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Obwohl Chief Horlocker nun schon über ein Jahr lang den Posten des Polizeichefs von New York City innehatte, war Lieutenant D'Agosta noch nie in dessen Büro gewesen. Jetzt kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Raum mit seinen schweren Möbeln im Mahagonistil und seiner gedämpften Beleuchtung erinnerte ihn an ein Steakhaus in der Vorstadt, das verzweifelt versucht, ein besseres Publikum anzuziehen. Dicke schwere Vorhänge und billige, mediterran wirkende Lampen aus Schmiedeeisen und gelbem Riffelglas verstärkten diese Illusion so sehr, daß sich D'Agosta um ein Haar nach einem Kellner umgesehen hätte.
Chief Redmond Horlocker saß hinter einem Schreibtisch, auf dem nicht ein einziges Blatt Papier lag. Captain Waxie hatte es sich in einem Sessel daneben bequem gemacht und erzählte von seinen Abenteuern im Untergrund. Ohne eine Miene zu verziehen, hörte Horlocker sich gerade an, wie Waxie eine Horde wütender Obdachloser in Schach hielt, um D'Agostas und Sergeant Haywards Fluchtweg zu decken.
D'Agosta warf Waxie, der bei seiner Schilderung immer mehr in Fahrt kam, mißbilligende Blicke zu. Eine Weile überlegte er sich sogar, ob er nicht selbst das Wort ergreifen und die Sache klarstellen sollte, aber seine lange Erfahrung im Polizeidienst riet ihm, es lieber seinzulassen. Waxie war zwar ein Captain, der ein ganzes Revier unter sich hatte, aber er bekam trotzdem nicht oft die Gelegenheit, den Polizeipräsidenten höchstpersönlich mit seinen Heldentaten zu beeindrucken. Vielleicht erreichte er mit seiner Aufschneiderei ja, daß mehr Leute für die Aufklärung des Falles abgestellt wurden. Außerdem sagte D'Agosta eine innere Stimme, daß das ein Fall war, bei dem man nur allzu leicht unter die Räder kommen konnte. Obwohl die Angelegenheit eigentlich in seinen, D'Agostas, Zuständigkeitsbereich fiel, schadete es nichts, wenn Waxie sich ins Rampenlicht rückte. Wer sich am Anfang am meisten exponierte, der bekam am Schluß auch das meiste Fett ab.
Als Waxie mit seiner Geschichte fertig war, ließ Horlocker ein paar bedeutungsschwangere Sekunden verstreichen, bevor er sich laut und vernehmlich räusperte. »Und was halten Sie von der Sache, Lieutenant?« wandte er sich an D'Agosta.
»Nun, Sir, es ist noch zu früh, um sagen zu können, ob eine Verbindung zwischen den einzelnen Morden besteht oder nicht«, antwortete D'Agosta und setzte sich auf. »Trotzdem ist die Geschichte es wert, daß man ihr nachgeht, weshalb ich auch dringend ein paar zusätzliche Männer brauche, die ...«
Das auf alt gemachte Telefon klingelte, und Horlocker hob ab.
Nachdem er einen Augenblick zugehört hatte, sagte er: »Das kann warten«, legte auf und wandte sich wieder D'Agosta zu.
»Lesen Sie eigentlich die Post, Lieutenant?« fragte er.
»Ab und zu«, erwiderte D'Agosta, der schon wußte, worauf der Polizeichef hinauswollte.
»Und kennen Sie diesen Smithback, der diesen ganzen Mist schreibt?«
»Ja, Sir.«
»Ist er ein Freund von Ihnen?«
»Nicht direkt, Sir« sagte D'Agosta nach einer kurzen Pause.
»Nicht direkt«, wiederholte der Polizeipräsident. »In seinem Buch über die Museumsmorde stellt Mr. Smithback es aber so dar, als wären Sie richtiggehende Busenfreunde. Wenn man ihm Glauben schenkt, dann haben Sie beide gemeinsam die Welt gerettet und nicht bloß ein kleines Problem im Museum für Naturgeschichte beseitigt.«
D'Agosta sagte nichts. Die Rolle, die er damals bei der katastrophalen Eröffnung der Aberglauben-Ausstellung gespielt hatte, war stadtbekannt, aber niemand in der neuen Administration schien ihm dafür besonders dankbar zu sein.
»Nun, Ihr nicht direkter Freund Smithback hat uns mit seiner Belohnung ein ziemlich übles Süppchen eingebrockt. Beschweren Sie sich bei ihm, wenn ich Ihnen keine zusätzlichen Leute zur Verfügung stellen kann. Ich brauche im Augenblick alle verfügbaren Kräfte, um den Hinweisen von irgendwelchen Irren nachzugehen.«
Der Polizeipräsident rutschte verärgert auf seinem ledernen Chefsessel herum. »Aber zurück zu den Morden an den Obdachlosen. Sie sind also der Meinung, daß sie alle die Handschrift ein und desselben Täters aufweisen?«
D'Agosta nickte.
»Okay. Nun sind wir natürlich alles andere als begeistert, wenn in unserer Stadt Obdachlose ermordet werden. Das ist zweifelsohne ein Problem und wirft kein gutes Licht auf New York. Aber wenn jemand aus der besseren Gesellschaft umgebracht wird, dann haben wir ein wirkliches Problem. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
»Voll und ganz«, erwiderte Waxie.
D'Agosta schwieg.
»Es ist doch so, meine Herren: Natürlich berühren uns die Morde an den Obdachlosen, und wir wollen auch versuchen, sie aufzuklären. Aber mal ehrlich, D'Agosta, Obdachlose sterben nun mal jeden Tag, und, unter uns gesagt: es kräht kein Hahn nach ihnen. Hingegen ist wegen der enthaupteten Pamela Wisher die ganze Stadt in hellem Aufruhr. Der Bürgermeister verlangt von uns, daß wir diesen Fall lösen, und zwar schnell!«
Horlocker beugte sich vor, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt. Sein Gesicht nahm auf einmal einen gönnerhaften Ausdruck an. »Passen Sie auf, D'Agosta, ich weiß genau, daß Sie in diesem Fall etwas Hilfe gebrauchen können. Und deshalb werde ich Ihnen Captain Waxie zur Unterstützung zuteilen. Jemand anders wird ihn derweil auf dem vierundzwanzigsten Revier vertreten.«
»Jawohl, Sir«, stimmte Waxie zu.
D'Agosta hatte das Gefühl, als würde die Welt einstürzen. Eine lebende Katastrophe wie dieser Waxie war nicht gerade das, was er sich unter Verstärkung vorgestellt hatte. Anstatt zusätzliche Männer zur Verfügung zu haben, würde er nun darauf achten müssen, daß dieser unfähige Captain keinen Schaden anrichtete. Am besten teilte er ihn für irgendeine unbedeutende Aufgabe ein, wo er ihm möglichst wenig in die Quere kam.
Darüber hinaus warf der Vorschlag des Polizeipräsidenten noch ein ganz anderes Problem auf: Waxie war Captain und mußte nun von einem Lieutenant Befehle annehmen. Ob das wohl gutging?
»Lieutenant D'Agosta!« sagte Horlocker scharf.
D'Agosta blickte auf. »Was ist?«
»Ich habe Sie soeben gefragt, wie die Untersuchungen im Museum vorankommen.«
»Die Tests am Skelett von Pamela Wisher sind abgeschlossen, und ihre Leiche wurde der Familie übergeben«, antwortete D'Agosta.
»Und was ist mit dem anderen Skelett?«
»Das konnte noch immer nicht identifiziert werden.«
»Gibt es schon Erkenntnisse über die Bißspuren?«
»Dr. Frock und Dr. Brambell sind sich nicht einig, von wem oder was sie stammen.«
Chief Horlocker schüttelte den Kopf. »Großer Gott, D'Agosta, Sie haben mir doch gesagt, daß diese Leute wissen, was sie tun. Langsam frage ich mich, ob es wirklich so gut war, Ihren Rat zu befolgen und die Skelette ins Museum bringen zu lassen.«
»Was soll daran falsch sein? Immerhin arbeitet der oberste Gerichtsmediziner von New York zusammen mit hochkarätigen Wissenschaftlern des Museums an diesem Fall. Ich kenne diese Leute persönlich und weiß, daß es keine besseren ...«
Horlocker unterbrach ihn mit einem lauten Seufzer und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Es ist mir egal, wie gut oder schlecht diese Leute sind. Ich will Ergebnisse, sonst nichts. Jetzt, wo ich Ihnen Captain Waxie zugeteilt habe, erwarte ich, daß Sie schneller vorankommen als bisher. Bis morgen abend möchte ich Resultate sehen, haben Sie mich verstanden, D'Agosta?«
D'Agosta nickte. »Jawohl, Sir.«
»Gut, dann machen Sie sich an die Arbeit. Sie können beide gehen.«