15

Margo joggte gerade um die Ecke der 65th Street, als sie zu ihrem Erstaunen vor dem Eingang zu ihrem Wohnhaus eine vertraute hagere Gestalt entdeckte. Sie blieb stehen, schaltete ihren Walkman ab, auf dem sie gerade einen Nachrichtensender gehört hatte, und steckte die Ohrhörer in die Tasche.

»Was machen Sie denn hier?« fragte sie.

Smithback trat einen Schritt zurück, gespielte Enttäuschung auf dem Gesicht. »Undank ist der Welt Lohn«, meinte er.

»Nach allem, was wir beide miteinander durchgestanden haben – nach all diesen gemeinsamen Erlebnissen –, bin ich Ihnen nur ein ›Was machen Sie denn hier?‹ wert?«

»Genau diese gemeinsamen Erlebnisse versuche ich zu vergessen«, sagte Margo, während sie sich nach vorne beugte, um ihre Waden zu massieren. »Außerdem haben Sie die letzten paar Male, als wir uns über den Weg gelaufen sind, von nichts anderem gesprochen als von Ihrer Karriere.«

»Eins zu null für Sie«, gab Smithback mit einem Schulterzucken zu. »Dann sagen wir eben, daß ich hier bin, um mich bei Ihnen zu entschuldigen, meine Lotosblüte. Darf ich Sie vielleicht auf einen Drink einladen?«

Smithback betrachtete Margo mit anerkennenden Blicken. »Du meine Güte, Sie sehen aber durchtrainiert aus.

Wollen Sie Miss Universum werden, oder was?«

Margo richtete sich wieder auf. »Danke für die Einladung, aber ich habe leider schrecklich viel zu ran.« Als sie an Smithback vorbei ins Haus schlüpfen wollte, packte er sie am Arm und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich habe an das Cafe des Artistes gedacht.«

Margo blieb stehen und seufzte schicksalsergeben. »Na schön«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln und befreite ihren Arm aus Smithbacks Griff. »Ich bin zwar nicht billig, aber käuflich bin ich schon. Geben Sie mir zehn Minuten, damit ich mich duschen und umziehen kann.«

Eine halbe Stunde später betraten die beiden durch die Lobby des Hotel des Artistes das renommierte Cafe.

Auf dem Weg in die gemütliche alte Bar nickte Smithback dem Hotelmanager zu wie einem alten Freund.

»Sieht gut aus«, meinte Margo und deutete auf das Tablett mit Quiche, mit dem eine Bedienung von Tisch zu Tisch ging.

»He, ich habe gesagt, daß ich Sie auf einen Drink einlade, nicht auf ein achtgängiges Dinner« protestierte Smithback und steuerte zielsicher auf einen Tisch unter einem Gemälde zu, das in einem Garten herumtanzende nackte Frauengestalten zeigte.

»Ich glaube, die Rothaarige ist verliebt in mich«, sagte er und deutete augenzwinkernd über seine Schulter.

Ein alter Kellner mit einem Dauerlächeln auf dem faltigen Gesicht kam an den Tisch, um ihre Bestellung aufzunehmen.

»Ich liebe diese Bar«, sagte Smithback, als der schwarzweiß gekleidete Ober wieder von dannen geschlurft war. »Die Bedienung hier ist so freundlich. Ich hasse diese blasierten Kellner, die einen wie ein Stück Dreck behandeln.«

Margo blickte ihn fragend an.

»Okay. Genug der Vorrede. Beginnen wir mit der Fragestunde. Haben Sie seit unserem letzten Treffen auch brav alle meine Artikel gelesen?«

»Wo denken Sie hin? Das hält doch kein Mensch aus«, frotzelte Margo. »Aber die Artikel über Pamela Wisher habe ich mir alle angetan. Der zweite war sogar halbwegs lesbar. Es hat mir gefallen, daß sie die Frau endlich mal als einen echten Menschen dargestellt haben, nicht nur als ein ums Leben gekommenes Gesellschaftshäschen. Dieser menschliche Touch ist wohl Ihre neueste Masche, habe ich recht?«

»Gut erkannt«, sagte Smithback. Der Kellner brachte ihnen ihre Drinks und eine Schale mit Haselnüssen. »Ich komme gerade von einer Demonstration, die Mrs. Wisher organisiert hat«, ergänzte Smithback. »Sie ist eine bemerkenswerte Frau.«

Margo nickte. »Ich habe ihre Rede beim Joggen in den Nachrichten gehört. War ziemlich starker Tobak. Ich frage mich, ob sie wohl weiß, was sie damit ins Rollen bringt.«

»Am Schluß wurde es richtig unheimlich, als die oberen Zehntausend auf einmal die Macht der Straße entdeckten.«

Obwohl Margo lachte, blieb sie auf der Hut. Bei Smithback mußte man vorsichtig sein. Sie traute es ihm ohne weiteres zu, daß er das ganze Gespräch auf Tonband mitschnitt.

»Ist schon merkwürdig«, fuhr Smithback fort.

»Was ist merkwürdig?«

Er zuckte mit den Achseln. »Wie wenig es braucht – ein bißchen Alkohol, das Gefühl, Teil einer Menge zu sein –, um unter der Oberschichttünche den häßlichen Gewaltmenschen hervorzuholen.«

»Wenn Sie auch nur ein bißchen Ahnung von Anthropologie hätten«, sagte Margo, »dann würden Sie sich nicht darüber wundern. Im Radio haben sie übrigens gesagt, daß die Demonstranten nicht nur Mitglieder der Oberschicht waren.« Sie nahm einen weiteren Schluck von ihrem Drink und lehnte sich zurück. »Aber Sie haben mich doch bestimmt nicht eingeladen, um mit mir zu plaudern, Bill. Soviel Geld geben Sie nur dann aus, wenn Sie etwas von mir wollen.«

Smithback stellte sein Glas auf den Tisch, wobei er ehrlich verletzt wirkte. »Margo! So kenne ich Sie ja gar nicht! Da sehen wir uns wochenlang nicht, und wenn wir endlich zusammenkommen, erzählen Sie solchen Unsinn. Und schauen Sie sich bloß mal an: muskelbepackt wie eine Gazelle. Wo ist nur die untrainierte Margo mit den krummen Schultern geblieben, die Margo, die ich gekannt und geliebt habe? Margo, Margo, was ist nur mit Ihnen los?«

Margo wollte schon antworten, aber dann hielt sie inne. Was würde Smithback erst sagen, wenn er wußte, daß sie jetzt immer eine Pistole in ihrer Umhängetasche dabei hatte? Ja, was ist wirklich mit mir los? fragte sie sich. Aber sie wußte die Antwort nur zu genau. Es stimmte, sie hatte Smithback in letzter Zeit nur selten gesehen, und Greg Kawakita oder FBI-Agent Pendergast hatte sie seit den schrecklichen Vorfallen im Museum überhaupt nicht mehr getroffen und Dr. Frock und Lieutenant D'Agosta erst wieder bei der Untersuchung des Wisher-Mordes. Die Erinnerungen, die sie alle miteinander teilten, waren für Margo einfach noch zu frisch und zu schmerzlich. Die Alpträume, unter denen Margo litt, waren schon schlimm genug; da brauchte sie nicht auch noch jemanden, der sie durch seine Gegenwart an die grauenvollen Ereignisse erinnerte.

Noch während Margo darüber nachdachte, verwandelte sich Smithbacks geschmerzter Gesichtsausdruck in ein breites Grinsen. »Ach, was soll's«, sagte er. »Es macht keinen Sinn, mich groß zu verstellen. Dafür kennen Sie mich viel zu gut. Ich gebe es also zu: Ich will tatsächlich was von Ihnen. Ich weiß nämlich, warum Sie in letzter Zeit bis spät in die Nacht im Museum arbeiten.«

Margo zuckte zusammen. Wie hatte er das bloß herausgekriegt?

Aber dann fing sie sich wieder. Smithback war schließlich für seine Fangfragen berühmt Sie beschloß, sich von ihm nicht aufs Glatteis führen zu lassen. »Ach ja?« fragte sie. »Dann sagen Sie mir doch mal, was ich dort tue und wie Sie darauf kommen.«

Smithback hob die Schultern und breitete die Hände aus. »Ich habe eben so meine Quellen, das sollten Sie eigentlich am besten wissen. Ich habe meine alten Beziehungen zum Museum spielen lassen und herausgefunden, daß die Leiche von Pamela Wisher und das noch nicht identifizierte Skelett am vergangenen Donnerstag dorthin gebracht wurden. Sie und Frock helfen Dr. Brambell bei der Autopsie.«

Margo sagte nichts.

»Keine Angst, Margo, das werde ich nicht in der Zeitung schreiben.«

»Ich glaube, ich muß jetzt gehen.«

»Warten Sie«, bat Smithback und legte seine Hand auf die ihre.

»Ich will nur noch eines wissen: Hat man Sie wegen der Bißspuren an den Knochen hinzugezogen?«

Margos Kopf fuhr hemm. »Woher wissen Sie das?« fragte sie scharf.

Als Smithback triumphierend grinste, war Margo klar, daß sie ihm auf den Leim gegangen war. Er hatte doch nur im trüben gefischt, und jetzt hatte ihre Reaktion seinen Verdacht bestätigt.

»Sie sind ein echter Bastard, wissen Sie das?« fragte sie, während sie sich wieder in ihren Stuhl zurücksinken ließ.

Der Journalist zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht nur geraten«, erklärte er. »Ich wußte zum Beispiel, daß die Leichen ins Museum gebracht wurden. Und wenn Sie mein Interview mit Mephisto, dem Führer der Maulwurfmenschen gelesen hätten, dann wüßten Sie, daß er mir von Kannibalen im Untergrund erzählt hat«

Margo schüttelte den Kopf. »Sie dürfen das nicht drucken, Bill.«

»Warum nicht? Niemand wird erfahren, daß es von Ihnen kam.«

»Darüber mache ich mir auch keine Sorgen«, fauchte Margo.

»Vergessen Sie doch für einen Augenblick Ihre blöden Schlagzeilen, und stellen Sie sich vor, was für einen Effekt eine solche Geschichte auf die Stimmung in der Stadt hätte! Was meinen Sie wohl, daß Ihre neue Freundin Mrs. Wisher tun wird, wenn sie erfährt, daß ihre Tochter nicht nur ermordet und enthauptet, sondern teilweise auch noch aufgefressen wurde?«

Ein geschmerzter Ausdruck huschte über Smithbacks Gesicht.

»Das ist mir schon klar, Margo. Aber trotzdem handelt es sich hier um eine wichtige Nachricht.«

»Warten Sie wenigstens einen Tag.«

»Warum?«

Margo zögerte.

»Dafür müssen Sie mir schon einen Grund nennen, meine Lotosblüte«, drängte Smithback.

»Okay.« Margo seufzte. »Möglicherweise stammen die Bißmarken von Hunden. Die Leichen lagen offenbar lange in irgendwelchen Tunnels, bevor der Regen sie hinausgespült hat Da kann es gut sein, daß sich streunende Hunde über sie hermachen.«

Smithbacks Miene verfinsterte sich. »Wollen Sie damit etwa sagen, daß es keine Kannibalen waren?«

Margo schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muß, Bill. Morgen schließen wir unsere Tests ab, dann müßten wir eigentlich wissen, woher die Bißspuren stammen. Ich verspreche Ihnen, daß Sie diese Information exklusiv bekommen, wenn Sie jetzt stillhalten. Morgen nachmittag haben wir eine Sitzung, und danach werde ich mit Frock und D'Agosta darüber sprechen.«

»Aber was macht denn ein Tag Aufschub für einen großen Unterschied?«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt: Wenn Sie mit der Geschichte jetzt an die Öffentlichkeit gehen, dann lösen Sie eine unkontrollierbare Panik aus. Sie haben mir doch selbst vorhin von der Demonstration erzählt Was, meinen Sie, werden wohl diese Leute tun, wenn sie glauben, daß hier in der Stadt ein kannibalistischer Serienmörder herumläuft oder gar ein neuer Mbwun?« Margo spielte damit auf das Monstrum an, das vor achtzehn Monaten im Naturgeschichtlichen Museum für Angst und Schrecken gesorgt und das FBI-Agent Pendergast vor ihren Augen ins jenseits befördert hatte. Als Smithback keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Und wenn wir am nächsten Tag verkünden, daß es sich doch nur um Hundebisse gehandelt hat, dann stehen Sie wie ein Idiot da. Die Polizei ist ohnehin noch sauer auf Sie wegen dieser Belohnungsgeschichte, und wenn Sie jetzt auch noch ohne guten Grund ganz New York in Angst und Schrecken versetzen, wird man Sie teeren und federn und aus der Stadt jagen, Smithback lehnte sich zurück. »Hm«, brummte er.

»Warten Sie noch einen Tag, Bill«, bat Margo. »Die Geschichte ist noch nicht reif für die Presse.«

Smithback dachte schweigend nach. »Einverstanden«,sagte er schließlich widerstrebend. »Mein Instinkt sagt mir zwar, daß ich verrückt bin, wenn ich mich darauf einlasse, aber gut, ich gebe Ihnen noch einen Tag. Doch dann will ich die Geschichte exklusiv für mich alleine, haben Sie mich verstanden? Kein anderer Journalist darf davon erfahren.«

»Keine Sorge«, erwiderte Margo und lächelte ihn an.

Eine Weile saßen sie da und sagten nichts. Dann ergriff Margo mit einem Seufzer das Wort. »Sie haben mich vorhin gefragt, was mit mir los ist, Bill. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich schätze, daß diese Morde schmerzliche Erinnerungen in mir aufwühlen.«

»Sie meinen wohl die Erinnerungen an Mbwun und die Aberglauben-Ausstellung«, sagte Smithback, während er die letz ten paar Haselnüsse aus der Schale nahm. »Das war wirklich schlimm.«

»Sie haben sie vielleicht schneller vergessen als ich«, meinte Margo. »Aber ich leide noch heute darunter. Als ich an der Columbia University war, ging es besser, aber seit ich wieder im Museum arbeite, sind die Alpträume zurückgekehrt. Und jetzt mit diesen Morden ...« Sie brachte den Satz nicht zu Ende.

»Bill«, sagte sie dann plötzlich, »wissen Sie eigentlich, was aus Gregory Kawakita geworden ist«

»Aus Greg?« fragte Smithback, der gerade die leere Schale umdrehte, als könnten sich darunter noch mehr Nüsse verbergen. »Keine Ahnung. Seit er beim Museum gekündigt hat, habe ich nichts mehr von ihm gehört Warum fragen Sie? Sie hatten doch nicht etwa was mit ihm?«

Margo winkte ab. »Nein, natürlich nicht. Wenn überhaupt, dann waren wir Konkurrenten, was die Aufmerksamkeit von Dr. Frock anbelangte. Ich frage nur, weil Greg vor ein paar Monate n versucht hat, mich zu erreichen, und ich ihn nicht zurückgerufen habe. Jetz t habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hat er ja meine Hilfe gebraucht. Ich habe schon versucht, seine Nummer im Telefonbuch zu finden, aber sie steht nicht drin. Ich würde gerne wissen, ob er vielleicht irgendwo anders eine neue Stelle angenommen hat, oder was.«

»Da bin ich überfragt«, sagte Smithback. »Aber Greg ist einer von den Leuten, die immer wieder auf die Füße fallen. Vermutlich arbeitet er in irgendeiner abgeschiedenen Denkfabrik und macht seine hunderttausend Dollar im Jahr.« Er sah auf die Uhr. »Mein Artikel über die Demo geht erst um neun in Druck. Das bedeutet, daß wir noch Zeit für einen zweiten Drink haben, wenn Sie wollen.«

Margo starrte ihn mit gespielter Verwunderung an. »Ja, ist denn das möglich? Bill Smithback spendiert eine zweite Runde? Daß ich das noch erleben darf ...«