20

D’Agosta sah auf die Uhr: Es war zehn Uhr abends, und sie hatten noch immer keine vorzeigbaren Ergebnisse. Seine Leute, verstärkt von uniformierter Polizei, hatten sich in allen Obdachlosenasylen, Betreuungsstätten und Suppenküchen der Stadt umgehört, ob dort irgendwer ein gesteigertes Interesse an Mbwun kundgetan hatte. Hayward, deren Wissen über die Obdachlosen im Untergrund für D'Agosta immer wertvoller wurde, hatte mehrere Ausflüge in alte U- und Eisenbahn-Schächte unternommen, war aber mit ebenso leeren Händen wiedergekommen wie ihre Kollegen an der Oberfläche. Die Maulwurfmenschen hatten sich sofort in die Dunkelheit zurückgezogen, und Hayward war klar, daß sie nur die obersten Schichten eines weit in die Tiefe gehenden Tunnelsystems erreichen konnte. Die einzig positive Entwicklung des Tages war, daß der Strom von Spinnern und Wichtigtuern, die wegen der von Smithback ausgesetzten Belohnung anriefen, langsam zu versiegen begann. Vielleicht hatte ja selbst diese Leute inzwischen die Panik ergriffen, die von der Times mit ihrem Bericht über den Bitterman-Mord ausgelöst worden war.

D'Agosta blickte auf seinen Schreibtisch, der vor Berichten über die erfolglosen Aktionen des Tages regelrecht überquoll, und starrte dann zum hundertstenmal an diesem Abend auf den Stadtplan an der Wand, als könne er ihm allein durch die Intensität seines Blickes seine Geheimnisse entreißen. Da mußte es doch irgendein Muster geben. Aber welches? »Finde das Muster« lautete eine der goldenen Regeln der Verbrechensaufklärung.

D'Agosta war es scheißegal, was Horlocker meinte. Sein Instinkt sagte ihm, daß die Morde von mehreren Tätern begangen worden waren. Aber nicht nur sein Instinkt, auch eine Reihe von Fakten sprachen für D'Agostas Theorie: Erstens gab es zu viele Morde, um von einem Täter begangen worden zu sein, und zweitens waren sich die Vorgehensweisen zwar ähnlich, aber doch nicht ähnlich genug. Manche Opfer waren enthauptet worden, anderen hatte man den Schädel eingeschlagen, wieder andere hatte man lediglich an den Gliedmaßen verstümmelt. Vielleicht hatten sie es ja mit einer Art bizarrem Kult zu tun, dachte D'Agosta. Aber um diese oder andere Theorien zu beweisen, bedurfte es langwieriger methodischer Detektivarbeit. Und für die hatte niemand Zeit, denn Horlocker verlangte rasche Ergebnisse.

Mein Gott, jetzt klinge ich schon fast wie Pendergast, dachte D'Agosta und mußte über sich selbst lachen.

Aus dem kleinen Lagerraum, der direkt neben seinem Büro lag, drang eine Reihe von schleifenden Geräuschen. Vor ein paar Minuten war Hayward, die mal eben Pause machte, dort hineingegangen. D'Agosta starrte eine Weile auf die Tür und lauschte. Schließlich stand er auf, öffnete die Tür und trat ein.

Hayward stand in seltsamer Haltung in der Mitte des kleinen Raumes: Ihren linken Arm hatte sie gerade nach vorn gestreckt, die rechte Hand mit ausgestreckten Fingern an die Schläfe gelegt. Viel zu konzentriert, um D'Agosta zu bemerken, drehte Hayward ihren kleinen Körper um neunzig Grad nach links und wechselte mit den Armen die Position, so daß nun die rechte Hand die Stellung einnahm, in der sich vorher die linke befunden hatte und umgekehrt. Nach kurzem Innehalten drehte sie sich abermals um neunzig Grad weiter und wiederholte den Wechsel der Arme. Eine weitere Drehung brachte sie schließlich Angesicht zu Angesicht mit D'Agosta, der noch immer im Türrahmen stand und sie staunend betrachtete. Während sie mit einer langsamen, genau abgezirkelten Bewegung ihre Hände vor den Körper zusammenbrachte, fragte sie mit leiser Stimme: »Brauchen Sie etwas, Lieutenant?«

»Nur eine Erklärung für das, was Sie hier machen«, erwiderte D'Agosta.

Hayward richtete sich langsam auf, atmete laut hörbar aus und sah ihm in die Augen. »Da ist eine der Heian-Figuren des Kata.«

»Und was ist das, bitte schön?«

»Formale Übungen des Shotokan-Karate«, erklärte sie und fügte, als sie seinen verständnislosen Gesichtsausdruck sah, noch hinzu: »Ich mache das, um mich zu erholen und in Form zu bleiben. Ich habe im Moment nämlich Pause, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Nein, überhaupt nicht. Fahren Sie ruhig fort«, murmelte D'Agosta und drehte sich um. Bevor er die Tür schloß, fragte er Hayward noch: »Und was haben Sie für einen Gürtel?«

Sie sah ihn einen Augenblick lang an, bevor sie ihm eine Antwort gab. »Den weißen.«

»Ach so.«

Hayward lächelte. »Shotokan ist die ursprüngliche japanische Schule des Karate. Bei der gibt es nicht so viele Farbschattierungen der Gürtel wie anderswo. Zuerst kommen acht Stufen des weißen Gürtels, dann der braune und schließlich der schwarze.«

D'Agosta nickte. »Und welche Stufe haben Sie?« fragte er neugierig.

»Nächsten Monat mache ich die Prüfung für den braunen Gürtel.«

D'Agosta hörte, wie die Tür seines Büros geöffnet wurde, und ging hinaus. Er sah sich Captain Waxie gegenüber, der ohne ein Wort zu dem Stadtplan an der Wand trat. Mit hinter dem Rücken gefalteten Händen betrachtete er das Durcheinander an roten und weißen Nadeln. »Ich erkenne hier ein Muster«, sagte er.

»Wirklich?« fragte D'Agosta, der sich bemühen mußte, seine Stimme neutral zu halten.

Waxie nickte wissend, ohne sich zu D'Agosta umzudrehen.

»Und es hat hier seinen Ursprung.« Waxies dicker Zeigefinger tippte auf ein grünes Rechteck im Stadtplan.

D'Agosta sah, daß er auf den Ramble, den wildesten Teil des Central Parks, deutete.

»Wie haben Sie das herausgefunden?« wollte D'Agosta wissen.

»Ganz einfach«, antwortete Waxie. »Chief Horlocker hat die Daten an einen Statistiker in der Personalabteilung weitergegeben, und er hat sie durch den Computer gejagt. Herausgekommen ist, daß alle Tatorte eine Art Halbkreis um den Ramble bilden. Sehen Sie selbst. Der Belvedere Castle-Mord war der Schlüssel.«

Jetzt endlich drehte Waxie sich um. »Im Ramble gibt es jede Menge Felsen, Höhlen, und dichtes Gehölz. Ein perfektes Versteck für Obdachlose. Ich gehe jede Wette ein, daß wir dort auch unseren Mörder finden.«

Diesmal gelang es D'Agosta nicht, seine Ungläubigkeit zu verbergen. »Einen Augenblick, Jack. Willst du etwa sagen, daß euch irgendein Versicherungsheini in der Personalabteilung diesen Supertip gegeben hat? Wollte er dir vielleicht auch gleich noch einen Sparvertrag aufschwatzen?«

Waxie runzelte die Stirn, und seine dicken Backen färbten sich leuchtend rot. »Dein Ton paßt mir nicht, Vinnie. Er war schon bei dem Treffen heute nachmittag nicht angebracht, und jetzt ist er es auch nicht.«

»Hör zu, Jack«, entgegnete D'Agosta, der nur mit Mühe die Ruhe bewahren konnte. »Was versteht ein Statistiker, selbst wenn es sich dabei um einen Polizeistatistiker handelt, schon von der Vorgehensweise eines Mörders? Einfach irgendwelche Berechnungen anzustellen genügt nicht Man muß auch Motive, Verhaltensweisen und vieles andere bedenken. Außerdem ist der Belvedere-Mord derjenige, der am wenigsten in das Muster paßt.« Als Waxie ihn nur stur und verständnislos ansah, gab D'Agosta auf. Es hatte keinen Sinn, dem Captain noch mehr zu erzählen. Und Horlocker war, wie manch anderer Polizeichef auch, spezialisten-, experten- und beraterhörig.

»Ich brauche diesen Stadtplan«, erklärte Waxie.

D'Agosta starrte auf den breiten Rücken des Captains, als ihm auf einmal ein Licht aufging. Jetzt wußte er, was das alles zu bedeuten hatte. »Bedien dich«, sagte er und stand auf. »Die Akten sind hier in dieser Schublade, und Sergeant Hayward hat sehr wertvolle Kenntnisse ...«

»Die brauche ich nicht«, schnitt ihm Waxie das Wort ab. »Nur den Stadtplan und die Akten. Schick sie mir bis morgen früh um acht in mein Büro. Zimmer zwei-vier-null-drei. Chief Horlocker findet es besser, wenn ich mein Hauptquartier hier bei euch aufschlage.«

Waxie drehte sich langsam auf dem Absatz um und sah D'Agosta in die Augen. »Tut mir leid, Vinnie, aber es ist wohl eine Frage der Chemie. Zwischen mir und Horlocker stimmt sie eben. Er will jemanden, auf den er sich verlassen kann. Jemanden, der gegenüber der Presse dichthalten kann. Nimm es nicht persönlich. Auf die eine oder andere Weise kannst du ja noch an dem Fall arbeiten. Wir machen bestimmt bald Fortschritte, und dann fühlst du dich auch wieder besser. Wir müssen nur den Ramble durchkämmen, und dann haben wir den Kerl.«

»Na klar doch«, brummte D'Agosta. Er machte sich wieder bewußt, daß bei diesem Fall sowieso keine Lorbeeren zuverdienen waren und daß er sich von Anfang an nicht darum gerissen hatte. Es half beides nichts.

Waxie streckte ihm die Hand hin. »Also, nichts für ungut, Vinnie.«

D'Agosta drückte die fleischigen warmen Finger. »Nichts für ungut, Jack«, hörte er sich selbst sagen.

Waxie sah sich noch einmal im Büro des Lieutnant um, als suche er noch nach weiteren Dingen, die er requirieren könnte. »Okay, ich muß jetzt gehen. Ich wollte es dir nur persönlich sagen.«

»Danke.«

Eine Weile standen sich die beiden in peinlichem Schweigen gegenüber. Dann klopfte Waxie D'Agosta unbeholfen auf die Schulter und verließ das Büro.

An dem leisen Knistern des Uniformstoffs hörte D'Agosta, daß Sergeant Hayward neben ihn getreten war.

Gemeinsam lauschten sie Waxies sich entfernenden Schritten auf dem Linoleumboden des Korridors, bis diese sich schließlich im leisen Klappern der Schreibmaschinen und dem gedämpften Gemurmel der Unterhaltungen verloren. Dann wandte sich Hayward an D'Agosta.

»Wieso haben Sie ihm das durchgehen lassen?« fragte sie bitter.

»Als wir da unten im Tunnel mit dem Rücken an der Wand standen, ist der Feigling davongelaufen.«

D'Agosta setzte sich wieder und suchte in der oberen Schublade seines Schreibtischs nach einer Zigarre.

»Respekt gegenüber Vorgesetzten gehört wohl nicht gerade zu Ihren Stärken, Sergeant Hayward, oder?«

fragte er »Und wieso sind Sie so sicher, daß die Sache für Waxie von Vorteil ist?« Er fand eine Zigarre, bohrte mit einem Bleistift ein Loch in ihre Spitze und zündete sie an.

Zwei Stunden später, als D'Agosta gerade die Akten für Waxie zusammensuchte, kam Pendergast in sein Büro geschlendert.

Es war der Pendergast, wie D'Agosta ihn kannte: schwarzer frisch gebügelter Maßanzug, die weißblonden Haare sorgfältig nach hinten gekämmt, rotbraune auf Hochglanz gewienerte Gucci-Mokassins. Wie immer erinnerte er D'Agosta eher an einen modebewußten Bestattungsunternehmer als an einen FBI-Agenten.

»Darf ich?« fragte Pendergast und deutete in Richtung Besucherstuhl.

D'Agosta nickte, und Pendergast ließ sich mit katzenartiger Anmut in den Stuhl sinken. Er sah sich um und entdeckte die Pappkartons mit den Akten und den leeren Fleck an der Wand, wo der Stadtplan gehangen hatte. Mit fragend erhobenen Augenbrauen wandte er sich wieder D'Agosta zu.

»Der Fall gehört jetzt Waxie«, sagte dieser ungefragt. »Soll er sich doch darüber den Kopfzerbrechen. Ich bin nicht mehr der Leiter der Untersuchung.«

»Sie scheinen mir aber nicht allzu unglücklich über diese Wendung der Ereignisse zu sein.«

»Wieso sollte ich auch unglücklich sein?« fragte D'Agosta zurück. »Sehen Sie sich doch mal genau um. Der Stadtplan ist weg, die Akten sind verpackt, Hayward ist nach Hause gegangen, der Kaffee ist heiß, und meine Zigarre brennt. Ich fühle mich ausgezeichnet.«

»Das möchte ich bezweifeln. Aber vermutlich werden Sie heute nacht besser schlafen als unser verehrter Freund Waxie. Schwer ist die Krone dem Kopf, der sie trägt.« Er sah D'Agosta amüsiert an. »Und was machen Sie als nächstes?«

»Na ja, ich bin immer noch für den Fall zuständig. Wie und in welchem Umfang hat Waxie mir allerdings nicht mitgeteilt.«

»Vermutlich weiß er es selber nicht. Aber wir werden schon dafür sorgen, daß Sie nicht hier herumsitzen und Däumchen drehen«, meinte Pendergast und verstummte, während D'Agosta sich in seinem Stuhl zurücklehnte und seine Zigarre ebenso genoß wie die Stille.

»Waren Sie schon mal in Florenz, Vincent?« fragte Pendergast schließlich.

»Nein«, erwiderte D'Agosta. »Aber ich war kürzlich in Italien. Habe mit meinem Sohn letztes Jahr seine Großmutter besucht.«

»Schade. Sie hätten den Palazzo Pitti besuchen sollen.«

»Wen?«

»Das ist ein Kunstmuseum, keine Person. Es gibt dort ein Fresco, das eine Weltkarte darstellt. Es wurde ein Jahr vor der Entdeckung Amerikas gemalt.«

»Ist das wahr?«

»Dort, wo sich Amerika befindet, ist auf der Karte ein weißer Fleck, auf dem folgende Worte zu lesen sind: Cui ci sono dei mostri

D'Agosta verzog das Gesicht »Hier sind die ...«, übersetzte er.

»Was sind mostri

»Monstren.«

»Stimmt. Mein Italienisch ist ganz eingerostet. Dabei habe ich es als Kind viel mit meinen Großeltern gesprochen.«

Pendergast nickte. »Lieutenant, raten Sie doch mal, welches Gebiet der Erde heute am schlechtesten kartographisch erfaßt ist.«

»Keine Ahnung«, antwortete D'Agosta mit einem Achselzucken. »Milwaukee vielleicht?«

»Nicht schlecht«, meinte Pendergast mit einem leisen Lächeln.

»Aber es stimmt nicht. Und es ist auch nicht die Äußere Mongolei oder die Antarktis. Es ist der Untergrund von New York.«

»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?«

»Nichts liegt mir ferner«, grinste Pendergast »Der Untergrund von New York erinnert mich an das Fresco im Palazzo Pitti, Vncent. Er ist ein unerforschtes Gebiet Und er scheint schier unglaubliche Ausdehnungen zu haben. Wußten Sie, daß es allein unter dem Central Park zwölf verschiedene Ebenen gibt – die Kanalisation nicht einmal mitgezählt? Unter der Pennsylvania Station gibt es sogar noch mehr Stockwerke.«

»Dann waren Sie also dort unten?« fragte D'Agosta.

»Ja, und zwar nachdem ich bei Ihnen hier im Revier war. Es war eine Er kundungstour, mehr nicht. Ich wollte mich mit dem Terrain vertraut machen, ausprobieren, wie ich mich im Untergrund zurechtfinden kann. Ich habe mit ein paar von den Tunnelmenschen gesprochen. Sie haben mir viel erzählt und noch mehr angedeutet.«

D'Agosta beugte sich vor. »Haben Sie auch etwas über die Morde erfahren? Pendergast nickte. »Indirekt schon. Aber die, die wirklich etwas darüber wissen, leben in den Ebenen, in die ich mich noch nicht hinunter wage. Es dauert eine Weile, bis man das Vertrauen dieser Leute gewonnen hat. Besonders jetzt, wo viele der Obdachlosen im Untergrund Angst haben.« Pendergast sah D'Agosta aus seinen blassen Augen an. »Hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, daß eine Gruppe von Leuten dort unten die Macht ergreifen will. Manche sprechen nicht einmal von Leuten, sondern von Wilden, Kannibalen oder Untermenschen. Genau sie macht man für die Morde verantwortlich.«

Es entstand eine Pause, in der D'Agosta aufstand, ans Fenster trat und hinaus aufs nächtliche Manhattan blickte. »Und Sie glauben das?« fragte er nach einer Weile.

»Ich weiß nicht so recht«, erwiderte Pendergast. »Zuerst muß ich mit Mephisto reden, dem Anführer der Obdachlosen unter dem Columbus Circle. Meine Nachforschungen haben vieles bestätigt, was er in dem Artikel in der Post gesagt hat. Leider ist er ein Mann, mit dem man nur schwer in Kontakt kommt Er ist mißtrauisch gegenüber Fremden und hallt nichts so sehr wie die Polizei. Aber ich habe irgendwie das Gefühl, daß er der einzige ist, der mich dorthin führen kann, wo ich hin muß.«

»Was dagegen, wenn ich mitkomme?« fragte D'Agosta.

Ein kleines Lächeln huschte über Pendergasts Gesicht. »Da unten ist es extrem gefährlich, Lieutenant. Aber danke für das Angebot, ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Einverstanden?«

D'Agosta nickte.

»Gut. Und jetzt schlage ich vor, daß Sie nach Hause gehen und sich ausschlafen«, sagte Pendergast und stand auf. »Obwohl Freund Waxie es noch nicht weiß, hat er unsere Hilfe nämlich nötiger denn je.«