18

Margo nahm in der weitläufigen Linnaeus Hall Platz, die sich mitten im ursprünglichen Gebäude des Naturgeschichtlichen Museums befand. Die im Jahr 1882 erbaute elegante Halle war mit Eichenholz getäfelt und hatte ein hohes Deckengewölbe, unter dem ein wunderschön geschnitzter Fries die einzelnen Stufen der Evolution darstellte.

Amüsiert blickte Margo hinaufzum Bildnis des Menschen, den der Künstler mit Frack, Zylinder und Gehstock dargestellt hatte. Der Fries war ein herrliches Beispiel für die frühdarwinistische Auffassung von der Evolution, der zufolge sich die Natur von simplen zu immer komplexeren Lebensformen fortentwickelte und schließlich im homo sapiens als Krone der Schöpfung ihren Abschluß fand. Margo wußte, daß modernere Theorien das völlig anders sahen. Heute nahm man an, daß die Evolution viel zufälliger und wahlloser vor sich gegangen und dabei immer wieder in jede Menge Sackgassen gemündet war.

Dr. Frack, der neben ihr in seinem Rollstuhl saß, hatte mit seiner Theorie einer Fraktalen Evolution viel zu diesem Verständnis beigetragen. Die Evolutionsbiologen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend sahen den Menschen nicht mehr als die Apotheose der Evolution an, sondern als das Ende eines kleinen, nicht allzu spezialisierten Seitenzweigs der Säugetiere.

Margo blickte hinauf zu dem Projektionsfenster an der hinteren Wand. Die ehrwürdige Halle war im Lauf der Jahre zu einem Vortragssaal mit versenkbaren Tafeln und Filmleinwänden umgebaut worden. Kürzlich war sogar eine hochmoderne computergesteuerte Audivisionsanlage dazugekommen.

Zum hundertstenmal an diesem Tag fragte sich Margo, wer wohl die Informationen über die am Museum durchgeführten Untersuchungen an die Presse weitergegeben hatte. Wer auch immer es gewesen sein mochte, er hatte offenbar nicht alles gewußt, denn sonst hätte der Artikel bestimmt die grotesken Deformationen am zweiten Skelett erwähnt. Aber auch so war das, was an die Öffentlichkeit gedrungen war, schon mehr als genug. Obwohl sie insgeheim froh war, daß sie sich nun nicht mehr für Smithback stark machen mußte, bereitete ihr das, was sie inzwischen über die Bißspuren an den Knochen herausgefunden hatte, große Sorgen.

Mit unguten Gefühlen sah sie dem Eintreffen der Leiche von Nicholas Bitterman entgegen. Sie hatte Angst, daß auch sie derartige Spuren aufweisen würde.

Ein lautes, brummendes Geräusch riß Margo aus ihren Gedanken. Vor der Bühne glitt eine riesige Projektionsleinwand von der Decke herab.

In der für zweitausend Besucher ausgelegten Halle befanden sich genau sieben Menschen: Mehrere Reihen vor Margo saßen Lieutenant D'Agosta und ein fülliger Polizei-Captain in verknitterter Uniform zusammen mit zwei gelangweilt dreinblickenden Detectives von der Mordkommission. Und neben ihr summte Dr. Frock eine Melodie aus einer Wagner-Oper und trommelte auf den abgeschabten Armlehnen seines Rollstuhls mit seinen dicken Fingern den Takt dazu. Obwohl sein Gesicht äußerlich keine Regung zeigte, wußte Margo, daß er innerlich vor Wut kochte. Als Chef der Gerichtsmedizin durfte Dr. Brambell jetzt auf dem Podium stehen und die Ergebnisse der Untersuchungen präsentieren. Frock hatte sich damit einverstanden erklärt, aber Margo wußte genau, wie sehr ihn das wurmte.

Inzwischen waren die Lichter in der Halle ausgegangen, so daß Margo nur noch Brambells leichenhaft blasses Gesicht sehen konnte, das von der kleinen Lampe am Vortragspult gespenstisch erhellt wurde. In einer Hand hielt Brambell eine Fernbedienung, mit der er die Diavorführung steuern konnte, in der anderen einen Laserzeiger. »Ich finde, wir sollten gleich in medial res gehen und uns ein paar Dinge ansehen«, sagte Brambell in seiner hohen, fröhlichen Stimme, die gleichzeitig aus den vielen Lautsprechern an den Wänden der Halle ertönte. Margo hörte, wie Frock neben ihr verärgert in seinem Rollstuhl herumrutschte.

Auf der Leinwand erschien das stark vergrößerte Bild eines Knochens, das die Halle und ihre wenigen Besucher in ein hellgraues Licht tauchte.

»Dieses Foto zeigt Pamela Wishers dritten Halswirbel, auf dem Sie unschwer die deutlich sichtbaren Zahnspuren erkennen können.«

Nachdem Brambell mit dem roten Punkt des Laseranzeigers die betreffenden Stellen bezeichnet hatte, schaltete er den Projektor weiter.

»Hier sehen Sie eine dieser Spuren in zweihundertfacher Vergrößerung. Und das hier ist ein Querschnitt, an dem gut zu erkennen ist, daß der Biß vom Zahn eines Säugetiers stammt.«

Die nächsten Dias zeigten Diagramme, auf denen die zur Erzielung der jeweiligen Bißtiefe nötige Kraft dargestellt wurde. »Wie Sie sehen, war zum Erzeugen der tiefsten Spuren ein Druck von etwa fünfunddreißig bis fünfundsechzig Kilopond pro Quadratzentimeter nötig, was sich gravierend von den fünfundachtzig Kilopond pro Quadratzentimeter unterscheidet, von denen wir zunächst ausgegangen waren.«

Von denen du zunächst ausgegangen warst, dachte Margo.

»Wir haben an den Knochen der beiden Opfer insgesamt einundzwanzig Biß- oder Kratzspuren gefunden, die ohne jeden Zweifel von Zähnen herrühren«, fuhr Brambell fort.

»Außerdem gibt es Spuren, die vermutlich mit einem stumpfen Gegenstand verursacht wurden. Sie sind zu regelmäßig, um von Zähnen zu stammen, aber zu rauh, als daß es sich um Schnitte mit einem gut geschliffenen Messer handeln könnte. Wir glauben, daß sie möglicherweise aufden Gebrauch einer primitiven Axt oder eines Steinmessers hindeuten. Diese Spuren finden sich hauptsächlich an den Halswirbeln, was vielleicht auch ein Hinweis darauf sein könnte, wie die Opfer enthauptet wurden.«

Ein weiteres Dia wurde auf die Leinwand projiziert. »Hier sehen Sie einen Schnitt durch einen der Knochen, der genau zeigt, daß an den Bißstellen Blut durch die interstitiellen Zonen des Knochens in das Knochenmark gesickert ist. Das ist ein eindeutiger Beweis dafür, daß die Bisse vor dem Tod des Opfers erfolgt sein müssen.«

Obwohl niemand etwas sagte, konnte Margo spüren, wie ein Ruck durch die Anwesenden ging.

»Leider ist angesichts des Zustands der Leichen eine genaue Bestimmung der Todesursache unmöglich, aber es kann durchaus sein, daß die Bisse dabei eine Rolle gespielt haben. Wir vermuten, daß die Opfer an schweren Traumen und starkem Blutverlust starben.«

Brambell blickte auf und wandte sich mit einer dramatischen Geste an seine Zuhörer. »Ich weiß, daß Sie sich jetzt sicher alle eine ganz bestimmte Frage stellen, die Frage, die auch uns bei unseren Untersuchungen immer wieder beschäftigt hat: Wer oder was hat diese Bißspuren verursacht? Inzwischen wird ja in der Presse schon spekuliert, daß in dieser Stadt ein neuer Mbwun sein Unwesen treibt.«

Das macht ihm einen Heidenspaß, dachte Margo, die spürte, wie die Spannung unter den wenigen Menschen in der großen Halle stieg. Besonders D'Agosta rutschte nervös auf seinem Stuhl herum.

»Natürlich haben wir die Bißspuren sorgfältig mit denen verglichen, die vor achtzehn Monaten an Mbwuns Opfern dokumentiert wurden. Dabei sind wir zu zwei entscheidenden Ergebnissen gekommen.«

Brambell holte tief Luft und blickte hinunter in den halbdunklen Saal. »Erstens: Die Bißspuren an den beiden Skeletten sind nicht identisch mit denen, die von Mbwun stammten, weder in Länge und Breite noch im Zahnprofil.«

Margo sah, wie D'Agosta sich erleichtert zurücklehnte.

»Zweitens: Die Kraft hinter diesen Bissen überschreitet in keinem Fall vierundsechzig Kilopond pro Quadratzentimeter, was bedeutet, daß sie ohne weiteres von Hunden, ja, sogar von Menschen verursacht worden sein können. Die Bißspuren des Museumsmonsters ließen alle auf eine sehr viel größere Kraft schließen.«

In rascher Folge waren nun Dias von verschiedenen stark vergrößerten Bißmustern zu sehen. »Ein gesunder amerikanischer Mann, zumal, wenn er häufig Kaugummi kaut, kann mit seinen Kiefermuskeln durchaus eine Kraft von fünfundfünfzig bis fünfundsechzig Kilopond pro Quadratzentimeter erzeugen«, sagte Brambell.

»Auch von der Form her könnten viele der Spuren von menschlichen Eckzähnen stammen. Obwohl es nach wie vor nicht auszuschließen ist, daß ein Rudel streunender Hunde die beiden Opfer im Untergrund angegriffen, getötet und verstümmelt haben könnte, sind meiner Meinung die Bißspuren eher menschlichen als tierischen Ursprungs. Aus welchem Motiv und unter welchen Umständen sie entstanden sind, kann ich Ihnen allerdings nicht erklären.«

»Im Untergrund geschehen seltsame Dinge, Dr. Brambell«, ließ sich auf einmal eine leicht ironisch gefärbte Stimme mit tiefstem Südstaatenakzent vernehmen. »Viel seltsamere, als wir sie uns mit unserer beschränkten Phantasie je vorstellen können.« Margo drehte sich um und entdeckte in einem Stuhl ein paar Reihen weiter hinten die vertraute schlanke Gestalt von Special Agent Pendergast. Sie hatte den FBI-Agenten gar nicht hereinkommen gehört. Pendergast bemerkte ihren Blick und sah sie an, wobei seine hellen Augen im Licht des Diaprojektors funkelten. »Hallo, Miss Green«, sagte er. »Aber halt – es muß jetzt wohl Dr. Green heißen, nicht wahr?«

Margo nickte ihm lächelnd zu. Sie hatte Pendergast seit den Museumsmorden nicht mehr gesehen.

Unwillkürlich mußte sie daran denken, wie sie damals auf der kleinen Abschiedsfeier in Frocks Büro eine Menge Leute zum letztenmal für eine lange Zeit getroffen hatte, darunter Frock selber und auch Greg Kawakita.

Frock drehte sich mit einiger Mühe in seinem Rollstuhl nach hinten und begrüßte Pendergast mit einem kurzen Nicken, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Leinwand zuwandte.

Brambell sah den Neuankömmling vom Podium herunter an.

»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Das ist Special Agent Pendergast vom FBI«, antwortete D'Agosta. »Er wird uns bei der Lösung dieses Falles beraten.«

»Verstehe«, sagte Brambell. »Sehr erfreut« Dann fuhr er mit seinem Vortrag fort »Ich möchte mich nun der nächsten Frage widmen, nämlich der Identifizierung des zweiten Skeletts. Hier habe ich eine erfreuliche Neuigkeit für Sie, die möglicherweise selbst meine Kollegen Dr. Frock und Dr. Green überraschen wird. Ich bin nämlich selbst erst vor kurzer Zeit darauf gestoßen.«

Frock beugte sich mit versteinertem Gesicht in seinem Rollstuhl nach vorn, und Margo ließ ihren Blick zwischen ihm und Brambell hin und her wandern. War es möglich, daß Brambell ihnen etwas verheimlicht hatte, umjetzt allein alle Lorbeeren einzuheimsen?

»Sehen Sie sich das nächste Dia bitte genau an«, sagte der Gerichtsmediziner. Ein neues Bild erschien auf der Leinwand.

Es zeigte die Röntgenaufnahme mit den vier Punkten, die Margo als erster aufgefallen waren.

»Was Sie hier sehen, sind vier kleine dreieckige Metallstücke, die in einem Lendenwirbel des unbekannten Skeletts eingewachsen waren. Seit Dr. Green sie entdeckt hat, haben wir uns über ihre Bedeutung den Kopf zerbrochen. Gestern abend kam mir dann eine Art Erleuchtung, und heute habe ich mich bei einigen Orthopäden kundig gemacht. Wenn ich mich nicht geirrt habe, dann werden wir bis spätestens Ende der Woche die Identität des zweiten Skeletts erfahren.«

Brambell ließ seinen Blick triumphierend durch die Halle schweifen, wobei er bei Frock einen Augenblick länger verweilte als bei den anderen.

»Glauben Sie, daß es sich bei diesen Punkten um ...«, setzte Pendergast an, wurde aber sofort von Brambell abgewürgt.

»Im Augenblick möchte ich mich über dieses Thema nicht weiter auslassen«, sagte der Gerichtsmediziner und schaltete mit der Fernbedienung den Diaprojektor weiter. Auf der Leinwand erschien das Bild eines stark verwesten Kopfes mit leeren Augenhöhlen und einem lippenlosen Grinsen. Margo stieß der Anblick fast ebenso ab wie der Kopf selbst, den man ihnen gestern ins Labor gebracht hatte.

»Wie Sie vermutlich alle wissen, sollten wir diesen Kopf im Auftrag von Lieutenant D'Agosta untersuchen, der ihn am Tatort eines Obdachlosenmordes gefunden hat. Natürlich können wir Ihnen die ausführlichen Untersuchungsergebnisse erst in ein paar Tagen mitteilen, aber vorab läßt sich bereits sagen, daß der Kopf von einem Mann stammt, der seit etwa zwei Monaten tot ist. Wir haben auch an diesem Kopf zahlreiche Spuren von Zähnen und einer primitive n Klinge gefunden, letztere wiederum hauptsächlich an dem noch am Schädel verbliebenen Halswirbel. Wir haben bereits veranlaßt, daß die zu dem Kopf gehörende Leiche in Pottersfield wieder exhumiert wird, damit wir sie einer gründlichen Obduktion unterziehen können.«

O nein, dachte Margo.

Brambell zeigte nun mehrere Dias in rascher Folge. »Auch hier haben wir, wie Sie sehen können, den zur Erzeugung der Bißspuren nötigen Druck bestimmt und sind zu demselben Ergebnis gekommen wie bei den beiden Skeletten: Die Kraft wäre auch hier durchaus von menschlichen Kiefermuskeln aufzubringen gewesen, deutet also nicht auf einen neuen Mbwun hin.«

Die Leinwand wurde weiß, und Brambell legte den Laserzeiger auf das Vortragspult. Als das Licht im Saal anging, stand D'Agosta auf. Jetzt bin ich mehr erleichtert, als Sie sich vorstellen können, Dr. Brambell«, sagte er. »Aber eines würde ich gerne doch genauer wissen: Sie sind also wirklich der Meinung, daß die Bißspuren von einem Menschen stammen?«

Brambell nickte.

»Nicht von Hunden oder irgendwelchen anderen Tieren, die sich vielleicht in der Kanalisation herumtreiben?«

»Wie ich schon sagte, kann man diese Möglichkeit nicht ganz ausschließen, aber ich bin trotzdem der Meinung, daß die Spuren eher auf einen Menschen – oder auch mehrere Menschen – hinweisen. Wenn wir einen kompletten Gebißabdruck hätten, könnte ich das mit Bestimmtheit sagen, aber so ...«

Brambell reckte D'Agosta die leeren Handflächen hin. »Und dann sind da auch noch diese Kratzer, die mit ziemlicher Sicherheit von einem primitiven Instrument stammen. Ich habe noch nie einen Hund gesehen, der mit einem Steinmesser hantiert.«

»Wie steht es mit Ihnen, Dr. Frock?« fragte D'Agosta und wandte sich dem anderen Wissenschaftler zu.

»Was ist Ihre Meinung dazu?«

»Ich stimme mit Dr. Brambell überein«, sagte Frock knapp undrutschte unbehaglich in seinem Rollstuhl herum. »Wie Sie sich vielleicht erinnern werden, war ich derjenige, der als erster davon überzeugt war, daß wir es nicht mit einer Kreatur wie diesem Mbwun zu mit haben. Ich stelle mit Zufriedenheit fest, daß Dr. Brambell sich nun meiner Meinung angeschlossen hat. Trotzdem muß ich schärfstens gegen die Art und Weise protestieren, wie Dr. Brambell bei der Identifizierung von Kadaver A vorgeht.«

»Ich nehme das zur Kenntnis«, entgegnete Brambell mit einem dünnen Grinsen.

»Dann haben wir es also mit einem Killer zu tun, der Mbwun nachahmt«, ließ sich der dicke Polizei-Captain vernehmen.

Alle Augen ruhten auf ihm.

Der Captain stand auf und sah sich um. »Da draußen läuft ein Irrer herum, der sich von diesem Museumsmonster inspirieren läßt«, verkündete er mit lauter Stimme. »Er tötet wahllos Menschen, schneidet ihnen die Köpfe ab und ißt seine Opfer vielleicht sogar auf.«

»Dieser Rückschluß ist zwar im Prinzip richtig«, meinte Brambell, »aber eines muß ...«

Der Captain schnitt ihm das Wort ab. »Und dieser Mörder ist ein Obdachloser!«

»Momentmal, Captain Waxie«, mischte sich D'Agosta ein, »das erklärt noch lange nicht ...«

»Doch, es erklärt alles«, erwiderte Waxie dickköpfig.

Auf einmal wurde die Tür am Ende des Saales aufgerissen, und eine ärgerliche Stimme dröhnte durch den Raum: »Warum, zum Teufel, hat mich niemand von diesem Treffen informiert?«

Margo drehte sich um und erkannte über der makellosen blauen Uniform mit der vor Orden starrenden Brust das Gesicht von Polizeipräsident Horlocker. Gefolgt von zwei Adjutanten stürmte er wütend auf D'Agosta zu.

Ein müder Ausdruck huschte über das Gesicht des Lieutenants, bevor er einen neutralen Ausdruck annahm.

»Aber ich habe Ihnen doch eine Nachricht zukommen lassen.«

»Eine Nachricht?« schnaubte Horlocker verächtlich. »Sie hätten es mir persönlich sagen müssen! Soviel ich weiß, haben Sie denselben Fehler schon damals bei den Museumsmorden gemacht, Vincent. Auch da haben Sie Ihre Vorgesetzten nicht von Anfang an eingeweiht sondern zusammen mit diesem Trottel Coffey viel zu lange darauf beharrt, daß Sie es mit einem Serienmörder zu tun hätten. So lange, bis Sie ein Museum voller Leichen hatten.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische, Chief Horlocker«, tönte Pendergasts honigsüße Stimme von hinten, »aber das entspricht in keiner Weise den Tatsachen.«

Margo beobachtete Horlocker, wie er sich langsam nach der Stimme umdrehte. »Wer ist das?« fragte er.

D'Agosta wollte antworten, aber Pendergast hob die Hand.

»Lassen Sie nur, Vincent. Chief Horlocker, ich bin Special Agent Pendergast vom FBI.«

Horlocker runzelte die Stirn. »Ich habe schon von Ihnen gehört. Sie waren bei dem Schlamassel im Museum damals auch mit von der Partie.«

»Nett gesagt«, gab Pendergast zurück.

»Also, was wollen Sie, Pendergast?« fragte Horlocker ungeduldig. »Das hier fällt nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich.«

»Ich stehe Lieutenant D'Agosta beratend bei.«

Horlocker hob die Augenbrauen. »Der Lieutenant braucht Ihre Hilfe nicht«

»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen widerspreche, Sir«, sagte Pendergast höflich, »aber ich glaube, daß er jede Hilfe braucht, die er kriegen kann. Und Sie übrigens auch.« Seine Blicke wanderten von Horlocker zu Waxie und wieder zurück zu Horlocker. »Keine Angst, Chief, ich will Ihnen den Fall nicht wegnehmen, sondern lediglich zur Erstellung eines Täterprofils beitragen.«

»Sehr beruhigend«, fauchte Horlocker und wandte sich an D'Agosta. »Also? Was haben Sie herausgefunden?«

»Dr. Brambell glaubt, daß er bis zum Freitag das zweite Skelett identifiziert haben wird«, sagte D'Agosta.

»Außerdem glaubt er, daß die Bi ßspuren von einem oder mehreren Menschen stammen.«

»Von mehreren?« hakte Horlocker nach.

»Meiner Meinung nach verdichten sich die Hinweise darauf, daß wir es mit mehreren Tätern zu tun haben, Chief«, erklärte D'Agosta, und Brambell nickte zustimmend.

»Sie behaupten also, daß in dieser Stadt gleich zwei irre Kannibalen herumlaufen und die Leute abschlach

ten?« fragte Horlocker mit geschmerztem Gesicht »Großer Gott Vinnie, benutzen Sie doch mal Ihren Gripsl Wir haben es hier mit einem obdachlosen Serienmörder zu tun, der im Normalfall nur seinesgleichen nach

stellt. Ab und zu fällt ihm auch ein normaler Mensch zum Opfer wie Pamela Wisher oder dieser Bitterman.«

»Ein normaler Mensch?« wiederholte Pendergast fragend.

»Sie wissen schon, was ich meine. Ein produktives Mitglied der Gesellschaft. Jemand, der eine feste Adresse hat.« Horlocker wandte sich von Pendergast an D'Agosta. »Ich habe Ihnen einen Termin gesetzt, Lieutenant und hatte eigentlich mehr erwartet als diese paar dürftigen Ergebnisse.«

Waxie wuchtete sich aus seinem Stuhl. »Ich bin der festen Überzeugung, daß wir es mit einem Einzeltäter zu tun haben, Sir«, schnaufte er.

»Ganz genau«, stimmte Horlocker ihm zu und sah die anderen herausfordernd an, als warte er auf Widerspruch. »Wir haben da so einen durchgeknallten Penner, der möglicherweise in der Nähe des Central Parks seinen Unterschlupf hat und glaubt er sei das Museumsmonster. Aber damit nicht genug. Nach diesem gottverdammten Artikel in der Times dreht uns jetzt auch noch die halbe Stadt durch.« Mit einer abfälligen Handbewegung wandte er sich wieder an D'Agosta. »Und was tun Sie, Lieutenant? Sie scheint das alles nicht groß zu kümmern!« schnauzte er ihn an.

»Immer mit der Ruhe, Chief«, sagte Pendergast beschwichtigend. »Sie kennen doch den alten Spruch: Wer schreit, hat unrecht.«

Der Polizeipräsident sah Pendergast mit ungläubiger Miene an. »So können Sie nicht mit mir reden.«

»Doch, das kann ich, Chief Horlocker, und zwar vermutlich als einziger hier im Saal«, entgegnete Pendergast.

»Und deshalb ist es jetzt an mir, Ihnen zu sagen, daß Sie soeben ein paar durch nichts gerechtfertigte Vermutungen kundgetan haben. Die erste ist die, daß der Mörder ein Obdachloser ist, die zweite, daß er sich in der Nähe des Central Parks aufhält, und die dritte, daß es sich bei ihm um einen Verrückten handelt. Kommt noch die falsche Annahme Nummer vier hinzu, nämlich die, daß wir es mit einem Einzeltäter zu tun haben.«

Pendergast machte bei seinen Worten ein nachsichtiges, aber zugleich gestreßtes Gesicht wie ein Vater, der sein verstocktes Kind zur Vernunft bringen will.

Horlocker starrte Pendergast eine Sekunde an, dann drehte er sich, ohne ein Wort zu sagen, um und stapfte, nachdem er D'Agosta einen vernichtenden Blick zugeworfen hatte, mit großen Schritten aus dem Saal.

Als die Tür hinter ihm und seinen Adjutanten geräuschvoll ins Schloß gefallen war, herrschte zunächst einmal Stille. »Was für eine traurige Farce«, murmelte Frock schließlich vor sich hin.

D'Agosta seufzte und wandte sich an Brambell. »Stellen Sie sicher, daß der Chief eine Kopie Ihres Berichts bekommt, aber sorgen Sie dafür, daß sie nur die wichtigsten Fakten enthält. Und tun Sie viele Bilder hinein, damit sie sich besser liest. Am besten, Sie orientieren sich am Niveau eines Viertkläßlers, dann können Sie nichts falsch machen.«

Brambell brach in hämisches Gelächter aus. »Danke für denTip, Lieutenant«, gackerte er. »Ich werde mir alle Mühe geben.«

Margo sah, wie Waxie beiden einen mißbilligenden Blick zu warf und sich selbst in Richtung Tür in Bewegung setzte. »Ich finde solche Späße auf Kosten eines Vorgesetzten nicht sonderlieb professionell, meine Herren«, sagte er im Vorbeigehen. »Bei so etwas mache ich nicht mit.«

D'Agosta starrte ihm nach. »Wissen Sie was, Dr. Brambell?« sagte er so laut, daß Waxie es noch hören konnte, »schreiben Sie Ihren Bericht für Drittkläßler, damit der Captain ihn auch versteht.«

Hoch oben im Projektionsraum trat Smithback vom Beobachtungsschlitz zurück, schaltete zufrieden sein Diktiergerät aus und lauschte den Schritten der Leute, die langsam die große Halle verließen.

Als der Vorführer in den Raum kam, warf er Smithback einen kritischen Blick zu. »Sind Sie noch immer da?

Sie sagten doch ...«

Der Journalist winkte ab. »Ich weiß, was ich gesagt habe, aber ich wollte Sie nicht beunruhigen. Hier, nehmen Sie das.«

Smithback öffnete seine Brieftasche und drückte dem Mann einen Zwanzigdollarschein in die Hand.

»Ich würde das nicht annehmen, wenn mir das Museum genügend bezahlen würde«, verteidigte sich der Mann. »Aber von meinem Gehalt kann man hier in New York kaum leben.«

»Das weiß ich doch«, sagte Smithback gönnerhaft und warf einen letzten Blick hinunter in den Saal. »Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen, schließlich haben Sie sich soeben um die Pressefreiheit verdient gemacht. Gehen Sie von dem Geld nett zum Essen, okay? Und machen Sie sich keine Sorgen. Ich wandere lieber ins Gefängnis, als daß ich meine Quellen preisgebe.«

»Gefängnis?« krächzte der Vorführer. Smithback beruhigte ihn mit einem Schulterklopfen und verließ den Projektionsraum. Mit Notizbuch und Diktiergerät in der Hand ging er die alten, staubigen Museumskorridore entlang, an die er sich noch gut erinnern konnte. Er hatte Glück: Am nördlichen Ausgang saß die alte Pförtnerin, die bei allen wegen ihres üppig aufgetragenen Rouges nur »Pocahontas« hieß. Beim Hinausgehen winkte er ihr zweideutig lächelnd zu und hielt ihr seinen alten Museumsausweis so hin, daß sein Daumen das längst abgelaufene Gültigkeitsdatum überdeckte.