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Die kleine metallene Beobachtungskanzel klebte in siebzig Metern Höhe am Abzugskamin Nummer zwölf, einem fußgeschwärzten Ziegelschornstein, der über der Einfahrt zum Lincoln Tunnel in den Himmel ragte.

Dreißig Meter über den Autos, die in einer endlosen Schlange im Maul des Tunnels verschwanden, klammerte sich Pendergast an die Sprossen einer schmalen Eisenleiter und blickte den Kamin entlang nach oben. Bis hinauf zu der Kanzel war es noch ein weiter Weg, und die Leiter, auf der er stand, war alles andere als vertrauenerweckend. An manchen Stellen, wo die Verankerungsbolzen aus den verwitterten Ziegeln gebrochen waren, schwankte sie bereits bedenklich.

Pendergast war froh, als er endlich unterhalb der Beobachtungskanzel angelangt war und am Boden eine runde Klappe mit einem ringförmigen Schließrad entdeckte, das ihn an das Turmluk eines U-Boots erinnerte.

Auf dem Metall der Klappe stand in erhabenen Buchstaben PORT OF NEW YORK AUTHORITY geschrieben.

Die Luft, die durch den Abzugskamin heulte, war fast so laut wie das Röhren eines Düsentriebwerks, und so mußte Pendergast mehrmals an die Klappe klopfen, bevor sie von innen geöffnet und nach oben gezogen wurde.

Pendergast kletterte in die Metallkabine und strich sich seinen Anzug glatt, während der kleine drahtige Mann in Overall und kariertem Hemd, der ihn hereingelassen hatte, die Klappe wieder schloß. Von der Kanzel aus hatte man einen guten Blick auf den Hudson, die Zufahrten zum Lincoln-Tunnel und die große Maschinenhalle, in der mächtige Ventilatoren die Abgase aus dem Tunnel saugten und durch mehrere Kamine in die Luft bliesen.

Der Mann trat von der Klappe zurück und begab sich zu einem Hocker hinter einem Tisch, der einzigen Sitzgelegenheit in dem engen Raum. Er blickte Pendergast an und sagte etwas, doch wegen der Lautstärke der Lüfterturbinen konnte der FBI-Mann kein einziges Wort verstehen.

»Was?« schrie Pendergast, nachdem er ganz nahe an den Mann herangetreten war.

»Ihren Ausweis!« schrie der Mann zurück. »Man hat mir gesagt, Sie hätten einen Ausweis.«

Pendergast holte seinen FBI-Ausweis aus der Jackentasche, den der Mann einer sorgfältigen Überprüfung unterzog.

»Sie sind doch Mr. Albert Diamond, oder?« fragte Pendergast.

»Al«, erwiderte der Mann mit einer unbekümmerten Geste. »Was brauchen Sie?«

»Ich habe mir sagen lassen, daß Sie eine Koryphäe sind, was den Untergrund von New York anbelangt«, erklärte Pendergast.

Diamond sah Pendergast an. Eine seiner Wangen beulte sich aus, als er sich mit der Zunge langsam über die Backenzähne fuhr. »Schätze, da ist was Wahres dran«, sagte er schließlich.

»Wie lange ist es her, daß Sie zum letztenmal im Untergrund waren?«

Diamond hob eine Faust und öffnete sie zweimal hintereinander.

»Zehn?« fragte Pendergast. »Zehn Monate?«

Diamond schüttelte den Kopf.

»Jahre?«

Diamond nickte.

»Warum?«

»Wollte nicht mehr. Hab' mich statt dessen um diesen Job hier beworben.«

»Extra beworben? Interessanter Arbeitsplatz. So weit weg vom Untergrund wie möglich. War das Absicht?«

Diamond zuckte mit den Achseln. Offenbar wollte er die Frage weder bejahen noch verneinen.

»Ich brauche Informationen!« brüllte Pendergast. Es war hier oben einfach zu laut, um eine gepflegte Unterhaltung zu führen.

Diamond nickte, und die Beule an seiner Wange wanderte nach oben, wo seine Zunge jetzt die Zähne des Oberkiefers untersuchte.

»Was wissen Sie von The Devil's Attic

Die Beule blieb plötzlich stehen. Diamond rutschte auf seinem Hocker herum und sagte gar nichts.

»Ich habe gehört, daß es unter dem Central Park mehrere Ebenen von Tunnels gibt«, fuhr Pendergast fort.

»Ungewöhnlich tiefe Ebenen. Sie sollen angeblich der Dachboden des Teufels heißen, aber ich habe diese Bezeichnung bisher auf keinem Plan finden können.«

Eine Minute verging, dann sah Diamond Pendergast an. »Der Dachboden des Teufels?« wiederholte er widerstrebend.

»Wissen Sie, wo das ist?«

Diamond griff in eine Tasche seines Overalls und zog einen Flachmann heraus, der bestimmt nicht mit Wasser gefüllt war.

Er nahm einen langen Zug und steckte die kleine Flasche, ohne Pendergast etwas anzubieten, dann wieder ein. Schließlich sagte er etwas, das der FBI-Agent bei dem Lärm in der kleinen Kabine aber wieder nicht verstehen konnte.

»Was?« schrie Pendergast und rückte noch näher an den Mann heran.

»Ich sagte ja. Ich kenne den Ort.«

»Dann teilen Sie mir bitte mit, was Sie darüber wissen.«

Diamond wandte den Blick von Pendergast und ließ ihn über den Fluß hinüber nach New Jersey schweifen.

»Diese reichen Bastarde«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Diese reichen Bastarde wollten schon damals nichts mit dem gemeinen Volk zu tun haben.«

»Welche reichen Bastarde?« fragte Pendergast.

»Sie wissen schon. Astor. Rockefeller. Morgan. Und wie sie sonst noch alle hießen. Sie haben vor hundert Jahren diese Tunnels graben lassen.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Na, Eisenbahntunnel«, platzte Diamond verärgert heraus.

»Sie haben sich eine private Untergrundbahn bauen lassen. Sie begann in Pelham, lief unter dem Park zum Knickerbocker Hotel und zur Fifth Avenue. Komplett mit luxuriös ausgestatteten Privatbahnhöfen, Wartesälen und allen sonstigen Schikanen.«

»Aber weshalb so tief unten?«

Diamond grinste zum erstenmal während dcs Gesprächs. »Geologie. Sie mußten tiefer graben als die damals schon bestehenden Eisenbahntunnels und die ersten U-Bahnen. Aber unter denen kam erst mal so eine dicke Schicht Scheißstein.«

»Wie bitte?« schrie Pendergast.

»Brüchiger, präkambrischer Sandstein. Wir nennen das Zeug Scheißstein. Wasser- und Abwasserleitungen lassen sich darin ja gerade noch verlegen, aber für Eisenbahntunnels ist es völlig ungeeignet. Deshalb mußten sie so tief hinunter. The Devil’s Attic ist dreißig Stockwerke unter der Erde.«

»Aber warum?«

»Warum? Warum glauben Sie denn?« Diamond sah den FBI-Agenten herausfordernd an. »Diese Geldsäcke wollten nicht von Signalen oder Bahnhöfen aufgehalten werden, an denen die Züge mit den Normalsterblichen hielten. In diesen tiefen Tunnels konnten sie auf direktem Weg die Stadt verlassen und erst wieder in Croton an die Oberfläche kommen. Ohne Aufenthalt und ohne Berührung mit dem einfachen Volk.«

»Aber das erklärt noch lange nicht, weshalb ich nirgends einen Hinweis auf die Existenz solcher Tunnels gefunden habe.«

»Der Bau der Dinger hat ein Vermögen gekostet, und nicht alles davon kam aus den Taschen der Ölbarone.

Die Stadtverwaltung hat diese private U-Bahn kräftig subventioniert. So was hängt man nicht an die große Glocke.«

»Und warum hat man die Tunnels aufgelassen?«

»Nicht zu erhalten. Sie lagen unterhalb aller Abwasser- und Entwässerungsrohre und waren deshalb oft überflutet. Irgendwann wurde es dem reichen Pack zuviel, da haben sie die Stollen dann einfach zumauern lassen. Nicht mal die Maschinen oder die Einrichtung haben sie rausgeholt«

Diamond schwieg, und in der Kanzel war wieder einmal nur das Heulen der Turbinen zu hören.

»Gibt es irgendwelche Pläne zu diesen Stollen?« fragte Pendergast nach einer Weile.

»Pläne?« fragte Diamond und rollte mit den Augen. »Danach habe ich zwanzig Jahre lang gesucht. Es gibt keine Pläne. Alles, was ich über die Tunnels weiß, habe ich von alten Kollegen erfahren.«

»Waren Sie jemals selbst dort unten?« fragte Pendergast.

Diamond zuckte merklich zusammen. Erst nach einem Augenblick nickte er zögerlich.

»Würden Sie mir eine Lageskizze zeichnen?«

Diamond schwieg.

»Jede Kleinigkeit, an die Sie sich erinnern können, wäre mir eine große Hilfe«, sagte Pendergast und hielt dem Ingenieur einen Hundertdollarschein unter die Nase.

Diamond starrte auf die Banknote, als müsse er sich das Angebot gut überlegen. Schließlich nahm er den Schein und ließ ihn zusammengefaltet in der Brusttasche seines Overalls verschwinden. Dann beugte er sich über den Tisch und fing an, etwas auf ein Stück Papier zu kritzeln. Nach und nach entstand die Skizze eines weitverzweigten Tunnelsystems.

»Besser geht's nicht«, erklärte er, als er nach ein paar Minuten fertig war. »Ich habe Ihnen auch den Eingang eingezeichnet, durch den ich damals hineingekommen bin. Südlich des Parks hat man viele Tunnels mit Beton ausgegossen, und im Norden sind sie vor Jahren eingestürzt. Sie müssen sich deshalb bis zum Flaschenhals durchschlagen. Nehmen Sie den Zubringertunnel Nummer achtzehn, der von der alten Hauptwasserleitung aus dem Jahr vierundzwanzig abzweigt.«

»Was ist der Flaschenhals?« wollte Pendergast wissen.

Diamond kratzte sich mit seinem schmutzigen Zeigefinger an der Nase. »Tief unter dem Park gibt es eine Granitschicht im Gestein. Superhartes Zeug, durch das kaum durchzukommen ist. Um Zeit und Dynamit zu sparen, hat man damals nur ein großes Loch hineingesprengt und dann alle Leitungen durchgelegt. Das ist der Flaschenhals. Die Tunnels beginnen direkt darunter. Soweit ich weiß, ist das der einzige Zugang von Süden her – außer natürlich, Sie nehmen eine Taucherausrüstung mit«

Pendergast betrachtete die Karte eingehend. »Vielen Dank, Mr. Diamond«, sagte er. »Meinen Sie, Sie könnten vielleicht mit mir zusammen noch einmal in den Dachboden des Teufels hinuntersteigen und ihn mir zeigen? Natürlich gegen angemessene Bezahlung, versteht sich.«

Diamond nahm einen langen Zug aus seinem Flachmann.

»Kein Geld der Welt bringt mich jemals wieder da runter.«

Pendergast legte den Kopf schief.

»Noch eines«, meinte Diamond. »Nennen Sie die Tunnels nicht den ›Dachboden des Teufels‹. Das ist Maulwurfsprache. Sprechen Sie von den Astortunnels.«

»Wieso Astortunnels?«

»Weil sie Mrs. Astors Idee waren. Es heißt, sie habe ihren Mann dazu überredet, den ersten Privatbahnhof unterhalb ihres Hauses in der Fifth Avenue zu bauen. Und damit fing alles an.«

»Und woher kommt die Bezeichnung ›der Dachboden des Teufels‹?« wollte Pendergast wissen.

Diamond grinste freudlos. »Keine Ahnung. Aber stellen Sie sich doch bloß mal diese Tunnels dreißig Stockwerke unter der Erde vor. Gekachelte Wartesäle mit Wandgemälden, Spiegeln, Sofas und Mosaiken aus buntem Glas. Hydraulische Aufzüge mit Parkettboden und Samtvorhängen. Und dann stellen Sie sich vor, daß dort jahrelang schmutziges Abwasser hereinflutet und das Ganze schließlich ein Jahrhundert lang zugemauert wird.« Er verschränkte die Arme und sah Pendergast an. »Ich weiß nicht, wie Sie das finden, aber für meine Begriffe könnte so der Dachboden der Hölle aussehen..