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Robert Willson, der Bibliothekar der New York Historical Society, warf dem einzigen Besucher im Kartenraum einen irritierten Blick zu. Ein seltsamer Zeitgenosse war das: schwarzer Anzug, blasse Katzenaugen, das weißblonde Haar streng aus der hohen Stirn nach hinten gekämmt. Und er ging Willson gewaltig auf die Nerven. Den ganzen Nachmittag über hatte er immer wieder neue Karten und Pläne einzusehen verlangt und Willson damit ganz schön in Trab gehalten.
Jedesmal, wenn sich der Bibliothekar an den Computer gesetzt und sich seiner eigenen Arbeit gewidmet hatte – er wollte das Standardwerk über die Fetische der Zuni verfassen –, war dieser Mann zu ihm gekommen und hatte ihm irgendwelche Fragen gestellt.
Auch jetzt stand er wieder auf und kam mit leisen Schritten herüber. »Entschuldigen Sie«, sagte er in seiner höflichen, aber penetranten Südstaatenmanier.
»Was gibt's denn jetzt schon wieder?« fragte Willson barsch und blickte langsam von seinem Bildschirm auf.
»Tut mir leid, daß ich Sie schon wieder stören muß, aber soviel ich weiß, hatten Vaux und Olmstead bei ihrer Planung für den Central Park auch Kanäle vorgesehen, die das dortige Sumpfland entwässern sollten. Könnte ich die Pläne, die sie damals vorgelegt haben, vielleicht einmal einsehen?«
Willson preßte die Lippen aufeinander. »Der Vorschlag wurde von der Parkkommission abgelehnt«, antwortete er, »und sämtliche Unterlagen dafür sind seit langem verschollen. Jammerschade, aber was will man machen?« Willson seufzte und wandte sich wieder seinem Computer zu. Wirklich jammerschade wäre es, wenn er jetzt nicht endlich mit seiner Arbeit vorankäme.
»Verstehe«, sagte der Besucher, obwohl er Willsons Wink mit dem Zaunpfahl eigentlich nicht verstanden hatte. »Aber wie wurde dann der Sumpf tatsächlich trockengelegt?«
Willson lehnte sich genervt zurück. »Das, dachte ich, wäre allgemein bekannt. Über das alte Aquädukt an der 86th Street natürlich.«
»Und gibt es irgendwelche Pläne dafür?«
»Ja«, bestätigte Willson.
»Dürfte ich die bitte mal sehen?«
Willson seufzte abermals, stand auf und öffnete die schwere Tür zum Kartenarchiv. Dahinter ging es so chaotisch zu wie immer. Obwohl der Raum riesengroß war, bekam Willson dort angesichts der wackeligen, vom Boden bis zur Decke reichenden Metallgestelle voller zusammengerollter Karten und alter Blaupausen regelmäßig Be klemmungen. Als er die gewünschten Pläne gefunden hatte und sie aus dem Regal zog, stieg eine kleine Staubwolke auf, die ihn in der Nase kitzelte. Warum müssen die Leute eigentlich immer die ältesten Karten bestellen? fragte er sich, während er an den langen Regalreihen entlang zurück in den Lesesaal ging.
»Da sind sie«, sagte Willson und legte die Pläne auf die Mahagonitheke. Der Mann nahm sie und trug sie zu seinem Tisch, wo er etwas in ein ledergebundenes Notizbuch schrieb. Der Bursche muß eine Menge Geld haben, dachte Willson säuerlich.
So einen Anzug konnte man sich als Professor jedenfalls nicht leisten.
Eine Weile herrschte himmlische Ruhe im Lesesaal, so daß sich Willson ganz seiner Arbeit widmen konnte. Er zog ein paar vergilbte Fotos aus der Schreibtischschublade und machte sich wieder an sein Kapitel über die Bildersprache der verschiedenen Indianerstämme.
Nach ein paar Minuten spürte er, daß der Besucher schon wieder hinter ihm stand. Schweigend drehte Willson sich um.
Der Mann beugte sich über den Schreibtisch und deutete auf eine der Fotografien, die einen ziemlich unscheinbaren Stein mit einer eingeritzten Tierzeichnung zeigte. An den Stein war mit einem Stück Sehne ein dreieckiger Feuerstein gebunden.
»Ich möchte ja nicht aufdringlich sein«, erklärte der Mann, »aber das Tier, das Sie hier als Puma beschreiben, ist in Wirklichkeit ein Grizzlybär.«
Willson blickte in das blasse Gesicht, auf dem ein leises Lächeln lag, und fragte sich, ob sich der Mann wohl einen Scherz mit ihm erlaubte. »Cushing, der diesen Fetisch 1883 gesammelt hat, beschreibt ihn aber eindeutig als Erkennungszeichen des Puma-Klans«, sagte er. »Sie können es gerne nachlesen, wenn Sie mir nicht glauben.« Unglaublich, wer sich heutzutage alles für einen Experten hielt.
»Dann hat Cushing sich geirrt«, behauptete der Mann unbeeindruckt. »Grizzly-Fetische erkennt man daran, daß eine Speerspitze angebunden ist Bei Puma-Fetischen wäre es eine Pfeilspitze.«
»Und worin liegt der Unterschied?« fragte Willson und setzte sich aufrecht hin.
»Ganz einfach: Ein Puma wurde mit Pfeil und Bogen gejagt, ein Grizzly hingegen mit dem Speer. Und nun sehen Sie sich das Stück Feuerstein auf dem Foto mal an. Für eine Pfeilspitze ist es viel zu groß.«
Willson starrte auf das Foto und schwieg.
»Auch Cushing hat ab und zu einen Fehler gemacht«, sagte der Mann mit sanfter Stimme.
Willson nahm die Fotos und legte sie beiseite. »Ehrlich gesagt, ich vertraue Cushing mehr als einem ...« Er ließ den Satz unvollendet »Die Bibliothek schließt in einer Stunde.«
»Wenn das so ist, dann hätte ich noch gerne die Pläne für die Gasleitung, die 1956 in der Upper West Side verlegt wurde.«
Willson preßte die Lippen aufeinander. »Welche genau?«
»Alle, falls das möglich ist«
Das war zuviel. »Tut mir leid«, sagte Willson scharf, »aber das geht nicht. Besucher bekommen grundsätzlich nur zehn Pläne einer Serie ausgehändigt, so ist es nun mal Vorschrift« Der Bibliothekar grinste seinen lästigen Besucher triumphierend an.
Der Mann reagierte nicht auf die Provokation, sondern starrte eine Weile gedankenverloren ins Leere, bevor er seine Augen wieder auf Willson richtete.
»Robert Willson«, sagte er und deutete auf das Namensschild an der Brust des Bibliothekars. Jetzt fällt mir ein, warum mir der Name so vertraut vorkam.«
»Tatsächlich?« fragte Willson verunsichert.
»Aber ja. Oder sind Sie etwa nicht der Robert Willson, der letztes Jahr auf der Konferenz für Navajo-Forschung in Window Rock den ausgezeichneten Vortrag über Bildsteine gehalten hat?«
»Ja, der bin ich«, bestätigte Willson.
»Dachte ich mir's doch. Ich konnte leider nicht selbst nach Window Rock fahren, aber ich habe mir die Protokolle kommen lassen. Ich habe nämlich selbst ein paar private Studien zum Thema religiöse Ikonographie der südwestlichen Stämme betrieben.« Nach einer kurzen Pause fügte der Besucher noch hinzu: »Allerdings bei weitem nicht so ernsthaft wie Sie.«
Willson räusperte sich. »Wenn man sich dreißig Jahre lang einem Thema widmet, läßt es sich wohl nicht vermeiden, daß man einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht«, sagte er dann so bescheiden wie möglich.
Der Besucher lächelte ihn an. »Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Pendergast«
Willson reichte dem Mann die Hand und fand, daß er einen unangenehm laschen Händedruck hatte.
»Es freut mich sehr, Sie bei der Arbeit zu sehen«, erklärte Pendergast. »Die Leute wissen leider immer noch viel zuwenig über die Kultur der Navajos.«
»Da haben Sie recht«, stimmte Willson aus vollem Hetzen zu.
Er fühlte sich durch Pendergasts Worte sehr geschmeichelt.
Noch nie hatte ein Besucher der Bibliothek auch nur das geringste Interesse für seine Arbeit gezeigt, geschweige denn eine intelligente Meinung darüber geäußert. Auch wenn dieser Pendergast nicht allzuviel von indianischen Fetischen verstand, so war er doch ...
»Ich würde ja liebend gerne weiter mit Ihnen plaudern«, sagte Pendergast, »aber ich fürchte, ich habe Ihnen schon viel zuviel von Ihrer wertvollen Zeit gestohlen.«
»Aber nicht doch«, erwiderte Willson. »Was für Karten wollten Sie gleich noch mal haben? Die von der Gasleitung aus dem Jahr sechsundfünfzig?«
Pendergast nickte. »Und noch etwas hätte ich gerne, wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht. Ich habe gehört, daß es Pläne für die noch existierenden Tunnels eines in den zwanziger Jahren konzipierten unterir
dischen Schnellbahnsystems geben soll, das aber nie in Betrieb ging. Stimmt das?«
Willson machte ein langes Gesicht. »Aber das sind über sechzig Pläne ...«
»Verstehe«, sagte Pendergast zerknirscht. »Und das ist gegen die Vorschrift.«
Willson verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. »Na und?« meinte er. »Ich muß es ja schließlich nicht weitersagen. Und vergessen Sie die Öffnungszeiten, ich werde heute noch lange hierbleiben und an meiner Monographie arbeiten. Vorschriften sind schließlich dazu da, daß man sie umgeht, habe ich nicht recht?«
Willson verschwand im Archiv. Zehn Minuten später schob er einen hoch mit Plänen beladenen Aktenwagen zu Pendergasts Arbeitstisch.