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Es war die seltsamste Demonstration, die Smithback in den zehn Jahren, die er nun schon in New York lebte, je gesehen hatte. Die Transparente waren von Profis gemalt, das Soundsystem war von allerbester Qualität, und Smithback fühlte sich so schlecht gekleidet wie schon lange nicht mehr.
Die Teilnehmer an der Demonstration stammten ganz klar aus besseren Kreisen: Schmuckbehangene feine Damen aus Central Park South und der Fifth Avenue waren in ihren Designerklamotten ebenso auf die Straße gegangen wie Banker, Börsenmakler und abenteuerlustige junge Leute aus besserem Hause, die geradezu darauf brannten, ihre Zivilcourage unter Beweis zu stellen. Was Smithback aber am meisten erstaunte, war die Anzahl der Demonstranten. Er schätzte sie auf mindestens zweitausend.
Wer auch immer die Demonstration angemeldet hatte, mußte über beträchtlichen politischen Einfluß verfügen, denn sonst hätten die Behörden niemals die Grand Arrny Plaza für die Schlußkundgebung freigegeben und das an einem Werktag mitten in der Rush hour. Hinter den Absperrungen der Polizei und den Kleinbussen der zahlreichen Fernsehteams sah Smithback lange Schlangen ärgerlich hupender Fahrzeuge.
Die hier versammelten Menschen, das stand für Smithback fest, repräsentierten die Macht und den Einfluß der wohlhabenden Bürgerschaft von New York City. Solche Leute gingen normalerweise nicht auf die Straße zum Demonstrieren. Daß sie es nun doch getan hatten, konnten weder der Bürgermeister noch der Polizeipräsident auf die leichte Schulter nehmen, noch irgendwer sonst, der in der Stadt politisch etwas ausrichten wollte.
Mrs. Horace Wisher stand vor dem auf drei mal drei Meter vergrößerten Kinderfoto ihrer Tochter Pamela auf einer großen Holzplattform, die ihre Helfer vor der vergoldeten Siegesstatue an der Kreuzung von Central Park South und der Fifth Avenue errichtet hatten. Ihre klar elektronisch verstärkte Stimme dröhnte aus vielen Lautsprechern zugleich.
»Wie lange?« fragte sie die vor dem Podium versammelte Menge. »Wie lange wollen wir es noch zulassen, daß diese unsere Stadt jeden Tag ein bißchen mehr stirbt? Wie lange wollen wir es noch tolerieren, daß man unsere Töchter und Söhne tötet, unsere Brüder und Schwestern, unsere Eltern und Großeltern? Wie lange wollen wir noch in ständiger Angst leben?« Sie blickte herausfordernd hinunter in die Menge, aus der ein empörtes Gemurmel zu ihr aufstieg.
»Meine Vorfahren kamen vor dreihundert Jahren in diese Stadt«, fuhr Mrs. Wisher in etwas ruhigerem Ton fort. »Seit damals, als New York noch New Amsterdam hieß, hat meine Familie hier ihr Zuhause. Und es war ein gutes Zuhause, bis weit in unser Jahrhundert hinein. Ich kann mich noch daran erinnern, daß ich als kleines Mädchen mit meiner Großmutter im Central Park spazierenging. Damals konnten wir Kinder auch nach Einbruch der Dunkelheit von der Schule allein nach Hause laufen, und niemand sperrte nachts seine Haustür ab. Diese Zeiten sind heute leider vorbei.«
Mrs. Wisher wartete, bis die zustimmenden Rufe der Demonstranten verebbt waren, und fuhr dann fort »Was ist nur mit NewYork geschehen? Warum hat niemand verhindert, daß sich Drogen und Verbrechen in dieser Stadt breitgemacht haben? Wie viele Mütter müssen denn eigentlich noch ihre Kinder verlieren, bis wir endlich sagen: ›Stopp! Bis hierher und nicht weiter!‹?«
Als Mrs. Wisher vom Mikrophon zurücktrat, um sich zu sammeln, brandete in der Menge wütendes Geschrei auf. Diese Frau ist eine geborene Rednerin, dachte Smithback, der alles mit seinem Diktiergerät aufzeichnete und schon wieder eine Titelgeschichte witterte.
»Die Zeit ist gekommen«, ließ sich nach einer kurzen Pause Mrs. Wisher erneutvernehmen, »um uns die Stadt zurückzuerobern, sie zurückzuerobern im Namen unserer Kinder und Enkelkinder. Und wenn wir dazu alle Drogendealer auf den elektrischen Stuhl bringen oder eine Milliarde Dollar in den Bau neuer Gefängnisse stecken müssen, dann ist das eben notwendig. Schließlich befinden wir uns mitten in einem Krieg, einem Krieg den das Verbrechen gegen uns führt. Und wenn Sie mir das nicht glauben, dann sehen Sie sich doch einmal die Kriminalstatistik dieser Stadt an. Eintausendneunhundert Morde hat es hier im vergangenen Jahr gegeben, das sind fünf Morde am Tag. Stellen Sie sich das einmal vor: Fünf Menschen sterben täglich hier in New York einen gewaltsamen Tod! Wenn das kein Krieg ist, meine Freunde! Und es ist ein Krieg, den wir verlieren werden, wenn wir nicht auf der Stelle mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, zurückschlagen. Wir müssen unsere Stadt vom Verbrechen säubern, und zwar Straße für Straße, Block für Block, vom Battery Park bis zu den Cloisters, von der East End Avenue bis zum Riverside Drive!«
Das wütende Geschrei war immer stärker angeschwollen, und Smithback bemerkte, wie die jüngeren Männer silberne Flachmänner und kleine Flaschen mit Whiskey kreisen ließen. Die Jungbanker trinken sich wohl Mut an, dachte er.
Auf einmal trat Mrs. Wisher auf dem Podium einen Schritt nach vorn und deutete in die Menge. Smithback folgte ihrem ausgestreckten Arm und sah, daß sich hinter einer der Absperrungen etwas tat. Eine große schwarze Limousine war vorgefahren, und der Bürgermeister, ein kleiner, halb kahler Mann im dunklen Anzug stieg aus und machte sich in Begleitung mehrerer Polizisten auf den Weg zum Podium. Offenbar hatte er die Größe der Demonstration zunächst unterschätzt und beeilte sich nun, den Leuten zu zeigen, daß er ihre Probleme ernst nahm.
»Da ist der Bürgermeister von New York«, rief Mrs. Wisher ins Mikrophon. »Er ist wohl gekommen, um zu uns zu sprechen.«
Aus der Menge tönten empörte Rufe.
»Aber wir wollen keine weiteren Sonntagsreden. Wir wollen endlich Taten sehen, Herr Bürgermeister!« schrie Mrs. Wisher.
Die Demonstranten stimmten ihr jubelnd zu.
»Taten!« wiederholte sie. »Nicht Worte!«
»Taten!« brüllte die Menge. Die jungen Männer fingen gellend an zu pfeifen. Der Bürgermeister hatte inzwischen das Podium erreicht und stieg hinauf. Nachdem er der Menge lächelnd zugewunken hatte, ging er auf Mrs. Wisher zu und bat sie offenbar um das Mikrophon. Mrs. Wisher trat einen Schritt zurück. »Wir haben genug von Ihren leeren Versprechungen, Herr Bürgermeister«, rief sie. »Genug von Ihrem Bockmist!« Mit diesen Worten riß sie den Stecker des Mikros aus der Verstärkeranlage, stieg von der Plattform und ließ den vollkommen verdatterten Bürgermeister, dem sein aalglattes Lächeln auf dem Gesicht eingefroren war, einfach allein stehen. Ohne Mikrophon hatte er keine Chance, sich gegenüber der tobenden Menge Gehör zu verschaffen.
Mrs. Wishers harsche Worte hatten die Stimmung zum Kochen gebracht. Mit einem immer lauter anschwellenden Geräusch, das sich anhörte wie das Brüllen eines großen wütenden Tieres, drängten die Demonstranten auf die Plattform zu. Smithback spürte, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief.
Die Menge wurde immer bedrohlicher. Schon flogen die ersten Whiskeyflaschen in Richtung Podium; eine davon zerschellte keine zwei Meter vom Bürgermeister entfernt. Von hinten drängten sich jetzt die angetrunkenen jungen Männer laut rufend und johlend durch die Menge. Worte wie »Arschloch«, »Schwuchtel«, »liberaler Scheißer« wurden dem Bür germeister ebenso entgegengeschleudert wie weitere Wurfgeschosse, bis seine Leibwächter, die jetzt offenbar einsahen, daß hier nichts mehr zu holen war, ihn vom Podium geleiteten und zu seinem Auto brachten.
Interessant, dachte Smithback, wie sich auch die Oberschicht in einen tobenden Mob verwandeln läßt.
Allerdings hatte er auch noch nie eine so effektive Hetzrede gehört wie die von Mrs. Wisher. Als die Wut der Demonstranten verrauchte und die Menge sich langsam zerstreute, suchte sich Smithback eine Parkbank, auf der er seine Eindrücke in ein Notizbuch kritzelte, solange sie noch frisch waren. Dann sah er auf die Uhr. Es war halb sechs. Smithback stand rasch auf und trottete in nordwestlicher Richtung quer durch den Park. Er mußte noch jemanden abpassen.