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Lieutenant D'Agosta saß in seinem mit Stapeln von Akten vollgestopften Büro und arbeitete sich, während er nervös an der Zigarre in seiner Brusttasche herumfummelte, durch die Berichte über die beiden Leichen aus dem Humboldt Kill.

Anstatt mit einem praktisch aufgeklärten Polizistenmord hatte er es seit dem grausigen Fund mit zwei ungeklärten Verbrechen zu tun, deren Lösung er noch keinen Schritt nähergekommen war. Zum Beispiel der Fall Wisher: Niemand wußte etwas, niemand hatte etwas bemerkt. Der Freund der Toten war tief erschüttert und nicht vernehmungsfähig, und die steinreiche Mutter so unkommunikativ und distanziert wie eine Göttin aus Eis. D'Agosta runzelte die Stirn. Dieser Mordfall war so explosiv wie Nitroglyzerin.

Als sein Blick von den Berichten zu dem Rauchen-verboten Schild neben der Tür wanderte, verzog D'Agosta das Gesicht noch mehr. Erst vor einer Woche hatte man dieses und ein Dutzend gleicher Schilder überall im Revier angebracht.

Ohne sich groß um das Verbot zu kümmern, zog der Lieutenant die Zigarre aus seiner Brusttasche und wickelte sie aus ihrer Zellophanhülle. Das war ja Gott sei Dank noch gestattet. Nachdem er die Zigarre genüßlich zwischen den Fingern gerollt und ihre Banderole kritisch begutachtet hatte, steckte er sie sich in den Mund.

Eine Weile blieb er regungslos so sitzen, dann zog er mit einem lauten Fluch die oberste Schreibtischschublade auf und suchte darin herum, bis er ein Päckchen Streichhölzer gefunden hatte. Er riß eines davon an der Sohle seines Schuhs an und hielt die Flamme an die Spitze der Zigarre. Dann lehnte er sich mit einem wohligen Seufzer zurück, lauschte dem leisen Knistern des brennenden Tabaks und sog genüßlich den Rauch ein, den er langsam durch die Nase wieder entweichen ließ.

Auf einmal schrillte das Haustelefon auf seinem Tisch. Ja«, meldete sich D'Agosta. Wollte sich vielleicht schon jemand darüber beschweren, daß er rauchte? Er hatte die Zigarre doch eben erst angezündet.

»Sergeant Hayward wünscht Sie zu sprechen, Sir«, hörte er die Stimme der Sekretärin.

»Ich kenne keinen Sergeant Hayward. Schicken Sie ihn weg«, knurrte er.

»Sergeant Hayward ist eine Dame, Lieutenant, und sie sagt, daß Sie sie herbestellt hätten.«

An D'Agostas halb offenstehender Bürotür erschien eine Frau in Uniform, die der Lieutenant interessiert musterte: Sie war klein und schlank, hatte blasse Haut, tiefschwarze Haare und einen ziemlich großen Busen.

»Sind Sie Lieutenant D'Agosta?« fragte sie.

D'Agosta war verblüfft daß eine so kleine Frau eine so tiefe Stimme haben konnte. »Nehmen Sie doch Platz«, sagte er und deutete auf einen Stuhl.

Offenbar sah Sergeant Hayward es als eine Selbstverständlichkeit an, bei einem ranghöheren Beamten unangemeldet ins Büro zu platzen.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, daß wir einen Termin vereinbart hätten, Sergeant«, meinte D'Agosta.

»Das hatten wir auch nicht«, antwortete Hayward ungeniert.

»Aber ich bin mir sicher, daß Sie mich auch ohne Termin sehen wollen.«

D'Agosta lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog langsam an seiner Zigarre. Er würde sich anhören, was die Frau zu sagen hatte, und sie dann nicht allzu freundlich hinausbefördern.

Obwohl er niemand war, der kleinlich auf die Einhaltung von Dienstvorschriften pochte, fand er die Art, wie sie sich in sein Büro gedrängt hatte, doch ein ziemlich starkes Stück. Er fragte sich, ob sie sich vielleicht über einen seiner Männer beschweren wollte, der ihr im Archiv oder sonstwo an die Wäsche gegangen war. Ein Fall von sexueller Belästigung war das Letzte, was er im Augenblick brauchen konnte.

»Es geht um die Leichen, die Sie im Humboldt Kill gefunden haben«, erklärte Sergeant Hayward.

»Was ist mit ihnen?« fragte D'Agosta und wurde sofort mißtrauisch. Eigentlich hatte er über die Details dieser Angelegenheit eine interne Nachrichtensperre verhängt.

»Ich war bei der Bahnpolizei, bevor man sie aufgelöst hat«, erklärte Sergeant Hayward und nickte, als wäre das allein schon eine ausreichende Erklärung für ihr Eindringen in D'Agostas Büro. Jetzt gehe ich immer noch Streife in der U-Bahn und kümmere mich um die Obdachlosen in der Penn Station, Hell's Kirchen und den Eisenbahndepots ...«

»Moment mal«, unterbrach D'Agosta, »Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, daß Sie die Penner aus der U-Bahn verjagen?«

Er wußte sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte. Als Hayward seinen ungläubigen Ton hörte, setzte sie sich kerzengerade hin und hob die Augenbrauen. Eine Weile herrschte zwischen den beiden eine unangenehme Stille.

»Wir haben es nicht gerne, wenn man von wegjagen spricht«, Lieutenant, meinte sie schließlich.

»In meinem Büro sage ich, was ich will«, entgegnete D'Agosta, der viel zu viele andere Sorgen hatte, um sich auch noch Gedanken um die Gefühle seines ungebetenen Gastes zu machen.

Hayward blickte ihn eine Sekunde lang durchdringend an.

D'Agosta sah, wie aus ihren braunen Augen das Wohlwollen schwand, mit dem sie ihn zu Anfang des Gesprächs noch angesehen hatte. »Bitte«, sagte sie, »wenn Sie meinen.« Sie atmete tief durch. »Als ich von diesen Skeletten hörte, mußte ich an einige Morde denken, die sich in letzter Zeit bei den Maulwürfen ereignet haben.«

»Bei was für Maulwürfen?«

»Bei den Tunnelmenschen, meine ich«, verbesserte sie sich und sah D'Agosta mit einem herablassenden Blick an, den dieser als ausgesprochen irritierend empfand. »Oder bei den Obdachlosen in den U-Bahn-Schächten, wenn Ihnen das lieber ist. Ich bin hier, weil ich heute in der Post diesen Artikel gelesen habe. Den über Mephisto.«

D'Agosta verzog das Gesicht. Dieser sensationslüsterne Smithback hatte wieder einmal seine Leser aufgestachelt und damit eine ohnehin schon prekäre Situation noch weiter zugespitzt.

Bei den Ereignissen um die Museumsmorde waren D'Agosta und Smithback zwar so etwas wie Freunde geworden, aber jetzt, wo der Journalist sich als Polizeireporter gerierte, ging er D'Agosta gewaltig auf den Geist.

Unzählige Male schon hatte Smithback ihn um Insider-Informationen angegangen, obwohl er genau wußte, daß D'Agosta sie ihm nie und nimmer geben würde.

»Ein Obdachloser hat in dieser Stadt an sich schon eine sehr geringe Lebenserwartung«, sagte Hayward,

»und bei den Maulwürfen ist sie noch viel niedriger. Aber in letzter Zeit ereignen sich unten in den Tunnels auch noch diese extrem brutalen Morde: Enthauptungen, aufgerissene Körper und so weiter. Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren, daß dieser Journalist sich die Geschichte nicht aus den Fingen gesaugt hat.« Sergeant Hayward rutschte auf ihrem Stuhl herum und sah D'Agosta mit ihren durchdringenden braunen Augen an.

»Aber wer weiß, vielleicht hätte ich mir die Mühe ja sparen sollen.«

D'Agosta entschloß sich, diese Frechheit zu überhören. »Von wie vielen enthaupteten Leichen reden Sie denn, Hayward?« wollte er wissen. »Von zwei? Oder drei?«

»Eher von einem halben Dutzend«, sagte Hayward nach einer kurzen Pause.

D'Agosta sah sie entgeistert an und vergaß, an seiner Zigarre zu ziehen. »Von einem halben Dutzend?«

»Sieben innerhalb der letzten vier Monate, um genau zu sein. Bevor ich zu Ihnen kam, habe ich mir noch einmal die Akten durchgesehen.«

D'Agosta ließ die Hand mit der Zigarre sinken. »Verstehe ich Sie da richtig, Sergeant? Da läuft eine Art Jack the Ripper im Untergrund herum, und niemand interessiert sich dafür'?«

»Moment mal!« verteidigte sich Hayward. »Das ist bloß so eine Idee von mir, okay? Nichts Offizielles.«

»Und warum haben Sie diese Idee nicht auf dem normalen Dienstweg Ihrem Vorgesetzten mitgeteilt?«

»Das habe ich ja. Kennen Sie Captain Waxie?«

Jeder bei der Polizei kannte Jack Waxie.Er war der fetteste und faulste Polizei Captain von ganz New York City, ein Mann, der sich seine Position durch Nichtstun und Schleimerei ersessen hatte. Vor einem Jahr, nach den Museumsmorden, hätte eigentlich D'Agosta zum Captain befördert werden sollen, aber dann war Bürgermeister Harper abgewählt worden, und sein Nachfolger, der für massive Steuersenkungen gekoppelt mit einem rigorosen Sparkurs eintrat, hatte ihn einfach übergangen und statt dessen Waxie zum Captain gemacht.

Seither verstand D'Agosta die Welt nicht mehr.

Hayward schlug die Beine übereinander und sah ihn an. »Morde an den Tunnelmenschen sind etwas anderes als Morde an der Oberfläche,, sagte sie. »Die meisten Leichen werden nie gefunden und wenn, dann sind sie oft stark von Ratten oder Hunden angefressen und nur schlecht zu identifizieren. Aber selbst wenn die Leichen völlig intakt sind, haben sie oft keine Papiere, keine Angehörigen und niemanden, der sie vermißt. Und die anderen Maulwürfe würden sich lieber die Zunge abbeißen, als der Polizei einen Hinweis zu geben.«

»Und so legt Jack Waxie einen Fall nach dem anderen zu den Akten, stimmt's?« fragte D'Agosta.

Hayward runzelte wieder die Stirn. »Er schert sich einen Dreck um die Tunnelmenschen.«

D'Agosta sah sie eine Weile an und fragte sich, was ein alter Chauvie wie Waxie wohl von dieser einen Meter siebenundfünfzig großen Ex-Bahnpolizeibeamtin hielt. Aber er brauchte nur seinen Blick über ihre schlanke Taille, ihre glatte Haut und ihre braunen Augen gleiten lassen, und schon lag die Antwort auf der Hand.

Sergeant Hayward war wirklich hübsch anzuschauen. »Okay, Sergeant«, sagte er. »Ich habe angebissen.

Können Sie mir sagen, wo diese Leichen gefunden wurden?«

»Das kann ich gerade noch, aber darüber hinaus sind die Informationen mehr als dürftig.«

 

D'Agostas Zigarre war ausgegangen; er nahm ein weiteres Streichholz aus der Schachtel. »Also, wo hat man sie gefunden?«

»Ich habe hier eine Liste für Sie«, sagte Hayward und zog einen Computerausdruck aus einer Tasche ihrer Uniform. Sie faltete das Blatt auf, strich es glatt und reichte es D'Agosta.

Während der Lieutenant seine Zigarre wieder ansteckte, warf er einen Blick auf die Liste. »Die erste Leiche wurde am 30. April in der West 58th Street Nummer 624 gefunden«, las er.

»Und zwar in einem Heizungskeller, der einen Zugang zu den Gleistunnels der Eisenbahn hat.«

D'Agosta nickte und las weiter. »Die zweite wurde am 7. Mai unter der S-Bahnstation Columbus Circle gefunden, und bei der dritten steht als Datum der 20. Mai und dann Stamm B4, Gleis zweiundzwanzig, Kilometer 2,1. Was, zum Teufel, ist denn das?«

»Das ist ein zugemauerter Frachttunnel am alten Güterbahnhof in der West Side. Die Maulwürfe brechen Löcher in die Wände und nisten sich in diesen Tunnels ein.«

D'Agosta hörte ihr zu und genoß seine Zigarre. Vor einem Jahr hatte er die Marke gewechselt – sozusagen als Vorgriff auf seine bevorstehende Beförderung. Als er dann doch kein Captain geworden war, hatte er es nicht übers Herz gebracht, von den Dunhills wieder zu den Garcia y Vegas zurückzukehren. Ab und zu sah er beim Rauchen hinüber zu Sergeant Hayward, die seinen Blick gelassen erwiderte. Der Frau mangelte es eindeutig am nötigen Respekt gegenüber Vorgesetzten. Trotz ihres zierlichen Körperbaus strahlte sie ein gesundes Selbstvertrauen und eine natürliche Autorität aus. Daß sie D'Agosta aus eigenem Antrieb aufgesucht hatte, deutete auf viel Eigeninitiative hin. Und darauf, daß sie ziemlich mutig war. Einen Augenblick lang bedauerte es der Lieutenant daß ihr Verhältnis bisher unter keinem guten Stern gestanden hatte. »Daß Sie direkt zu mir kommen, entspricht zwar nicht dem Dienstweg«, sagte er. »Aber ich weiß es trotzdem sehr zu schätzen.«

Hayward nickte fast unmerklich, als wolle sie ihm damit signalisieren, daß sie sein Kompliment zwar zur Kenntnis genommen, aber deshalb noch lange nicht akzeptiert hatte.

»Ich möchte mich nicht in Captain Waxies Angelegenheiten einmischen«, fuhr D'Agosta fort, »aber ich kann Ihren Hinweis auch nicht ignorieren. Möglicherweise besteht ja wirklich eine Verbindung zwischen den Mordfällen. Das haben Sie sich aber sicher schon selbst zusammengereimt. Deshalb schlage ich vor, wir vergessen, daß Sie hier bei mir waren.«

Hayward nickte abermals.

»Ich werde Waxie anrufen und so tun, als wäre ich selbst auf die Fälle aufmerksam geworden, und dann werden wir zusammen einen kleinen Bummel in den Untergrund machen.«

»Das wird dem Captain aber gar nicht gefallen. Wenn der mal einen Bummel macht, dann höchstens in die Cafeteria.«

»Er wird trotzdem mitkommen, glauben Sie mir. Es würde nicht allzu gut aussehen, wenn er auf seinem Hintern hockenbleiben würde, wahrend ein Lieutenant die Arbeit für ihn tut. Ganz besonders in diesem Fall, wo es möglicherweise um einen Serienkiller geht, der sich seine Opfer unter den Obdachlosen sucht. Eine solche Geschichte birgt eine Menge politischen Zündstoff. Also werden Waxie, Sie und ich uns ganz unauffällig in den Untergrund begeben. Und zwar ohne großes Aufsehen.«

Hayward runzelte die Stirn. »Das wäre nicht klug, Lieutenant«, sagte sie. »Da unten kann es ganz schön gefährlich werden. Wir kennen uns viel zuwenig aus, die Maulwürfe dafür aber um so besser. Und es sind nicht nur harmlose Penner im Untergrund, sondern auch ziemlich rabiate Burschen – Vietnamveteranen, Ex-Sträflinge, Überbleibsel der radikalen Studentenbewegung. Es gibt nichts, was die mehr hassen als die Polizei. Wenn wir uns da hinwagen, dann mindestens mit einer Hundertschaft.«

D'Agosta ging der respektlose Ton der Frau langsam auf die Nerven. »Nun machen Sie aber einen Punkt, Hayward. Wir sprechen hier nicht von einer Invasion, sondern von einer inoffiziellen Informationstour.

Solange die Sache nichts weiter als eine Vermutung ist, sollten wir sie nicht an die große Glocke hängen. Falls wir im Untergrund etwas entdecken sollten, können wir ja noch immer im großen Stil zuschlagen.«

Hayward erwiderte nichts.

»Und noch was, Hayward. Wenn auch nur ein Sterbenswörtchen von dieser Unternehmung durchsickert, weiß ich genau, wo die undichte Stelle war.«

Hayward stand auf, strich sich die blaue Uniformhose glatt und nickte ihren breiten Dienstgürtel zurecht.

»Verstanden.«

»Ich hatte auch nichts anderes erwartet«, sagte D'Agosta und blies eine Rauchwolke hinauf zu dem Rauchen-verboten Schild. Hayward warf einen Blick auf seine Zigarre, wobei sich D'Agosta nicht ganz sicher war, ob er Mißbilligung oder Ekel ausdrücken sollte. »Wollen Sie auch eine?« fragte er sarkastisch und holte eine weitere Zigarre aus seiner Brusttasche.

»Nein danke. Ich muß dabei immer an meinen Onkel denken.«

»Was ist denn mit Ihrem Onkel?«

»Mundkrebs. Man hat ihm die Lippen wegoperiert.«

Schweigend sah D'Agosta zu, wie Hayward auf dem Absatz kehrtmachte und raschen Schrittes sein Büro verließ. Er bemerkte nicht nur, daß sie es nicht nötig gehabt hatte, sich zu verabschieden, sondern auch, daß ihm seine Zigarre auf einmal nicht mehr ganz so gut schmeckte wie zuvor.