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Captain Waxie trat aus dem alten Polizeirevier am Central Park und schnaufte den Weg entlang, der nach Norden in ein dunkles Wäldchen führte. Bei ihm waren ein uniformierter Polizist aus dem Revier und Stan Duffy, der Leitende Wasserbauingenieur der Stadt. Duffy, der schon etliche Schritte voraus war, blieb stehen und blickte sich ungeduldig nach Waxie um.
»Nicht so schnell«, keuchte der dicke Polizeicaptain. »Das ist doch kein Marathonlauf.«
»Ich bin so spät nicht gerne im Park«, entgegnete Duffy mit hoher, dünner Stimme. »Und jetzt, wo diese Morde passiert sind, erst recht nicht. Sie hätten mich schon vor einer halben Stunde auf dem Revier treffen sollen.«
»Nördlich der 42nd Street herrschte das reinste Chaos auf den Straßen«, verteidigte sich Waxie. »Es war einfach kein Durchkommen mehr. Das haben wir alles dieser Mrs. Wisher zu verdanken. Die hat aus dem Nichts heraus schon wieder so eine unangemeldete Demonstration angeleiert, und jetzt ist der gesamte Verkehr zusammengebrochen.« Waxie schüttelte den Kopf. Central Park West und Central Park South waren völlig dicht, und selbst auf der Fifth Avenue zog immer noch die Nachhut der Demonstranten dahin. Das Chaos war perfekt, vor allem, weil niemand auf die Demonstration vorbereitet gewesen war. Wenn Waxie der Bürgermeister gewesen wäre, hätte er die ganze Bagage ins Gefängnis werfen lassen.
Jetzt tauchte vor ihnen die vom Licht der untergehenden Sonne angestrahlte Orchestermuschel auf. Das geschwungene, über und über mit Graffiti beschmierte Gebäude lag still und verlassen da, ein wahres Paradies für jemanden, der anderen Leuten auflauern wollte. Duffy blickte nervös hinüber und beschleunigte seine Schritte.
Die drei umrundeten den Teich und folgten dem East Drive nach Norden. Aus der Ferne jenseits des stillen Parks drang vielstimmiges Rufen und das Hupen zahlloser Autos an Waxies Ohr. Er sah auf die Uhr. Es war halb neun. In einer Viertelstunde mußten sie plangemäß mit den Vorbereitungen zum Ablassen des Reservoirs beginnen. Waxie schlug eine etwas schnellere Gangart an.Wenn sie rechtzeitig dort sein wollten, mußten sie sich beeilen.
Durch die Bäume sah Waxie das Steingebäude der alten Meßstation etwa eine Viertelmeile südlich des Reservoirs. Als er schwer schnaufend dort anlangte, schloß Duffy bereits die schwere Stahltür auf. Dahinter befand sich ein Raum mit Kartentischen und alten, technisch längst überholten hydrometrischen Instrumenten. In einer Ecke stand ein Computer mit Drucker und mehreren Monitoren, der einen merkwürdigen Kontrast zu den anderen Gegenständen in dem Raum bildete.
Von innen schloß Duffy die Tür dann sorgfältig ab und begab sich an den Computer. »Ich habe so was noch nie gemacht«, sagte er nervös und holte unter dem Tisch ein Handbuch hervor, das mindestens fünfzehn Pfund wog.
»Jetzt scheißen Sie sich bloß nicht in die Hosen«, brummte Waxie.
Duffy sah ihn schief von der Seite an und blätterte ein paar Minuten lang in dem Handbuch herum, bevor er sich an die Tastatur setzte und etwas einzutippen begann. Auf einem der Monitore erschien eine Reihe von Befehlen.
»Wie funktioniert das eigentlich« fragte Waxie, der ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Von der hohen Luftfeuchtigkeit in dem Raum taten ihm die Gelenke weh.
»Ganz einfach«, antwortete Duffy. »Das Reservoir wird unter Ausnutzung der natürlichen Schwerkraft mit Wasser aus den Catskill Mountains gespeist. Auch wenn es Ihnen vermutlich gigantisch erscheint, enthält es doch nur soviel Wasser, wie Manhattan innerhalb von drei Tagen verbraucht. Eigentlich ist es nur eine Art Zwischenspeicher, der Niedrig- und Spitzenverbräuche ausgleicht«
Duffy tippte weiter. »Dieses Computersystem ist so programmiert, daß es diese Verbrauchsschwankungen voraussieht und den Zufluß in das Reservoir steuert. Mit seiner Hilfe können wir sogar Schleusen am hundertsechzig Kilometer entfernten Strom, dem King Mountain, öffnen und schließen. Das Programm hat den Wasserverbrauch der vergangenen zwanzig Jahre eingespeichert, aus denen es unter Berücksichtigung des aktuellen Wetterberichts den voraussichtlichen Wasserbedarf von Manhattan berechnet«
Jetzt, wo er in Sicherheit war, redete sich Duffy langsam warm.
»Natürlich gibt es ab und zu auch Abweichungen von diesen Vorausberechnungen. Wenn weniger Wasser verbraucht wird, als das Programm errechnet hat, und das Reservoir zu voll ist, dann öffnet der Computer den Hauptschieber und läßt das überschüssige Wasser in die Kanalisation ab. Wird unvorhergesehen viel Wasser verbraucht, dann bleibt der Hauptschieber zu, und die Schleusen in den Bergen werden ferngesteuert geöffnet, damit mehr Wasser ins Reservoir fließt.«
»Tatsächlich?« fragte Waxie abwesend. Er hatte schon bei Duflys zweitem Satz das Interesse an dessen Ausführungen verloren.
»Ich werde jetzt die Automatik des Systems ausschalten und von Hand die Schleusen in den Bergen und den Hauptschieber des Reservoirs öffnen. So wird das Reservoir gleichzeitig gefüllt und in die Kanalisation abgelassen. So einfach ist das. Ich gebe dem Computer den Befehl, eine halbe Million Kubikmeter abzulassen – das entspricht einer halben Milliarde Liter. Sobald das passiert ist, stelle ich das System wieder auf Automatik um.«
»Dann wird das Reservoir also gar nicht geleert?« fragte Waxie.
Duffy lächelte geduldig. »Also ehrlich, Captain, wir wollen doch keinen Wassermangel herbeiführen, oder?
Glauben Sie mir, wir können unseren Zweck auch ohne größere Auswirkungen auf die Bürger erreichen. Ich schätze, daß der Wasserspiegel des Reservoirs um knapp drei Meter fällt, mehr nicht. Die Wasserversorgung von New York ist schon faszinierend. Kaum zu glauben, daß sie bereits vor über hundert Jahren entworfen wurde und unseren heutigen Bedürfnissen noch immer gerecht wird.« Das Lächeln verschwand aus Duffys Gesicht.
»Trotzdem ist das, was wir jetzt vorhaben, noch nie gemacht worden. Sind Sie sicher, daß es auch wirklich sein muß? Das wird eine ganz schöne Flutwelle im Untergrund geben.«
»Sie haben doch gehört, was Chief Horlocker gesagt hat.« erwiderte Waxie und rieb sich seine dicke Nase mit dem Daumen. »Sehen Sie zu, daß auch wirklich alles funktioniert, und überlassen Sie das Denken den anderen.«
»Es wird funktionieren, keine Bange«, erwiderte Duffy verärgert.
Waxie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das möchte ich auch hoffen«, sagte er. »Denn wenn es das nicht tut, dann können Sie sich geistig schon mal auf einen Job als Klärwärter einstellen.«
Duffy ließ ein nervöses Lachen los. Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, Captain, solche Drohungen sind nun wirklich nicht nötig.« Er tippte weiter, während Waxie in dem Raum auf und ab ging. Der uniformierte Polizist stand regungslos an der Tür und schien sich für die Vorgänge nicht im geringsten zu interessieren.
»Wie lange wird es dauern, bis das Wasser in die Kanalisation geflossen ist?« fragte Waxie.
»Etwa acht Minuten.«
»Wie bitte?« grunzte Waxie. »Nur acht Minuten für eine halbe Milliarde Liter?«
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann wollen Sie es doch so schnell wie möglich in den untersten Tunnels haben, damit diese auch richtig gut durchgespült werden?«
Waxie nickte.
»Wenn ich das System auf hundertprozentigen Durchfluß stelle, ist die gewünschte Wassermenge in acht Minuten durch die Kanäle gerauscht. Allerdings dauert es fast drei Stunden, bis die hydraulischen Schieber und Schleusen in der richtigen Position sind. Dann machen wir alles auf einmal auf, so daß Wasser aus dem Reservoir fließt und gleichzeitig neues Wasser von den Bergen eingespeist wird. Wie ich Ihnen vorher schon erklärt habe, verhindern wir so ein zu starkes Absinken des Wasserspiegels. Aber das Ganze muß gut koordiniert sein, denn wenn mehr Wasser zu – als abfließt, dann überschwemmen wir womöglich den ganzen Central Park.«
»Dann wollen wir bloß hoffen, daß Sie Ihr Handwerk verstehen, Duffy. Ich will, daß alles genau nach Zeitplan läuft, und zwar ohne Verzögerungen und ohne Pannen.«
Duffys Tippen wurde langsamer.
»Hören Sie endlich auf, sich Sorgen zu machen«, sagte der Ingenieur und hielt, den Zeigefinger Millimeter über einer der Tasten, inne. »Es wird keine Verzögerung geben. Aber eines muß Ihnen klar sein: Was ich jetzt in Bewegung setze, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wenn ich nämlich diese Taste hier drücke, fangt die Hydraulik an, die Schieber zu bewegen, und weder ich noch sonst wer kann sie stoppen. Die Sache ist nämlich die ...«
»Jetzt drücken Sie schon die verdammte Taste«, verlangte Waxie ungeduldig.
Duffy senkte mit einer bedeutungsvollen Geste seinen Finger.
»Das war's«, teilte er Waxie mit. »Jetzt kann nur noch ein Wunder das Wasser aufhalten. Und falls Sie es noch nicht wissen sollten: Wunder sind streng verboten in NewYork City.«