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Das Klingeln des Telefons durchschnitt die Stille des kleinen Büros im dritten Stock des Museumsgebäudes.
Margo Green, die schon wieder viel zu nahe vor dem Bildschirm des Computers gesessen hatte, lehnte sich schuldbewußt in ihrem Stuhl zurück und strich sich ihre kurzen braunen Haare aus der Stirn.
Das Telefon klingelte ein zweites Mal. Margo griff nach dem Hörer, überlegte es sich dann aber doch anders.
Bestimmt wollte sich wieder jemand aus der EDV-Abteilung darüber beschweren, daß Margo mit ihrem Programm zur Berechnung der kladistischen Regression zuviel Rechnerzeit auf dem Zentralcomputer verbrauchte. Also verschränkte sie die Arme vor der Brust und wartete darauf, daß das Klingeln aufhörte. Während sie so dasaß, spürte sie den leichten Muskelkater, der von ihrem gestrigen Besuch im Fitneß-Studio herrührte, und nahm den Handtrainer vom Schreibtisch. Sie drückte das kleine Gerät in ihrem gewohnten Rhythmus und blickte hinüber zum Bildschirm. In fünf Minuten würde ihr Programm durchgelaufen sein, dann konnte sich beschweren, wer wollte.
Margo wußte natürlich, daß nach den jüngst erlassenen Sparvorschriften rechenzeitverschlingende Vorhaben wie das ihre einer gesonderten Genehmigung bedurften, aber das hätte bedeutet, daß sie erst einmal endlose E-Mails hätte hin- und herschicken müssen, bevor sie ihr Programm hätte laufen lassen dürfen. Das aber konnte sie nicht, denn sie brauchte die Ergebnisse sofort.
Langsam gingen Margo die ständigen Sparbeschlüsse der Museumsleitung auf die Nerven. Hätte sie gewußt, was sie erwartet, hätte sie wohl nicht ihre Stelle als Lehrbeauftragte an der Columbia Universität aufgegeben, um den Posten als Stellvertretende Kuratorin am Naturgeschichtlichen Museum der Stadt New York anzunehmen. Je mehr das Museum in finanzielle Schwierigkeiten geriet, desto offener spekulierte es auf den Massengeschmack und vernachlässigte dabei die ernsthafte wissenschaftliche Arbeit zunehmend. Margo hatte bemerkt, wie schon jetzt die Vorbereitungen für die Sensationsausstellung im nächsten Jahr getroffen wurden, die »Seuchen des 21. Jahrhunderts" heißen sollte.
Während das Programm immer noch rechnete, legte Margo den Handtrainer weg und holte sich die New York Post aus ihrer Handtasche. Mittlerweile gehörte die Lektüre der Post ebenso zu ihrem vormittäglichen Ritual wie die Tasse Kaffee, denn Margos Freund Bill Smithback hätte es ihr nie verziehen, wenn sie auch nur einen seiner reißerischen Artikel versäumt hätte.
Und mit der Zeit hatte sie zu ihrem eigenen Erstaunen sogar Gefallen an dem blutrünstigen Stil des Blattes gefunden.
Als Margo die Zeitung entfaltete und die Schlagzeile las, mußte sie ungewollt grinsen. Das ist mal wieder typisch Post, dachte sie. Drei Viertel der ersten Seite nahm eine Überschrift in gigantisch großen Lettern ein: VERSCHWUNDENE MILLIONÄRSTOCHTER LAG TOT IN KLOAKE
Schon am ersten Absatz erkannte sie, daß kein anderer als Smithback den Artikel geschrieben haben konnte.
Das war schon seine zweite Titelseiten-Story in diesem Monat, und Smithback würde vor lauter Stolz darauf nun noch schwerer zu ertragen sein als sonst.
Margo überflog rasch den Artikel. Er war so sensationslüstern, makaber und versessen auf grausige Details, wie es von Smithback zu erwarten war. Am Anfang faßte er in knappen Worten zusammen, was die Bürger von New York ohnehin schon wußten. Die »schöne Millionärstochter Pamela Wisher, bekannt für ihre nächtlichen Vergnügungsmarathons«, war vor zwei Wochen nach dem Besuch einer Kellerdisco am Central Park South spurlos verschwunden. Bald darauf waren an den Häuserwänden zwischen der 57th und 96th Street Farbkopien der verschwundenen jungen Frau aufgetaucht. Auch Margo hatte das lächelnde Gesicht mit seinen, laut Smithback, »makellosen Zähnen, leicht abwesend blickenden Augen und von einem teuren Friseur gestylten blonden Haaren« häufig gesehen, wenn sie von ihrer Wohnung in der West End Avenue ins Museum gejoggt war.
Jetzt hatte man die sterblichen Überreste von Pamela Wisher im Schlamm des Humboldt Kill gefunden, und zwar, wie der Artikel genüßlich ausführte, »in einer grausigen Umarmung mit einem weiteren Skelett«.
Während Pamela Wisher zweifelsfrei identifiziert worden war, konnte noch niemand sagen, um wen es sich bei dem zweiten Toten handelte. Ein Foto unterhalb der Schlagzeile zeigte Pamelas Verlobten, den jungen Viscount Adair, wie er in der Lounge des Platypus Hotels das leidgeprüfte Gesicht in den Händen vergrub. Die Polizei hatte, so der Artikel, natürlich sofort mit der »energischen« Untersuchung des Falles begonnen. Am Schluß des Artikels zitierte Smithback noch ein paar Meinungen von Passanten, die den »Kerl, der das getan hat«, allesamt auf den elektrischen Stuhl wünschten.
Margo ließ die Zeitung sinken und dachte an Pamela Wisher, deren Gesicht sie in den letzten Wochen so oft angesehen hatte. Die junge Frau hatte etwas Besseres verdient, als New Yorks Sensationsgeschichte dieses Sommers zu werden.
Das schrille Klingeln des Telefons riß Margo abermals aus ihren Gedanken. Sie blickte auf den Monitor, der anzeigte, daß ihr Programm inzwischen durchgelaufen war. Jetzt kann ich ja drangehen, dachte sie und hob den Hörer ab.
»Ja?« fragte sie in Erwartung eines Anpfiffs aus der Computerzentrale.
»Na endlich, Dr. Green. Wurde aber auch langsam Zeit«
Die ruppige, autoritär klingende Stimme mit ihrem starken Queens-Akzent kam Margo irgendwie vertraut vor, auf Anhieb einordnen konnte sie sie jedoch nicht. So durchforstete sie ihr Gedächtnis nach dem passenden Gesicht.
Natürlich. Gestern, im Fernsehen, als von dem Leichenfund berichtet wurde! »Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir weitere Untersuchungen anstellen lassen, bis die Identität der Toten eindeutig geklärt ist ...«
»Lieutenant D'Agosta, sind Sie's?« fragte Margo.
»Wer sonst? Wir brauchen Sie im Labor der Forensischen Anthropologie«, raunzte D'Agosta. »Und zwar sofort«
»Darf ich fragen, was Sie ...«
»Nein, dürfen Sie nicht. Tut mir leid. Lassen Sie alles stehen und liegen, und kommen Sie nach unten.«
Margo hörte ein Klicken, und die Leitung war unterbrochen.
Margo hielt den Hörer noch eine Weile in der Hand und starrte auf ihn, als erwarte sie eine weitere Erklärung.
Dann nahm sie ihre Tasche und steckte die Post wieder hinein, wobei sie darauf achtete, daß die Zeitung eine kleine halbautomatische Pistole verbarg, die sie seit einigen Monaten immer bei sich hatte. Sie stand auf und verließ raschen Schrittes ihr Büro.