, schien sich nicht gegen ihn durchsetzen zu können.
Dieser Mann ließ sich offenbar nicht abschütteln.
Auf einmal flog die Tür auf, und der Stadtstreicher taumelte, dicht auf gefolgt von einer wütenden Hayward, herein. Er rannte in eine Ecke des Büros und hielt sich seinen Müllsack wie einen Schutzschild vor den Körper.
»Sie müssen mich anhören, Lieutenant«, winselte der Mann.
»Der Kerl ist glitschig wie ein Fisch«, keuchte Hayward und wischte sich die Hände an ihren schlanken Hüften ab. »Und zwar im wörtlichen Sinn.«
»Bleiben Sie mir bloß vom Leib«, schrie der Obdachlose sie an.
»Ist schon in Ordnung, Sergeant«, sagte D'Agosta mit einem müden Seufzer und wandte sich dem Mann zu.
»Okay, ich gebe Ihnen fünf Minuten. Aber das da bleibt draußen.« Er deutete auf den Müllsack, der einen kaum zu ertragenden Geruch verströmte.
»Die werden ihn mir klauen«, krächzte der Mann.
»Sie sind hier auf einem Polizeirevier!« schnauzte ihn D'Agosta an. »Niemand wird Ihnen hier Ihren Mist stehlen.«
»Das ist kein Mist«, jaulte der Mann, übergab den Sack dann aber doch Sergeant Hayward, die ihn mit spitzen Fingern anfaßte und nach draußen beförderte. Dann kam sie wieder herein und schloß rasch die Tür vor dem Gestank.
Kaum war die Tür zu, da veränderte sich das Benehmen des Obdachlosen dramatisch: Selbstbewußt ging er geradewegs auf einen der Besucherstühle zu, setzte sich und schlug die Beine übereinander, als wäre er in D'Agostas Büro zu Hause. Der Geruch, den er dabei verbreitete, erinnerte D'Agosta an den Gestank in dem alten Eisenbahnrummel.
»Ich hoffe, Sie sitzen bequem«, sagte der Lieutenant zu dem Mann. »Sie haben noch knappe vier Minuten.«
»So bequem, wie es einem Mann in meiner Situation nur sein kann, Vincent«, sagte der Stadts treicher mit einer völlig veränderten Stimme.
D'Agosta ließ erstaunt die Zigarre sinken.
»Sie rauchen also immer noch«, meinte der Mann mit einem bedauerlichen Unterton. »Aber zumindest scheint Ihr Geschmack in der Zwischenzeit einen gewissen Aufschwung genommen zu haben. Diese Dunhill ist schon eine gewaltige Verbesserung gegenüber dem Kraut, mit dem Sie sich früher vergiftet haben.«
D'Agosta war sprachlos. Er kannte die Stimme mit ihrem melodiösen Südstaatenakzent, aber er konnte sie beim besten Willen nicht mit dem stinke nden, verdreckten Penner in Verbindung bringen, der sich vor ihm in seinem Besuchersessel räkelte. »Sind Sie's, Pendergast«, fragte er plötzlich atemlos.
Der Obdachlose nickte.
»Was, zum Teufel ...«
»Ich muß Sie um Verzeihung bitten wegen meines effektvollen Eindringens«, sagte Pendergast, »aber ich wollte testen, wie überzeugend meine Verkleidung ist.«
»Ach ja«, nickte D'Agosta.
Hayward trat einen Schritt vor und sah D'Agosta an. Zum erstenmal, seit er sie kannte, schien sie etwas nicht auf Anhieb zu verstehen. »Lieutenant?« fragte sie.
D'Agosta atmete tief durch. »Sergeant Hayward, das ist Special Agent Pendergast vom FBI«, erklärte er und deutete auf die heruntergekommene Gestalt, die jetzt die Hände vor der Brust gefaltet hatte und die junge Frau mit Unschuldsmiene angrinste.
Hayward ließ ihren Blick zwischen ihm und D'Agosta hin und her schweifen. »Unfug«, knurrte sie schließlich.
Pendergast ließ ein amüsiertes Lachen hören. »Sehr erfreut, Sergeant«, sagte er und stützte den Kopf auf die Fingerspitzen.
»Ich würde Ihnen ja gerne die Hand geben, aber ...«
»Lassen Sie nur«, entgegnete Hayward, deren Skepsis noch immer nicht ganz verflogen schien.
Auf einmal trat D'Agosta auf den Besucher zu und schloß dessen schlanke, vor Schmutz starrende Hände in die seinen.
»Du meine Güte, Pendergast, es ist schön, Sie wiederzusehen. Ich habe mich schon gefragt, was wohl aus Ihnen geworden ist. Ich habe zwar gehört, daß man Ihnen den Posten des Direktors in Ihrem New Yorker Büro verweigert hat, aber ich habe Sie nicht mehr gesehen seit ...«
»Seit den Museumsmorden, ich weiß«, unterbrach ihn Pendergast »Sieht so aus, als wären Sie jetzt wieder mal in den Schlagzeilen.«
D'Agosta setz te sich und nickte Pendergast düster zu.
Der FBI-Agent sah auf den Stadtplan. »Da haben Sie ja einen ziemlichen Packen Probleme an der Hand, Vincent Eine Reihe von brutalen Morden über und unter der Erde, Angst, die unter den Reichen der Stadt grassiert und jetzt auch noch diese Gerüchte über einen neuen Mbwun.«
»Wie recht Sie doch haben, Pendergast.
»Bei so einer Geschichte kann ich Sie unmöglich alleine lassen, Vincent, und deshalb bin ich hier, um Ihnen meine Hilfe anzubieten.«
D'Agostas Miene hellte sich auf, nahm dann aber einen vorsichtigen Ausdruck an. »Ist das offiziell?« fragte er.
»Sagen wir mal halboffiziell«, antwortete Pendergast mit einem Lächeln. »Mehr konnte ich leider nicht herausschlagen. Zur Zeit kann ich mir meine Aufgaben mehr oder weniger selbst aussuchen. Nachdem ich mich jetzt ein Jahr lang technischen Projekten gewidmet habe, über die wir uns vielleicht ein andermal unterhalten können, habe ich mir die Erlaubnis geholt, die New Yorker Polizei in diesem Fall zu unterstützen. Natürlich muß ich mich so lange zurückhalten, bis es ein Verbrechen gibt, das in den Zuständigkeitsbereich des FBI fällt – und handfeste Beweise für ein solches haben wir ja bisher noch nicht.« Pendergast holte kurz Atem. »Mein Problem, Vincent, ist aber nun mal, daß ich einfach nicht die Finger von einem interessanten Fall wie diesem lassen kann. Eine schlimme Angewohnheit, ich weiß, aber eine, gegen die ich leider machtlos bin.«
D'Agosta sah ihn neugierig an. »Und warum habe ich dann nicht schon viel früher wieder etwas von Ihnen gehört? New York ist voll von interessanten Fällen.«
Pendergast legte den Kopf schief und sah D'Agosta undurchdringlich an. »Nicht für mich«, entgegnete er.
D'Agosta wandte sich an Hayward. »Daß Spezial Agent Pendergast hier auftaucht, ist das erste erfreuliche Ereignis, seit ich diesen verdammten Fall übernommen habe«, erklärte er.
»Vincent, Sie schmeicheln mir«, wehrte Pendergast ab und sah von D'Agosta zu Sergeant Hayward und wieder zurück, wobei seine flinken blauen Augen einen starken Kontrast zu seinem verdreckten Gesicht bildeten. »Aber wir wollen jetzt an die Arbeit gehen. Da meine Verkleidung Sie beide überzeugt hat, glaube ich, daß ich sie demnächst auch bei den Obdachlosen im Untergrund testen kann. Aber zuerst müssen Sie mich noch auf den neuesten Stand der Ermittlungen bringen.«
»Dann sind Sie also auch der Meinung, daß zwischen dem Fall Wisher und den Morden an den Obdachlosen ein Zusammenhang besteht?« fragte Hayward, deren Stimme immer noch ein wenig mißtrauisch klang.
»Und ob ich das bin, Sergeant ... Hayward, so war doch Ihr Name?« erwiderte Pendergast. Dann setzte er sich gerade hin und fragte: »Doch nicht Zaum Hayward, oder?«
»Ja, aber wieso fragen Sie?« Hayward hörte sich so an, als wäre sie noch mehr auf der Hut vor Pendergast als vorhin.
Der FBI-Agent entspannte sich wieder. »Wunderbar«, sagte er.
»Bitte, lassen Sie mich Ihnen zu Ihrem Artikel im Journal für abnormale Soziologie gratulieren. Ich habe noch nie eine so fundierte Abhandlung über die soziale Hierarchie im Untergrund lebender Obdachloser gelesen.«
Zum erstenmal, seit D'Agosta sie kannte, wirkte Hayward richtiggehend betreten. Sie wurde rot im Gesicht und sah zur Seite.
Offenbar war sie es nicht gewohnt, daß man ihr solche Komplimente macht.
»Stimmt das, Sergeant Hayward?« fragte D'Agosta.
»Ja, ich mache an der New Yorker Uni gerade meinen Magister«, erklärte sie, ohne D'Agosta oder Pendergast anzusehen.
Dann aber hob sie den Kopf und fixierte D'Agosta mit einem herausfordernden Blick. »Meine Diplomarbeit hat das Thema ›Gewalt im Untergrund‹«
»Ich habe gichts dagegen«, bete uerte D'Agosta, der sich über ihre abwehrende Haltung wunderte und sich gleichzeitig darüber ärgerte, daß Hayward ihm nichts von ihrem Studium erzählt hatte. Hielt sie ihn für zu blöd, um das zu verstehen?
»Aber warum publizieren Sie Ihre Arbeit denn in so einer obskuren Zeitschrift?« fragte Pendergast. »So etwas wäre doch viel eher etwas für das Law Enforcement Bulletin.«
Hayward lachte leise auf, fing sich dann aber wieder. Jetzt machen Sie wohl Witze, oder?« fragte sie.
D'Agosta verstand, was Hayward meinte. Es war für sie ohnehin schon schwer genug, sich als kleine, schlanke und zudem hübsche Frau unter diesen Kleiderschrank-Typen der ehemaligen Bahnpolizisten zu behaupten.
Da brauchten ihre Kollegen nicht auch noch aus dem Polizeiblatt zu erfahren, daß sie eine akademische Arbeit über die Leute schrieb, die sie tagtäglich aus dem Untergrund verleiben mußte. Er schüttelte den Kopf, als er sich vorstellte, welchen Hänseleien sie sich damit aussetzen würde.
»Ach so, verstehe«, sagte Pendergast und nickte. Ihm waren offenbar dieselben Gedanken durch den Kopf gegangen wie D'Agosta. »Trotzdem ist es mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Sergeant. Aber jetzt lassen Sie uns über unseren Fall sprechen. Ich möchte gerne die Polizeiberichte von allen Tatorten sehen. Je mehr wir über den Verbrecher wissen, desto schneller können wir ihn fassen. Oder sie, falls es mehrere Täter sind.
Die Opfer wurden nicht sexuell mißbraucht, habe ich recht?«
»Korrekt.«
»Trotzdem könnte es sich bei dem Täter um eine Art Fetischisten handeln, der Köpfe sammelt wie andere Leute Souvenirs. Ich finde, wir sollten die Akten sämtlicher Serienmörder durchgehen, ob wir eine Übereinstimmung im Modus operandi finden. Vielleicht wäre es ja auch sinnvoll, den Computer nach möglichen Verknüpfungen zwischen den Daten aller Opfer suchen zu lassen. Außerdem sollten wir uns sämtliche vermißt gemeldeten Personen in ganz New York ansehen. Gegebenenfalls finden wir ja etwas, das einige von ihnen miteinander verbindet – und wenn es nur eine noch so unbedeutende Kleinigkeit ist.«
»Ich werde mich darum kümmern«, versprach Hayward.
»Sehr gut.« Pendergast stand auf und trat an den Schreibtisch.
»Dürfte ich jetzt vielleicht einen Blick in die Akten werfen, Vincent?«
»Bleiben Sie bitte sitzen«, sagte D'Agosta rasch und rümpfte die Nase. »Ihre Verkleidung ist nämlich in mancher Hinsicht ein bißchen zu überzeugend, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Verstehe«, Pendergast grinste unbekümmert. »Das soll sie ja auch sein. Sergeant Hayward, wären Sie bitte so nett, mir die Akten herüberzureichen?«