23
D’Agosta ging mit großen Schritten die West 63rd Street entlang und hoffte, daß ihn niemand erkannte. Jetzt, wo er sich dem Hudson näherte, waren die größeren Wohnblöcke längst gepflegten Klinkerbauten gewichen, an denen er mit gesenktem Blick vorbeieilte. Ein paar Schritte vor ihm schlurfte Special Agent Pendergast, dessen Verkleidung als Penner wieder einmal bis hin zu seinen Ausdünstungen perfekt war.
»Genau so habe ich mir meinen freien Nachmittag vorgestellt«, murmelte D'Agosta.
Obwohl es ihn an vielen Stellen seines Körpers juckte, unterließ er es, sich zu kratzen, denn dazu hätte er den schmierigen alten Regenmantel anfassen müssen, mit dem Pendergast ihn ausstaffiert hatte. D'Agosta fragt e sich, wo der FBI-Agent die Sachen bloß herhatte, von dem billigen karierten Polyesterhemd über die speckig glänzenden, abgewetzten Hosen bis hin zu den ausgelatschten Schuhen, vor denen es D'Agosta besonders ekelte.
Zu D'Agostas Leidwesen war auch der Schmutz an seinem Gesicht und seinen Händen echt und nicht aus dem Schminktopf. »Vincent, Ihr Leben hängt davon ab, daß Sie überzeugend wirken«, hatte Pendergast erwidert, als sich D'Agosta wegen dieser Verkleidung bei ihm beschwert hatte.
Der FBI-Agent hatte ihn nicht einmal seinen Revolver und seine Polizeimarke mitnehmen lassen. »Ich möchte Ihnen lieber nicht sagen, was die mit Ihnen anstellen, wenn man so etwas an Ihnen findet«, hatte Pendergast angedeutet. Diese ganze Unternehmung ist von vorn bis hinten ein Verstoß gegen sämtliche Dienstvorschriften, dachte D'Agosta, während er mürrisch hinter Pendergast hertrottete.
Als er einmal kurz aufblickte, sah er eine Frau auf sich zukommen. Sie trug ein frisch gebügeltes Sommerkleid und Stöckel-Schuhe und führte einen kleinen Chihuahua an der Leine.
Sobald die Frau auf gleicher Höhe mit den beiden vermeintlichen Pennern war, blieb sie stehen und sah angewidert zur Seite. Als Pendergast an ihr vorbeiging, sprang der Hund auf ihn zu und brach in ein schrilles, piepsig klingendes Gekläff aus. Pendergast machte einen Schritt zur Seite, woraufhin der Hund seine Anstrengungen verdoppelte und wie verrückt an seiner Leine zerrte.
Obwohl sich D'Agosta in seinem Outfit extrem unbehaglich fühlte – oder vielleicht auch gerade deshalb –,wurde er immer wütender, je länger er in das blasiert angewiderte Gesicht der Frau schaute. Woher nahm diese Zimtzicke eigentlich das Recht, auf andere Menschen herabzusehen? Als er an ihr vorbeiging, blieb er kurz stehen. »Schönen Tag noch«, knurrte er und reckte ihr herausfordernd sein Kinn entgegen.
Die Frau machte einen Satz zurück. »Lassen Sie mich in Ruhe, Sie Widerling«, kreischte sie. »Geh bloß nicht zu ihm hin, Petit Choul«
Pendergast packte D'Agosta am Arm und zerrte ihn um die Ecke in die Columbus Avenue. »Sind Sie verrückt geworden?« zischte er leise, während er den Lieutenant rasch mit sich fortzog. »Hilfe! Polizei!« schrie die Frau hinter ihnen her.
»Diese Rüpel haben mich bedroht!«
Nachdem sie einen halben Block entlanggehastet waren, verschwand Pendergast in einer Einfahrt, wo er vor zwei in den Boden eingelassenen Stahlplatten über einem Notausstieg der U-Bahn in die Hocke ging. Mit einem kleinen Haken zog er die beiden Platten zur Seite und deutete auf eine Reihe nach unten führender Eisenstufen. »Da hinein«, sagte er zu D'Agosta.
Dann folgte er dem Lieutenant hinab in die Dunkelheit, nicht ohne die Platten wieder zu verschließen. Am Fuß der Treppe befanden sich zwei Bahngleise, die vom Licht, das durch einen Gitterrost sickerte, schwach erhellt wurden. Pendergast und D'Agosta überquerten sie rasch. Auf der anderen Seite war ein Durchgang zu einer weiteren Treppe. Nachdem sie diese, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinuntergerannt waren, blieb Pendergast stehen.
Am Fuß der Treppe war es stockdunkel. Die beiden schnauften durch, dann schaltete Pendergast eine kleine Taschenlampe an und kicherte leise vor sich hin. »›Schönen Tag noch‹ ... Was für ein Teufel hat Sie denn da geritten, Vincent?«
»Gar keiner. Ich wollte bloß freundlich sein, das war alles«, verteidigte sich D'Agosta.
»Ihre Freundlichkeit hätte um ein Haar das Aus für unsere kleine Expedition bedeute t, und zwar noch bevor sie überhaupt richtig angefangen hat. Denken Sie bitte in Zukunft daran, daß ich Sie nur zur Tarnung mitgenommen habe. Dieser Mephisto wird nur mit mir reden, wenn ich mich als Anführer einer anderen Untergrundgemeinde ausgebe, und so jemand ist nie ohne seinen Adjutanten unterwegs.« Pendergast leuchtete mit seiner Taschenlampe in einen engen Seitengang. »Dieser Tunnel führt nach Osten in Mephistos Territorium.«
D'Agosta nickte.
»Und denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe: Überlassen Sie das Reden mir, und vergessen Sie, daß Sie Polizist sind. Was auch immer geschieht, greifen Sie, um Himmels willen, nicht ein.«
Pendergast griff in eine Tasche seines abgerissenen Trenchcoats und zog zwei weiche Wollhüte hervor. »Hier, setzen Sie den auf«, safte er und reichte D'Agosta einen.
»Warum?«
»Weil eine Kopfbedeckung die Gesichtsform verändert. Wenn wir fliehen müssen, können wir die Hüte absetzen und damit unseren Wiedererkennungswert entscheidend verringern. Denken Sie daran, daß unsere Augen nicht an die Dunkelheit gewöhnt sind. Das ist ein großer Nachteil gegenüber den Maulwürfen.« Mit diesen Worten griff Pendergast noch einmal in seine Tasche und holte einen kleinen Gegenstand hervor, den er in seinen Mund nahm.
»Was, zum Teufel, ist denn das?« fragte D'Agosta, während er sich den Hut aufsetzte.
»Das ist ein Gaumeneinsatz aus Gummi, mit dem ich das Resonanzverhalten meines Rachens verändern kann. Wie Sie ja wissen, laufen hier unten eine Menge Schwerkriminelle herum. Ich habe im vergangenen Jahr auf Riker's Island für das FBI Persönlichkeitsprofile von einigen Mördern angefertigt. Ein paar von ihnen sind inzwischen ausgebrochen, und es könnte durchaus sein, daß sie im Untergrund Zuflucht gesucht haben.
Ich möchte nicht das Risiko eingehen, daß sie mich an meiner Stimme wiedererkennen, Pendergast machte eine abwehrende Handbewegung. »Wenn man sich wirklich verkleiden will, Vincent, dann genügt es nicht, nur seine äußere Erscheinung zu verändern. Man muß sich auch eine andere Haltung, eine andere Gangart und sogar die eine oder andere Macke antrainieren. Ihre Aufgabe bei unserer Unternehmung ist da bedeutend einfacher zu bewerkstelligen. Sie müssen bloß den Mund halten, sich möglichst unauffällig benehmen und meinen Instruktionen folgen. Auf gar keinen Fall dürfen Sie sich in irgendeiner Weise hervortun. Haben Sie verstanden?«
D'Agosta nickte.
»Wenn wir Glück haben, bringt uns Mephisto einen Schritt weiter. Vielleicht gelingt es uns ja sogar, Spuren von den Morden zu finden, die er der Past geschildert hat, und damit auch das zusätzliche Beweismaterial, das wir so dringend benötigen.« Pendergast hielt kurz inne. »Gibt es eigentlich schon neue Spuren im Mordfall Brambell?« wollte er dann wissen. Er trat einen Schritt vor und leuchtete in den Tunnel hinein.
»Nein«, antwortete D'Agosta. »Waxie und Horlocker glauben, daß der Mörder ihn willkürlich gewählt hat. Ich allerdings frage mich, ob sein Tod nicht doch etwas mit seiner Arbeit zu tun hatte.«
Pendergast nickte. »Eine interessante Theorie.«
»Immerhin stand er ja kurz davor, die Identität des zweiten Skeletts herauszufinden. Vielleicht wollte das jemand verhindern.«
Pendergast nickte abermals. »Ich muß gestehen, daß ich ziemlich verblüfft war, als ich erfuhr, daß es sich bei dem Toten um Kawakita handelt. Das eröffnet eine ganz neue und ziemlich beunruhigende Perspektive. Außerdem bedeutet es meiner Meinung nach, daß wir für den Schutz von Dr. Frock und Dr. Green und den der anderen Wissenschaftlern sorgen sollten.«
D'Agosta verzog das Gesicht. »Genau das habe ich heute früh Chief Horlocker vorgeschlagen, aber er meinte, sie bräuchten keinen Polizeischutz. Er glaubt, daß Kawakita irgendwie mit Pamela Wisher in Verbindung stand und zufällig bei ihr war, als sie ermordet wurde. Seine einzige Sorge war, daß davon nichts in die Presse gelangt, zumindest nicht, bevor Kawakitas Familie unterrichtet worden ist. Aber das ist wahrscheinlich sowieso egal, denn soweit ich mich erinnere, war Kawakita ein Waisenkind. Waxie ist übrigens in Horlockers Büro herumstolziert wie ein Pfau und hat getönt, ich solle wenigstens diesmal dafür sorgen, daß die Nachrichtensperre auch wirklich eingehalten wird.«
»Und wie haben Sie reagiert?«
»Ich habe ihm gesagt, er könne mich mal kreuzweise. Mit höflicheren Worten, natürlich. Vor diesem Treffen war ich noch der Meinung gewesen, wir sollten Frock und Green nicht unnötig beunruhigen, aber danach habe ich die beiden angerufen und ihnen geraten, in nächster Zeit besonders vorsichtig zu sein.«
»Haben sie denn schon den Grund für die seltsamen Deformationen an Kawakitas Knochen herausgefunden?«
»Nein, bisher noch nicht«, murmelte D'Agosta geistesabwesend.
Pendergast drehte sich um und sah ihn an. »Stimmt was nicht?« fragte er.
»Doch, doch. Es ist nur wegen Dr. Green. Ic h weiß nicht so recht, wie sie meine Warnung aufgenommen hat.
Immerhin war es meine Idee, sie und Frock bei der Untersuchung hinzuzuziehen. Frock war so bärbeißig wie immer, aber Margo ...«
D'Agosta hielt inne. »Sie wissen ja, wie sie auf die Museumsmorde reagiert hat. Sie joggt täglich, macht Krafttraining und schleppt immer eine Pistole mit sich herum.«
»Das ist keineswegs ungewöhnlich bei einer posttraumatischen Streßsimation«, meinte Pendergast.
»Menschen, die schreckliche Erlebnisse hinter sich haben, wollen für den Fall, daß ihnen so etwas noch einmal widerfährt, besser gewappnet sein. Meiner Meinung nach ist das eigentlich sogar eine recht gesunde Reaktion. Ehrlich gesagt, ich kann mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen als das, was Dr. Green und ich vor eineinhalb Jahren gemeinsam durchgemacht haben«, fügte er mit einem grimmigen Grinsen an. »Immerhin kam das Mbwun-Monster in dem dunklen Museumskorridor direkt auf uns zu, und wenn ich es nicht mit einem Schuß ins Auge erlegt hätte, dann ...«
Er ließ den Satz unvollendet.
»Stimmt«, sagte D'Agosta, »aber ich finde trotzdem, daß Margo übertreibt. Wollen wir bloß hoffen, daß sie jetzt nicht hysterisch wird und durchdreht Hoffentlich habe ich keinen Fehler begangen, als ich sie zu dem Fall hinzuzog.«
»Nein, bestimmt nicht, Vincent. Und jetzt, wo wir wissen, daß es sich bei dem unbekannten Skelett um Kawakita handelt, brauchen wir Dr. Greens Sachverstand um so mehr. Ich nehme doch an, daß Sie versuchen werden, Kawakitas letzten Aufenthaltsort herauszufinden.«
D'Agosta nickte.
»Vielleicht sollten Sie sich von Dr. Green dabei helfen lassen«, schlug Pendergast vor, während er weiterhin die Wände des Tunnels ableuchtete. Dann spähte er in die Dunkelheit, die vor ihnen lag, und fragte: »Na, wie steht's, Vincent? Sind Sie bereit?«
»Ich denke schon. Aber eine Frage hätte ich noch: Was machen wir eigentlich, wenn wir angegriffen werden?«
»Man wird uns nicht angreifen. Wenn man die nötigen Tauschwaren dabeihat, kann man die Leute bei Laune halten«, entgegnete Pendergast mit einem leisen Lächeln.
»Doch nicht etwa Drogen?« fragte D'Agosta ungläubig.
Pendergast nickte und öffnete seinen Trenchcoat. Im Schein der Taschenlampe sah D'Agosta, daß er mehrere kleine Taschen in das speckige Futter eingenäht hatte.
»Fast jeder hier unten war einmal nach der einen oder anderen Substanz hier süchtig oder ist es noch immer«, sagte Pendergast und deutete auf die vielen kleinen Abteilungen. »Ich trage hier einen regelrechten Giftschrank mit mir herum: Crack, Kokain, Methylphenidylat, Carbrital und Seconal. Dieses Zeug kann uns das Leben retten, Umcent. Diese Erfahrung habe ich schon bei meinem ersten Ausflug hierher gemacht«
Pendergast griff in eine der kleinen Taschen und holte eine längliche schwarze Kapsel hervor. »Biphetanrin«, erklärte er.
»Hier im Untergrund besser bekannt als ›Black Beauty‹«
Er sah sich die Kapsel einen Augenblick lang nachdenklich an, dann steckte er sie sich in den Mund.
»He, was machen Sie denn da?« ereiferte sich D'Agosta, aber Pendergast brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Es genügt nicht, die Rolle zu spielen«, flüsterte er. »Man muß sie leben. Dieser Mephisto ist allem Anschein nach ein extrem vorsichtiger und mißtrauischer Mann, den keiner so leicht hinters Licht führt. Das dürfen Sie keinen Augenblick lang vergessen, Vincent«
D'Agosta sagte nichts mehr. Ihm wurde klar, daß sie sich nun wirklich außerhalb der Gesellschaft und jenseits von Recht und Ordnung befanden.
Er folgte Pendergast in den Seitentunnel, in dem ein aufgelassener Schienenstrang in die Dunkelheit führte.
Immer wieder blieb Pendergast stehen und sah auf eine mitgebrachte Skizze.
D'Agosta war überrascht, wie schnell er selbst jegliche Orientierung und sogar sein Zeitgefühl verloren hatte.
Auf einmal deutete Pendergast auf einen rötlichen Lichtpunkt, der etwa hundert Meter vor ihnen in der Dunkelheit auftauchte. »Ein Feuer mit Menschen«, flüsterte der FBI-Agent »Vermutlich eine kleine Gruppe aus den oberen Stockwerken, die am Rand von Mephistos Machtbereich lebt.« Er starrte eine Weile auf das flackernde Licht, dann wandte er sich an D'Agosta. »Sind Sie bereit für ein kleines Kamingespräch, Vincent?«
fragte er den Lieutenant und ging, ohne dessen Antwort abzuwarten, auf das Feuer zu. D'Agosta folgte ihm.
Als sie näher kamen, bemerkte D'Agosta im Licht der Flammen etwa ein Dutzend auf dem Boden kauernde oder auf alten Kisten hockende Gestalten. Pendergast trat in den Kreis und setzte sich direkt neben das Feuer, in dessen Glut eine rußgeschwärzte dampfende Kaffeekanne stand. Zunächst schenkte ihm niemand Beachtung; erst als er aus einer Tasche seines Mantels eine Halbliterflasche billigen Rotwein hervorzog, richteten sich alle Augen auf ihn.
Pendergast drehte den Schraubverschluß auf, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und hielt sie zufrieden seufzend in die Runde. »Noch jemand?« fragte er und drehte das Etikett so ins Licht, daß die anderen es lesen konnten. D'Agosta traute seinen Ohren kaum. Die Stimme des FBI Agenten hatte sich vollkommen verändert. Pendergast sprach mit schwerer Zunge in breitestem Brooklyn-Akzent. In dem unruhig flackernden Licht wirkten seine bleiche Haut und seine blassen Augen irgendwie unheimlich und bedrohlich.
»Gib her«, sagte der Mann, der neben Pendergast auf einer Obstkiste saß. Er packte die Pulle und führte sie an seine Lippen. D'Agosta horte ein langgezogenes glucksendes Geräusch, und als der Mann Pendergast die Flasche zurückgab, fehlte gut ein Viertel ihres Inhalts. Der FBI-Agent reichte sie nun nach der anderen Seite weiter, und nach ein paar Stationen war die Flasche leer. Einer der Männer murmelte etwas, das wie ein Dankeschön klang.
D'Agosta, der sich neben Pendergast niedergelassen hatte, war froh, daß der Rauch des Feuers in seine Richtung wehte und so den Gestank nach altem Männerschweiß, billigem Fusel und abgestandenem Urin ein wenig überlagerte.
»Ich suche Mephisto«, sagte Pendergast nach einer kurzen Pause.
Sofort wurden die Gestalten merklich unruhig, und D'Agosta spürte, wie ihm und Pendergast eine Welle des Mißtrauens entgegenschlug. »Wer will das wissen?« fragte schließlich der Mann, der als erster aus Pendergasts Pulle getrunken hatte, in einem feindseligen Ton.
»Ich, wenn du nichts dagegen hast«, antwortete Pendergast genauso unfreundlich.
Nach einer kurzen Stille, in welcher er Pendergast eingehend musterte, sagte der Mann: »Verpiß dich, du Wichser.«
Pendergast reagierte so rasch, daß selbst D'Agosta erschrak.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte er den Mann mit dem Gesicht nach unten auf den Schotter geworfen und drückte ihm einen Fuß ins Genick.
»Scheiße!« jaulte der Mann.
»Niemand nennt Whitey einen Wichser«, zischte Pendergast und trat ein wenig fester zu.
»Ist ja gut, Manni! War ja nicht so gemeint«
Pendergast hob seinen Fuß ein wenig an. »Also, wo finde ich Mephisto?«
»In der Route 666.«
»Und wo ist das?«
»Hör auf, Mann, du tust mir weh! Geh Gleis hundert entlang bis zum alten Generator. Da gibt es eine Leiter, die hinunter zu einem Laufsteg führt, auf dem kommst du hin.«
Pendergast ließ den Mann los, der sich aufrappelte und seinen Hals rieb. »Aber nimm dich in acht. Mephisto mag keine Fremden«, sagte er.
»Ich habe geschäftlich mit ihm zu reden.«
»Über was?«
»Über die Wrinkler.«
Selbst in der Dunkelheit konnte D'Agosta noch erkennen, wie ein Ruck durch die Gruppe ging. »Was ist mit ihnen?« fragte eine neue Stimme scharf.
»Das geht nur Mephisto und mich etwas an«, antwortete Pendergast und nickte D'Agosta zu. Sie traten aus dem Kreis und gingen weiter den Tunnel entlang. Als das Licht des Feuers nur noch ein winziger Funken in der Ferne war, schaltete Pendergast seine Taschenlampe wieder ein.
»Hier unten darf man keine Respektlosigkeit dulden«, murmelte er leise. »Nicht einmal bei einer relativ harmlosen Gruppe wie dieser. Wenn die auch nur die geringste Schwäche spüren, ist man schon so gut wie tot.«
»Das haben Sie ziemlich gut gemacht.«
»Mit einem Betrunkenen hat man leichtes Spiel. Bei meinem letzten Besuch hier unten habe ich herausgefunden, daß auf den oberen Ebenen hauptsächlich Alkohol konsumiert wird, und diese Gestalten eben haben mir das voll bestätigt. Nur der dürre Kerl ganz am Rand hat sich irgendwelches Zeug gespritzt, vermutlich Fentanyl. Haben Sie bemerkt, wie er sich ständig gekratzt hat? Das ist typisch für diese Droge.«
Der Tunnel teilte sich, und Pendergast zog seinen Plan zu Rate, bevor er sich für die linke Abzweigung entschied. »Die müßte uns eigentlich direkt zu Gleis hundert führen«, sagte er und ging los. D'Agosta schlurfte ihm schweigend hinterher.
Nach einem nicht enden wollenden Marsch blieb Pendergast wieder stehen und leuchtete auf eine riesige verrostete Maschine, die D'Agosta an einem meterhohen Antriebsrad und dem halb vermoderten Transmissionsriemen auf dem Boden davor als den Generator erkannte, von dem der Mann am Feuer gesprochen hatte.
Daneben führte eine rostige Wendeltreppe in die Tiefe. Sie endete in einem Laufsteg, der unter der Decke eines alten Tunnels entlanglief. D'Agosta bückte sich unter einem alten kalkverkrusteten Rohr und folgte Pendergast auf den wackeligen Steg, an dessen Ende der FBI-Mann eine mit Scharnieren befestigte Eisenplatte hochklappte und eine Sprossenleiter nach unten stieg. An ihrem Fuß befand sich ein nicht ausgebauter Tunnel, in dem noch Schotterhaufen und Stapel nicht verlegter Schienen lagen. Zwar konnte D'Agosta die Überreste mehrerer Lagerfeuer entdecken, doch schien der Tunnel jetzt menschenleer.
»Sieht so aus, als müßten wir da runter«, sagte Pendergast und leuchtete auf ein Loch am Ende des Tunnels.
Ein grob aus dem Fels gesprengter Schacht, dessen Wände von unzähligen Händen und Füßen schon ganz glattpoliert waren, führte schräg nach unten, von wo ein beißender Geruch heraufwehte.
D'Agosta stieg als erster hinab und hatte an manchen Stellen seine liebe Mühe, sich an den Vorsprüngen des feuchten, glitschigen Basalts festzukrallen. Nach schrecklichen fünf Minuten war er endlich unten und hatte das Gefühl, im felsigen Urgestein der Insel Manhattan gefangen zu sein.
»Würde mich mal interessieren, wie diese zugedröhnten Junkies da hinaufkraxeln«, murmelte er, als Pendergast neben ihm ankam. Die Muskeln seiner Oberarme zitterten noch immer von der Anstrengung.
»Von hier unten kommt niemand mehr nach oben«,bemerkte Pendergast »Außer natürlich die Läufer.«
»Was für Läufer?«
»Soviel ich weiß, sind das die einzigen Mitglieder einer Untergrundgemeinde, die noch Kontakt mit der Oberfläche haben. Sie holen Wohlfahrtschecks ab und lösen sie ein, organisieren Lebensmittel, Medikamente und Drogen und verdienen sich ein paar Cents mit dem Aufsammeln von leeren Dosen und Pfandflaschen.«
Pendergast leuchtete mit seiner Taschenlampe herum. Sie standen in einer Höhle mit grob behauenen Felswänden, an deren einem Ende ein an die zwei Meter langes Stück Wellblech eine Tunnelöffnung verdeckte.
An der Wand daneben stand mit kruden Buchstaben:
NUR FÜR DIE FAMILIE. VERBOTEN FÜR ALLE ANDEREN.
Pendergast packte das Blech und zog es mit einem lauten, kreischenden Geräusch zur Seite. »Das ist wohl die Türglocke«, meinte er lakonisch.
Kaum hatten er und D'Agosta den Tunnel betreten, da kam auch schon eine abgerissen aussehende Gestalt mit einem brennenden Holzscheit in einer Hand auf sie zu. Der Mann war groß und erschreckend mager.
»Wer seid ihr?« fragte er und baute sich vor Pendergast auf.
»Bist du der Heckschütze?« wollte Pendergast wissen.
»Raus!« entgegnete der Mann und drängte ihn und D'Agosta zurück in Richtung Wellblechtür. Als die beiden wieder draußen im Tunnel standen, sagte er: »Mein Name ist Flint. Was wollt ihr?«
»Ich bin hier, um mit Mephisto zu sprechen«, antwortete Pendergast.
»Weshalb?«
»Ich bin derAnführer von Grant's Tomb, einer neuen Gemeinde unter der Columbia Universität. Ich möchte mit ihm über die Morde reden.«
Flint schwieg eine Weile, dann fragte er mit einem Blick hinüber zu D'Agosta: »Und wer ist der da?«
»Das ist mein Läufer.«
»Habt ihr Waffen oder Drogen dabei?« fragte Flint.
Im flackernden Schein der Fackel nahm Pendergasts Gesicht einen verlegenen Ausdruck an. »Waffen haben wir keine«, antwortete er, »aber ich habe einen kleinen persönlichen Vorrat an ...«
»Bei uns sind Drogen nicht gestattet«, erklärte Flint »Wir sind eine saubere Gemeinde.«
Was für ein Bockmist, dachte D'Agosta, als er die geröteten Augen des Mannes sah.
»Tut mir leid«, sagte Pendergast, »aber ich gebe meine Sachen nicht her. Wenn das ein Problem ist, dann...«
»Was hast du denn?« wollte Flint wissen.
»Das geht dich nichts an.«
»Koks?« D'Agosta glaubte, in der Stimme des Mannes einen erwartungsvollen Unterton zu vernehmen.
»Erraten«, erwiderte Pendergast nach einer kurzen Pause.
»Das muß ich konfiszieren.«
»Betrachte es als ein Geschenk von mir an dich«, sagte Pendergast und hielt Flint ein kleines Briefchen aus gefalteter Alufolie hin. Der Mann griff rasch danach und ließ es unter seinem Mantel verschwinden.
»Folgt mir«, sagte er.
Hinter Flint stiegen Pendergast und D'Agosta eine weitere Wendeltreppe hinunter, die auf einer Plattform über einem riesigen zylinderförmigen Raum endete. Hier ging Flint eine Betonrampe hinab, die an der Wand spiralförmig nach unten führte. D'Agosta bemerkte mehrere tiefe Nischen, in denen einzelne Obdachlose oder ganze Familien hausten. Im gelblichen Licht von Kerzen und Petroleumlampen sah er schmutzige Gesichter und modrige Matratzen, und auf der anderen Seite des Raumes entdeckte er ein geborstenes Rohr, aus dem Wasser in einen verschlammten Teich am Boden floß. Um diese Wasserstelle kauerten mehrere Gestalten, die gerade Wäsche wuschen.
Unten angekommen, überquerten sie auf einer Holzplanke den schmalen Bach, der aus dem Teich floß und in der Dunkelheit verschwand, und gingen dann an mehreren Gruppen von Menschen vorbei, die schlafend oder Karten spielend am Boden kauerten. Einer von ihnen lag mit offenen, von einem milchigen Schleier überzogenen Augen ganz starr da. D'Agosta wußte, daß der Mann tot war.
Flint führte die beiden einen langen niedrigen Tunnel entlang, von dem viele kleinere Seitenstollen abzweigten; manche waren schwach erleuchtet. D'Agosta sah, wie Leute Kleidung flickten, Konservendosen aufeinanderstapelten oder Schnaps brannten. Schließlich brachte Flint ihn und Pendergast in einen großen, von einer einzigen Glühbirne schwach erhellten Raum mit roten Ziegelwänden. In der Mitte stand ein abgewrackter al
ter Eisenbahnwaggon, der so schräg stand, daß seine Hinterräder einen halben Meter in der Luft hingen. Wie er an diesen seltsamen Ort gekommen war, konnte sich D'Agosta nicht einmal annähernd vorstellen. Auf dem abblätternden roten Lack des Wagens konnte er die verwitterten Buchstaben NEW YO CENTRA erkennen.
Flint bedeutete den beiden zu warten und betrat den Waggon.
Nach ein paar Minuten erschien er an der Tür und winkte Pendergast und D'Agosta heran. Die beiden stiegen in den dunklen und erdrückend heißen Waggon und gelangten zunächst in einen kleinen Vorraum, der durch einen schweren schwarzen Vorhang abgeschlossen wurde. Flint ging wieder nach draußen und wartete vor der Tür.
»Wer ist da?« zischte eine merkwürdig klingende Stimme jenseits des Vorhangs.
Pendergast räusperte sich: »Man nennt mich Whitey, und ich bin der Anführer von Grant's Tomb. Ich habe von deinem Appell zum Zusammenschluß der Untergrundgemeinden gehört und bin jetzt hier, um mit dir zu reden. Diese Morde müssen endlich aufhören.«
Die Stimme entgegnete nichts, und D'Agosta fragte sich, was sich wohl hinter dem Vorhang verbergen mochte. Vielleicht war dort ja überhaupt nichts, wie in der Geschichte vom Zauberer von Oz. Vielleicht hatte sich Smithback die ganze Geschichte ja nur ausgedacht. Bei diesen Journalisten wußte man nie ...
»Komm rein«, sagte die Stimme schließlich.
Jemand zog von innen den Vorhang beiseite, und D'Agosta folgte Pendergast widerstrebend in den rückwärtigen Teil des Wagens.
Der Raum wurde von dem von draußen eindringenden Licht der Glühbirne und einem kleinen Feuer erleuchtet, das vor einem Loch in derAußenwand des Waggons glomm. Vor ihnen saß in einem massiven thronähnlichen Stuhl ein großer Mann mit langen grauen Haaren. Er trug einen alten braunen Kordanzug mit Schlaghosen und einen speckigen Borsalino-Hut, und seinen Hals zierte eine schwere Navajo-Kette aus Silber und Türkisen.
Mephisto sah seine Besucher mit ungewöhnlich stechenden Augen an. »Du nennst dich also Whitey«, sagte er. »Nicht gerade ein origineller Name und alles andere als ehrfurchtgebietend. Aber für einen Albino wie dich ist er vielleicht sogar angebracht.« Das Zischen von vorhin hatte sich in einen langsamen, fast förmlichen Ton verwandelt.
D'Agosta spürte, wie Mephisto ihn mißtrauisch beäugte. Wer auch immer dieser Kerl sein mochte, verrückt war er jedenfalls nicht. Oder zumindest nicht total.
»Und wer ist der da?« fragte Mephisto.
»Das ist Cigar. Mein Läufer.«
Mephisto starrte D'Agosta lange an, bevor er sich wieder Pendergast zuwandte. »Ich habe noch nie etwas von einer Gemeinde namens Grant's Tomb gehört«, sagte er dann mit tiefem Zweifel in der Stimme.
»Das wundert mich nicht, es gibt uns noch nicht allzu lange«, erklärte Pendergast. »Wir sind nicht viele und haben uns in den Tunnels unter der Columbia University eingenistet. Von dort aus kann man wunderbar auf dem Campus schnorren gehen.«
Mephisto hörte zu und nickte. Langsam wich der zweifelnde Ausdruck aus seinem Gesicht und wurde durch ein schiefes Grinsen ersetzt, von dem D'Agosta nicht sagen konnte, ob es freundlich oder hinterhältig war.
»Verstehe«, murmelte Mephisto. »In diesen unsicheren Zeiten ist uns natürlich jeder Verbündete willkommen.
Aber bevor wir uns weiter unterhalten, laßt uns dieses historische Zusammentreffen mit einem kleinen Festmahl feiern.«
Mephisto klatschte in die Hände. »Los, Leute! Bringt Stühle für unsere Gäste! Und legt Holz aufs Feuer!
Heckschütze, du holst uns Fleisch!« Ein kleiner, dürrer Mann, den D'Agosta bisher noch nicht bemerkt hatte, löste sich aus dem Schatten neben Mephisto und eilte nach draußen. Ein anderer, der im Schneidersitz zu Mephistos Füßen gehockt war, rappelte sich langsam auf und schlurfte wie in Zeitlupe zum Feuer, wo er ein paar frische Holzscheite auflegte und die Glut mit einem Eisenhaken anschürte. Als ob es nicht auch schon so viel zu heiß wäre, dachte D'Agosta, dem unter seinem schmutzigen Hemd der Schweiß in Strömen den Körper hinabrann.
Ein breitschultriger, muskelbepackter Mann kam mit zwei Obstkisten herein, die er vor Mephistos Stuhl auf den Boden stellte. »Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herren«, sagte Mephisto mit einer einladenden Geste.
Während sich D'Agosta vorsichtig niederließ, kam der Mann, den Mephisto als Heckschütze angesprochen hatte, wieder herein und ließ ein schweres, in Zeitungspapier eingeschlagenes Bündel vor dem Feuer auf den Boden fallen. Als er das Papier aufschlug, spürte D'Agosta, wie sich ihm der Magen zusammenkrampfte: Vor ihm lag eine fette Ratte mit halb zerschmettertem Kopf, deren Muskeln noch im Todeskampf zuckten.
»Wunderbar!« rief Mephisto erfreut »Gerade frisch erlegt, wie ihr seht.« Mit forschenden Blicken musterte er Pendergast »Ihr eßt doch Gleishasen in eurer Gemeinde?«
»Und ob!« antwortete Pendergast.
D'Agosta bemerkte, wie der breitschultrige Mann mit verschränkten Armen direkt hinter ihnen Aufstellung nahm. Ihm war klar, daß Mephisto sie mit der Ratte auf die Probe stellte.
Mephisto griff sich das tote Tier und bohrte ihm einen langen Metallspieß vom After bis zum Maul durch den Körper. Dann hielt er die noch immer schwach zuckende Ratte in die Flammen und brannte ihr das Fell ab, bevor er sie auf einem Metallgestell über dem Feuer langsam weiter rösten ließ. Eine Wolke beißenden Qualms verbreitete sich in dem engen Raum, und D'Agosta sah mit einer Mischung aus Ekel und Faszination, wie der lange Schwanz des Tieres zu einem schwarzen Korkenzieher zusammenschmorte.
Nach einer Weile nahm Mephisto den Spieß wieder vom Feuer und schabte mit einem Messer, das er aus einer Tasche seines Mantels gezogen hatte, die restlichen Haare vom Körper der Ratte. Nachdem er ihr ein paarmal in den Bauch gestochen hatte, um dampfende, übehiechende Gase entweichen zu lassen, legte er den Spieß zurück auf das Gestell über dem Feuer.
»So eine grand souris en brochette richtig zuzubereiten ist eine Kunst für sich«, sagte er mit einem zufriedenen Grinsen.
D'Agosta blickte auf das langsam vor sich hin brutzelnde Tier und war sich dabei vollkommen bewußt, daß alle Augen auf ihn und Pendergast gerichtet waren. Er wagte gar nicht daran zu denken, was wohl geschehen würde, wenn er später beim Essen auch nur den leisesten Ekel erkennen ließ.
Zehn Minuten briet die Ratte leise zischend vor sich hin.
Niemand sagte ein Wort, und ab und zu drehte Mephisto den Spieß ein kleines Stück weiter, bis er schließlich Pendergast fragend ansah. »Also ich persönlich mag Rattenfleisch am liebsten, wenn es noch etwas blutig ist«, verkündete er. »Und wie steht es mit dir, Whitey?«
»Blutig ist okay«, erwiderte Pendergast so gelassen, als hätte man ihm in einem besseren Lokal nach seinen Wünschen für ein Steak gefragt.
So eine Ratte ist doch ein Tier wie jedes andere auch, versuchte D'Agosta sich in seiner Verzweiflung einzureden. Das Fleisch wird mich schon nicht umbringen, was man von diesen Kerlen hier ja nicht unbedingt behaupten kann.
Mephisto konnte seine Ungeduld nur schlecht verbergen.
»Meinst du, die Ratte ist schon durch?« fragte er Pendergast.
»Bestimmt«, erwiderte der FBI-Agent und rieb sich erwartungsvoll die Hände. »Kommt, laßt uns endlich essen.«
D'Agosta sagte nichts.
»Zu einem solchen Festmahl gehört auch ein guter Tropfen zu trinken!« rief Mephisto, woraufhin ihm einer seiner Unterta nen eine halbvolle Flasche Rotwein reichte. Mephisto sah sie voller Abscheu an.
»Ein guter Tropfen, habe ich gesagt«, protestierte er und warf die Flasche achtlos beiseite. »Für unsere Gäste nur das Beste!«
Eilig kramte der Mann, den sie Heckschütze nannten, aus einer Ecke des Waggons eine Flasche billigen Sekt hervor und reichte sie seinem Boß zusammen mit drei nicht gerade sauberen Plastikbechern. Mephisto nahm den Spieß vom Feuer und streifte die gebratene Ratte auf die ausgebreitete Zeitung.
»Du bist der Ehrengast, Whitey«, wandte er sich an Pendergast.
»Greif zu.«
D'Agosta spürte, wie sich kalte Panik in ihm ausbreitete. Wenn Pendergast jetzt bloß keinen Fehler mache!
Mit einem gemischten Gefühl aus Ekel und Bewunderung sah er zu, wie der FBI-Agent die gebratene Ratte in beide Hände nahm, seine Lippen an die Stelle legte, wo Mephisto ihr mit seinem Messer in den Bauch gestochen hatte, und ihr mit einem schlürfenden Geräusch die Eingeweide aus dem Leib sog. D'Agosta spürte, wie ihm der Inhalt seines Magens in die Kehle stieg.
Pendergast fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und legte die Zeitung mitsamt der Ratte vor Mephisto auf den Boden.
»Ausgesprochen delikat«, erklärte er.
Mephisto nickte anerkennend. »Interessante Schlürftechnik.«
»Habe ich mir so angewöhnt«, erwiderte Pendergast mit einem Achselzucken. »Auf dem Campus wird eine Menge Rattengift ausgelegt, und am Geschmack der Leber läßt sich sofort erkennen, ob das Tier genießbar ist oder nicht.«
Ein ehrliches Lächeln machte sich auf Mephistos Gesicht breit.
»Ein guter Tip«, meinte er. »Den werde ich mir merken.« Dann nahm er sein Messer, schnitt ein großes Stück Fleisch von der Keule der Ratte ab und reichte es D'Agosta.
Jetzt war es soweit. Mit einem raschen Blick auf den Gorilla hinter sich nahm er das Fleisch und schob es sich mit geschlossenen Augen in den Mund. Mit vorgetäuschtem Appetit kaute er darauf herum und schluckte es so rasch hinunter, daß er von dem Geschmack so gut wie nichts mitbekam. Schließlich grinste er Mephisto an und hoffte, daß der Bissen auch wirklich da unten bleiben würde.
»Bravo!« sagte Mephisto, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte. »Ein echter Gourmet!«
Die Situation entspannte sich spürbar. Während D'Agosta sich mit der Hand über den Bauch strich, verwandelte sich das brütende Schweigen in dem Waggon in leises Lachen und geflüsterte Unterhaltungen.
»Ihr müßt mir mein Mißtrauen verzeihen«, erläuterte Mephisto leutselig. »Früher wäre so etwas hier unten undenkbar gewesen, aber wem sage ich das? Die Zeiten haben sich drastisch geändert«
Mephisto goß die drei Becher voller Sekt und prostete Pendergast und D'Agosta zu. Danach zerschnitt er die Ratte in mehrere große Stücke, die er zwischen sich und seinen Gästen aufteilte.
»Ich möchte euch gerne meine Lieutenants vorstellen«, sagte Mephisto und deutete auf den bulligen Mann hinter ihnen.
»Das hier ist Little Harry. Er hat sich seine Leidenschaft für Pferdewette n mit kleinen Diebstählen finanziert, bis er schließlich nach Attica kam. Dort hat er zwar eine Menge gelernt, aber als er rauskam, fand er weder Wohnung noch Arbeit. Little Harry hat das einzig Richtige getan und ist zu uns in den Untergrund gekommen, bevor er zu seinen schlechten Angewohnheiten zurückfand.«
Mephisto hielt kurz inne und deutete dann auf den Mann, der neben dem Feuer kauerte. »Das ist Boy Alice.
Er hat früher einmal an einer Privatschule in Connecticut Englisch unterrichtet, aber als sich seine Frau von ihm scheiden ließ, ging es bergab mit ihm. Er fing an zu saufen, machte Schulden und verlor schließlich seinen Job. Irgendwann einmal stand er auf der Straße, aß in den Suppenküchen und schlief im Obdachlosenasyl. Dort hat er von uns gehört und ist in den Untergrund gekommen. Und dann ist da noch der Heckschütze, der aus Vietnam zurückkam und feststellen mußte, daß das Land, für das er seinen Kopf hingehalten hatte, nichts mehr von ihm wissen wollte.«
Mephisto wischte sich seinen Mund mit der Zeitung ab. »So, mehr braucht euch nicht zu interessieren«, erklärte er.
»Schließlich haben wir alle unsere Vergangenheit an der Oberfläche zurückgelassen. Laßt uns also über die Gegenwart reden. Flint hat gesagt, daß ihr mich wegen der Morde sprechen wollt.«
Pendergast nickte. »Seit letzter Woche sind drei unserer Leute verschwunden, und langsam machen wir uns Sorgen um sie. Außerdem haben wir gehört, daß du Unterstützung gegen die Wrinkler suchst, die Menschen jagen und ihnen die Köpfe absäbeln sollen.«
»Das spricht sich offenbar herum. Vor zwei Tagen hat der Philosoph schon Kontakt mit mir aufgenommen.
Kennst du ihn?«
Ohne merklich zu zögern, sagte Pendergast: »Nein.«
Mephistos Augen verengten sich. »Seltsam«, wunderte er sich. »Der Philosoph ist mindestens so bekannt wie ich. Er ist der Anführer der Gemeinden unter der Grand Central Station.«
»Vielleicht werde ich ihn ja eines Tages kennenlernen«, entgegnete Pendergast ungerührt, »aber im Moment bin ich hier und rede mit dir. Ich brauche dringend Informationen, damit ich meine Leute besser schützen kann. Was weißt du über die Morde und die Mörder?«
»Die Morde begannen vor knapp einem Jahr«, erwiderte Mephisto. »Als ersten erwischte es Joe Atcitty. Wir fanden seine Leiche ohne Kopf in der Nähe vom Blockhaus. Dark Annie verschwand als nächste, dann war der Master Sergeant dran. Andere folgten. Manche haben wir gefunden, die meisten aber nicht. Und dann erzählten uns die Mander, daß sich in den Ebenen unter ihnen seltsame Dinge täten.«
Pendergast runzelte die Stirn. »Wer sind die Mander?«
Abermals warf Mephisto ihm einen mißtrauischen Blick zu.
»Sag bloß, du kennst die Mander nicht?« Er kicherte heiser vor sich hin. »Du solltest mal auf die Wanderschaft gehen, Whitey, damit du was von der Welt siehst. Die Mander bewohnen die Ebenen unter uns. Sie kommen nie nach oben und verwenden kein Licht. Wie Salamander. Kapiert? Und diese Mander haben uns erzählt, daß sich unter ihnen etwas tut« Mephistos Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. »Sie sagen, daß irgendwer The Devil's Attic kolonisiert hat.«
D'Agosta blickte fragend hinüber zu Pendergast, aber der nickte zustimmend. »Die tiefste Ebene unter der Stadt«, murmelte er, wie an sich selbst gerichtet, »der Dachboden des Teufels.«
»Die allertiefste«, bestätigte Mephisto.
»Warst du eigentlich jemals dort unten?« fragte Pendergast so beiläufig wie nur möglich.
Mephisto sah ihn an, als habe Pendergast ihn gefragt, ob er total übergeschnappt sei.
»Aber du glaubst, daß die Leute in The Devils Attic für die Morde verantwortlich sind?«
»Das glaube ich nicht, ich weiß es. Während wir uns hier unterhalten, lauern die dort unten nur darauf, daß sie wieder einen von uns in die Finger kriegen«, sagte Mephisto grimmig.
»Aber ich bin mir nicht so ganz sicher, ob man sie überhaupt Leute nennen kann.«
»Was soll das heißen?« fragte Pendergast, dessen Stimme nun nicht mehr so beiläufig klang.
»Ich habe Gerüchte gehört«, erwiderte Mephisto noch leiser als zuvor. »Man sagt, daß sie nicht umsonst die Wrinkler genannt werden.«
»Weißt du, warum man sie so nennt?«
Mephisto gab keine Antwort.
Schließlich fragte Pendergast: »Was sollen wir also tun?«
»Was wir tun sollen?« Ein müdes Lächeln huschte über Mephistos Gesicht »Diese Stadt wachrütteln, das sollten wir tun! Wir müssen denen da droben verklickern, daß es bald nicht nur wir Maulwürfe sein werden, die von den Wrinklern getötet werden.«
»Und was ist dann?« fragte Pendergast »Was können die an der Oberfläche gegen die Wrinkler tun?«
Mephisto dachte einen Augenblick lang nach. »Das, was man mit anderem Ungeziefer auch macht: Man vernichtet es in seinem Bau.«
»Das ist leichter gesagt als getan.«
Mephistos harte, funkelnde Augen blickten dem FBI-Agenten direkt ins Gesicht »Hast du vielleicht eine bessere Idee, Whitey?« zischte er.
Pendergast schwieg eine Weile. »Noch nicht«, sagte er dann.