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Margo wusch sich in dem tiefen Edelstahlwaschbecken die Hände und trocknete sie an dem rauhen Handtuch ab.

Dabei blickte sie hinüber zu der Rollbahre, auf der die mit einem Tuch zugedeckten Überreste von Pamela Wisher lagen.

Jetzt nachdem sie die Untersuchung abgeschlossen und die nötigen Proben entnommen hatten, war die Leiche zur Bestattung freigegeben worden. Hinter der Rollbahre sah Margo Brambill und Frock, die gerade dabei waren, an dem noch immer unidentifizierten zweiten Skelett einen der grotesk deformierten Hüftknochen zu vermessen.

»Darf ich eine Bemerkung machen?« fragte Brambell, während er die Säge zur Seite legte.

»Aber natürlich«, antwortete Frock mit seiner weichen, tiefen Stimme und machte eine großzügige Geste.

Trotz der aufgesetzten Höflichkeit war es eindeutig, daß die beiden sich abgrundtief haßten.

Margo wandte den Kopf zur Seite, um ihr Grinsen zu verbergen. Noch nie hatte sie Frock zusammen mit einem Mann erlebt, der ihm intellektuell und von der Persönlichkeit her ebenbürtig war. Es war ein Wunder, daß die beiden überhaupt etwas gemeinsam zustande brachten, aber trotz aller Meinungsverschiedenheiten hatten sie in den vergangenen Tagen beeindruckende Arbeit geleistet: Sie hatten beide Skelette auf Antikörper, toxische Rückstände und Teratogene getestet sowie eine osteologische Analyse des zweiten Skeletts und eine ganze Reihe anderer Untersuchungen durchgeführt. Nun fehlte eigentlich nur noch eine DNS-Sequenzierung und eine forensische Analyse der Bißspuren. Noch immer allerdings hatte das rätselhafte Skelett keines seiner Geheimnisse preisgegeben.

Margo war klar, daß dieser Umstand die ohnehin schon geladene Atmosphäre in dem Labor noch zusätzlich anheizte.

»Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, daß dieser Biß nicht von hinten erfolgt sein kann«, verkündete Brambell mit seiner hohen, irisch singenden Stimme.

»Das stellt sich mir ganz anders dar«, murmelte Frock.

Margo blendete sich aus der Diskussion aus, die sie ohnehin nur am Rande interessierte. Ihre Spezialgebiete waren Ethnopharmakologie und Genetik, nicht die Anatomie. Margo hatte andere Probleme zu lösen.

Als sie sich über die Aufnahmen der neuesten Gel-Elektrophorese beugte, verspürte sie ein starkes Ziehen in der Halsmuskulatur. Offenbar hatte sie sich am Abend zuvor im Fitneß-Studio ein wenig zuviel zugemutet. Sie nahm sich vor, in Zukunft die Gewichte nicht mehr so rasch zu steigern. Man konnte es mit dem Training ja auch übertreiben.

Zehn Minuten lang studierte sie sorgfältig die Untersuchungsergebnisse, dann richtete sie sich mit einem leisen Stöhnen auf.

Wie sie schon erwartet hatte, hatte die Gel-Elektrophorese des von den Knochen entnommenen Gewebes nur gezeigt, daß es sich um ganz normale menschliche Muskelproteine handelte.

Eine detailliertere Analyse des genetischen Materialswürde ihr erst die sehr viel genauere DNS-Sequenzierung verschaffen.

Leider aber dauerte der Prozeß so lange, daß mit ersten Ergebnissen erst in ein paar Tagen zu rechnen war.

Nachdem sie die Aufnahmen der Gel-Strips zur Seite gelegt hatte und sich nachdenklich den schmerzenden Nacken rieb, bemerkte sie einen großen braunen Umschlag neben dem Computer. Das müssen die Röntgenaufnahmen sein, die vermutlich heute früh gebracht wurden, dachte sie. Brambell und Frock waren so sehr in ihre Auseinandersetzung über die Leiche vertieft, daß sie noch keinen Blick darauf geworfen hatten. Das war aber auch verständlich, denn bei einer fast vollständig skelettierten Leiche würden die Erkenntnisse, die man aus Röntgenaufnahmen ziehen konnte, wohl eher bescheiden ausfallen.

»Margo, kommen Sie bitte mal zu mir?« fragte Frock.

Sie ging hinüber zu der Rollbahre.

»Hier, meine Liebe«, sagte Frock und bewegte sich mit seinem Rollstuhl nach hinten, um den Platz vor dem Mikroskop freizumachen. »Sehen Sie sich doch bitte einmal die Vertiefung im rechten Oberschenkelknochen an.«

Obwohl das Stereomikroskop auf den niedrigsten Stand eingestellt war, sah der Knochen aus wie eine wilde braune Wüstenlandschaft mit Tälern und Höhenzügen.

»Was halten Sie davon?« fragte Frock.

Es war nicht das erstemal, daß Margo bei einer Auseinandersetzung um ihre Meinung gefragt wurde. Sie mochte diese Rolle überhaupt nicht. »Sieht so aus, als wäre es eine natürliche Spalte im Knochen«, sagte sie mit möglichst neutraler Stimme.

»Könnte sein, daß sie durch die Verformungen entstand, die wir an diesem Skelett schon an mehreren Stellen gefunden haben. Sie muß nicht unbedingt von einem Zahn herrühren.«

Frock lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück und versuchte ohne allzu großen Erfolg, sich sein triumphierendes Lächeln zu verkneifen.

Brambell blinzelte ungläubig. »Wie bitte?« fragte er. »Ich will Ihnen ja nicht widersprechen, Dr. Green, aber wenn ich je die Spur von einem Reißzahn gesehen habe, dann ist es dies hier.«

»Ich will Ihnen auch nicht widersprechen, Dr. Brambell«, antwortete Margo und stellte eine stärkere Vergrößerung ein. Die Spalte verwandelte sich in ein tiefes Tal. »Aber ich glaube, ich habe an den Wänden natürliche Porenbildung entdeckt.«

Brambell eilte herbei, nahm seine altmodische Hornbrille ab und blickte in die Okulare des Mikroskops.

Nachdem er eine Weile hineingestarrt hatte, trat er langsam von dem Mikroskop zurück.

»Hmm«, brummte er, während er seine Brille wieder aufsetzte.

»Ich sage das zwar nur ungern, aber es könnte sein, daß Sie in diesem Punkt nicht unrecht haben, Dr. Frock.«

»Sie meinen wohl, daß Margo nicht unrecht hat«, sagte Frock.

»Ja, natürlich. Gut beobachtet, Dr. Green.«

Das Klingeln des Telefons ersparte es Margo, auf dieses Kompliment zu antworten. Frock rollte hinüber und hob ab. Zum erstenmal seit Beginn ihrer neuerlichen Zusammenarbeit hatte Margo Zeit, ihren alten Mentor eingehend zu betrachten.

Obwohl er noch immer ziemlich untersetzt wirkte, schien er seit ihrer gemeinsamen Zeit am Museum abgenommen zu haben. Auch sein Rollstuhl kam ihr irgendwie älter und abgenutzter vor. Mit einer plötzlichen Aufwallung von Mitleid fragte sich Margo, ob es Frock vielleicht finanziell nicht besonders gut ging. Falls dem so war, dann hatte das aber ganz offenbar keinen negativen Effekt auf ihn. Im Gegenteil, er sah viel kräftiger und vitaler aus als damals, als er noch Leiter der Anthropologischen Abteilung des Museums gewesen war.

Was Frock am Telefon hörte, schien ihm gar nicht zu gefallen.

Margo ließ ihren Blick aus dem Fenster des Labors hinaus auf den Central Park wandern. Die Bäume trugen ihr kräftiges dunkelgrünes Sommerlaub, und die Oberfläche des großen Sees, der der Stadt als Wasserreservoir diente, schimmerte im hellen Sonnenschein. An seinem südlichen Ende kreuzten sich ein paar Segelboote. Margo dachte daran, wieviel lieber sie jetzt in einem dieser Boote säße und sich in der Sonne räkeln würde, anstatt in diesem finsteren Museum verrottete Leichen auseinanderzunehmen.

»Das war D'Agosta«, erklärte Frock, nachdem er mit einem leisen Seufzer aufgelegt hatte. »Er sagt, daß unser Freund hier bald Gesellschaft bekommen wird. Wären Sie so freundlich und würden Sie die Jalousien schließen, Margo? Bei künstlichem Licht läßt es sich besser mikroskopieren.«

»Was soll das heißen, daß unser Freund bald Gesellschaft bekommt?« fragte Margo.

»So hat D'Agosta sich ausgedrückt. Er hat gestern nachmittag in einem alten Eisenbahntunnel einen stark verwesten Kopf gefunden und möchte, daß wir ihn untersuchen.«

Dr. Brambell sagte etwas auf gälisch, das wie ein Ausruf des Erstaunens klang.

»Gehört dieser Kopf vielleicht ...«, begann Margo und deutete auf die beiden Leichen.

Frock schüttelte mit düsterer Miene den Kopf. »Nein, offenbar hat er nichts mit ihnen zu tun.«

Eine Weile herrschte Stille in dem Labor. Dann wandten sich die beiden Männer, wie auf ein unausgesprochenes Stichwort hin, wieder dem unidenffizierten Skelett zu, und Margo kehrte zu ihren Bildern der Elektrophorese-Strips zurück. Sie hatte noch eine Menge Arbeit zu erledigen.

Als sie sich setzte, fiel ihr Blick auf den Umschlag mit den Röntgenaufnahmen. Frock und Brambell hatten den Leuten vom Labor die Hölle heiß gemacht, damit sie die entwickelten Negative in aller Früh auf den Tisch bekamen, und jetzt sahen sie sie nicht einmal an. Vielleicht sollte ja wenigstens sie einen Blick darauf werfen, bevor sie weiterarbeitete.

Sie nahm die Aufnahmen aus dem Umschlag und legte die ersten drei auf den Leuchttisch. Sie stammten vom Brustkorb des unidentifizierten Skeletts und zeigten – sehr viel undeutlicher übrigens als das Aufnahmeobjekt selbst – die bizarren Deformationen an der Knochenstruktur, die sich hauptsächlich in grotesken Verdickungen und Kammbildungen manifestierten.

Margo legte die Aufnahmen beiseite und ersetzte sie durch die nächsten drei, auf denen der Lendenbereich zu sehen war.

Die vier kleinen weißen Punkte entdeckte sie sofort. Neugierig geworden, zog sie die Lupe heran und betrachtete sich die Aufnahme genauer. Die vier Punkte hatten dreieckige Querschnitte und bildeten am unteren Ende der Wirbelsäule ein exaktes Quadrat, dasvollkotnmen von unscharfsichtbarer Knochenmasse überwuchert war, so daß man es an der Leiche selbst nicht hatte sehen können. Die Punkte mußten aus Metall sein, denn nur dieses war für Röntgenstrahlen vollkommen undurchlässig.

Margo richtete sich auf und blickte hinüber zu den beiden Wissenschaftlern, die sich noch immer über irgendeine Einzelheit der Leiche stritten. »Ich habe hier etwas, das Sie sich ansehen sollten, meine Herren., sagte sie.

Brambell war als erster am Leuchtkasten und schaute durch die Lupe. Dann nahm er seine Brille ab, putzte sie und sah sich das Röntgenbild noch einmal an.

Kurz darauf rollte auch Frock herbei. »Entschuldigen Sie bitte vielmals«, murmelte er und drängte Brambell mit seinem Rollstuhl ziemlich rüde beiseite. Dann starrte auch er auf die vier Punkte.

Im Labor herrschte Stille bis auf das Zischen der Entlüftungsanlage direkt über der Rollbahre. Margo fiel auf, daß zum erstenmal seit Beginn der Untersuchung die Herren Frock und Brambell gleichermaßen verblüfft wie sprachlos waren.