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Margo betrat durch die Drehtür das siebenundzwanzigste Revier, bog nach links ab und stieg eine lange, steile Treppe hinunter in den Keller. Vor langer Zeit schon hatte man das Geländer abgeschraubt, so daß Margo sich an der schmutzig-gelben Wand abstützen mußte, um auf den glatten Betonstufen nicht auszurutschen.

Trotz der dicken Wände konnte sie bereits von hier aus ein gedämpftes Knallen vernehmen.

Als sie unten eine dick gepolsterte Schallschutz-Tür öffnete, wurde die Knallerei ohrenbetäubend laut. Margo verzog das Gesicht und trat auf den diensthabenden Sergeant zu. Der Mann erkannte sie und winkte ab, als sie ihre Genehmigung aus der Handtasche kramte. »Nehmen Sie Nummer siebzehn«, brüllte er durch den Lärm und gab ihr einen Stapel Zielscheiben und ein Paar abgenutzte Ohrenschützer.

Margo kritzelte ihren Namen und die Uhrzeit in das Buch des Sergeants, dann stülpte sie sich die Ohrenschützer über und ging den Schießstand entlang, vorbei an den oben offenen Kabinen, in denen Polizisten mit ichren Pistolen feuerten, die Zielscheiben auswechselten oder ihre Treffer begutachteten.

Jetzt, am frühen Abend, war eine beliebte Zeit für die vorgeschriebenen Schießübungen, besonders hier auf dem siebenundzwanzigsten Revier, das über den größten und am besten ausgestatteten der zwölf über die ganze Stadt verteilten Polizeischießstände verfügte.

Als Margo an Kabine siebzehn angelangt war, nahm sie ihre Pistole und eine Schachtel Patronen aus ihrer Umhängetasche.

Nachdem sie die Munition auf einem Brett an der Seite der Kabine abgelegt hatte, überprüfte sie ihre Waffe.

Die Handgriffe, die sie vor einem Jahr, als sie die Pistole gekauft hatte, noch als ungewohnt und fremd empfunden hatte, waren ihr inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Zufrieden mit sich selbst schob sie ein volles Magazin in den Griff der Pistole, klemmte eine der Zielscheiben an die Leine und zog sie auf eine Entfernung von zehn Metern aus. Dann nahm sie rasch die Schußhaltung ein, die man ihr beigebracht hatte: rechte Hand am Abzug, linke Hand über die rechte gelegt, Beine leicht gespreizt. Sie zielte über Kimme und Korn, drückte ab und ließ ihre leicht angewinkelten Ellenbogen den Rückstoß abfedern. Dann hielt sie einen Augenblick inne, zielte erneut und verschoß in rascher Folge den Rest des zehn Patronen fassenden Magazins.

Bald kam sie in den üblichen Schießstand-Rhythmus: Laden Zielscheibe austauschen – Feuer. Als sie die Hälfte ihrer Munition verschossen hatte, wechselte sie auf Silhouettenziele in fünfundzwanzig Metern Entfernung.

Als sie auch damit fertig war, bemerkte sie zu ihrer Überraschung, daß Lieutenant D'Agosta mit verschränkten Armen hinter ihr stand und ihr zusah. »Hi«, schrie sie durch das Geknalle und nahm ihre Ohrenschützer ab.

D'Agosta nickte in Richtung Zielscheibe. »Na los, wollen wir mal sehen, wie gut Sie getroffen haben«, brüllte er Margo ins Ohr und wartete, bis sie die Scheibe herangezogen hatte.

»Nicht schlecht!« sagte er anerkennend.

Margo lachte. »Das verdanke ich Ihnen. Wenn Sie mir nicht die Genehmigung verschafft hätten, könnte ich hier nicht üben.« Sie warf die leeren Magazine in ihre Tasche und dachte daran, wie seltsam ihre Bitte D'Agosta damals vorgekommen sein mußte. Fünf Wochen nach dem Tod des Museumsmonsters war sie in sein Büro geplatzt und hatte ihn um einen Waffenschein gebeten – zur Selbstverteidigung, wie sie ihm erklärt hatte. Wie hätte sie ihm auch sagen sollen, daß sie die Waffe brauchte, um die schwelende Angst, die schweißgebadeten Alpträume und das Gefühl der Schutzlosigkeit im Zaum zu halten, die sie seit den Museumsmorden nicht mehr losgelassen hatten?

»Brad hat mir erzählt, daß Sie eine gelehrige Schülerin sind«, sagte D'Agosta. »Aber das hatte ich mir schon gedacht, sonst hätte ich Sie ihm nicht empfohlen. Für die Erteilung Ihres Waffenscheins war übrigens nicht ich zuständig – das hat Pendergast höchstpersönlich in die Hand genommen. Und jetzt zeigen Sir mir doch mal, zu was für einer Waffe Brad Ihnen geraten hat.«

Margo reichte ihm die Pistole. »Es ist eine Baby-Glock, Modell sechsundzwanzig, mit einem speziell modifizierten ›New York‹-Abzug.«

D'Agosta wog die Waffe in der Hand. »Schön leicht. Aber von der Reichweite her ist sie eher was für Kurzsichtige.«

»Ihr Freund Brad war mir eine große Hilfe. Er hat mir das richtige Zielen beigebracht und wie man die verstellbare Kimme richtig einstellt. Ich habe alle meine Schießübungen mit dieser Pistole absolviert. Mit was anderem könnte ich vermutlich gar nicht umgehen.«

»Das möchte ich bezweifeln«, sagte D'Agosta und gab ihr die kleine Waffe zurück. »Wer so gut trifft wie Sie, der kommt mit jeder Kanone zurecht.« Er deutete in Richtung Tür. »Machen wir, daß wir aus diesem Lärm herauskommen. Ich begleite Sie nach oben.«

Am Tisch des diensthabenden Beamten blieb Margo stehen, um sich auszutragen und die Ohrenschützer zurückzugeben.

Zu ihrem Erstaunen setzte auch D'Agosta seine Unterschrift in das Buch. »Haben Sie denn auch geschossen?« fragte sie.

»Warum nicht? Selbst alte Hasen wie ich müssen ab und zu mal üben.« Sie verließen den Schießstand und gingen zur Treppe.

»Bei Fällen wie diesem werden wir alle irgendwie nervös. Besonders nach den Ergebnissen Ihrer Untersuchung. Da ist es gut, wenn man sich davon überzeugt, daß man im Notfall noch halbwegs treffsicher ist.«

Margo gab keine Antwort und stieg rasch die restlichen Stufen der steilen Treppe hinauf. Oben angekommen, blieb sie stehen und wartete, daß D'Agosta nachkam. Er war sichtlich außer Atem, als sie durch die Drehtür hinaus auf die 31st Street traten. Es war ein kühler Abend mit wenig Verkehr. Margo sah auf die Uhr: kurz vor acht Genug Zeit, um nach Hause zu joggen, sich etwas zu essen zu machen und früh ins Bett zu gehen.

»Diese verfluchte Treppe hat bestimmt mehr Herzinfarkte verursacht als sämtliche Sahnetorten in ganz New York«, schnaufte D'Agosta. »Ihnen scheint sie allerdings nicht das geringste Problem zu bereiten.«

Margo zuckte mit den Achseln. »Ich halte mich eben fit«

»Das ist mir nicht entgangen. Sie sind nicht mehr dieselbe Frau wie vor eineinhalb Jahren. Äußerlich zumindest. Was treiben Sie denn für einen Sport?«

»Hauptsächlich Krafttraining. Sie wissen schon: viel Gewicht, wenige Wiederholungen.«

D'Agosta nickte. »Ein paarmal die Woche?«

»Ich trainiere abwechselnd die Muskulatur des Oberkörpers und des Unterleibs. Wenn's geht, halte ich mein Trainingsprogramm ein.«

»Nicht schlecht«, lobte D'Agosta anerkennend. Sie gingen in Richtung auf die Sixth Avenue. »Und es hat gewirkt?«

»Wie bitte?«

»Ob das Training schon gewirkt hat?«

Margo runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte sie, aber dann verstand sie auf einmal, worauf D'Agosta hinauswollte. »Nein«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Jedenfalls nicht ganz.«

»Ich möchte ja nicht aufdringlich wirken«, erklärte D'Agosta und klopfte seine Jackettaschen nach einer Zigarre ab, »aber ich bin manchmal sehr direkt, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten.« Als er eine Zigarre gefunden hatte, holte er sie heraus, wickelte sie aus ihrer Zellophanhülle und riß die Bauderole ab.

»Dieser Mist im Museum geht uns wohl allen ziemlich an die Nieren.«

Als sie die Avenue erreichten, zögerte Margo einen Augenblick. »Tut mir leid«, sagte sie. »Es fallt mir schwer, darüber zu reden.«

»Das weiß ich«, erwiderte D'Agosta. »Und jetzt vermutlich noch viel mehr.« Beide schwiegen, während er seine Zigarre anzündete. »Passen Sie gut auf sich auf, Dr. Green«, Margo lächelte ihn an. »Sie auch, Lieutenant Und noch mal vielen Dank für das da.« Sie klopfte auf ihre Umhängetasche, fing an zu laufen und joggte an den Autos vorbei in Richtung auf die West Side und ihre Wohnung.