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Als Margo um zehn Uhrvormittags den Konferenzraum der Anthropologischen Abteilung betrat, erkannte sie an den Kaffeetassen, Papierservietten und halb aufgegessenen Croissants, daß die Sitzung schon eine ganze Weile im Gang war.
Außer Frock, Waxie und D'Agosta war zu Margos Erstaunen auch Chief Horlocker anwesend, dessen mit Goldborten verzierte Uniform ihr irgendwie fehl am Platz vorkam. Die Stimmung zwischen den vier Männern schien ziemlich geladen.
»Du erwartest doch wohl nicht, daß wir dir das mit diesen Astortunnels abnehmen«, ging Waxie gerade D'Agosta an.
Dann bemerkte er Margo und brummte: »Schön, daß Sie kommen konnten.«
Als Frock Margo sah, rollte er ein wenig zur Seite und machte ihr Platz. »Margo! Endlich!« rief er mit einem Ausdruck der Erleichterung im Gesicht aus. »Vielleicht können Sie die Angelegenheit aufklären. Lieutenant D'Agosta hier hat uns eine Menge seltsamer Dinge über Ihre Funde in Gregorys Labor erzählt. Außerdem behaupte t er, Sie hätten in meiner Abwesenheit – äh – zusätzliche Forschungen angestellt. Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde, meine Liebe, dann könnte ich fast glauben, daß Sie ...«
»Entschuldigen Sie, bitte«, unterbrach ihn D'Agosta mit lauter Stimme. Alle sahen ihn an.
»Ich würde vorschlagen, daß Dr. Green uns selbst sagt, was sie herausgefunden hat.«
Margo nahm Platz und war erstaunt, daß Horlocker D'Agosta nicht über den Mund fuhr. Irgend etwas mußte geschehen sein, und sie vermute te stark, daß es etwas mit dem U-Bahn-Massaker in der vergangenen Nacht zu tun haben mußte. Sie überlegte kurz, ob sie ihr spätes Kommen erklären und den anderen sagen sollte, daß sie bis drei Uhr früh in ihrem Labor gearbeitet hatte, entschied sich dann aber doch dagegen. Jen, ihre Laborassistentin, war vermutlich immer noch mit den Versuchen beschäftigt.
»Einen Augenblick noch«, sagte Waxie. »Ich wollte bloß noch einmal betonen, daß ...«
Horlocker sah ihn böse an. »Halten Sie den Mund, Waxie. Und Sie, Dr. Green, erklären uns jetzt besser, was Sie getan und was genau Sie herausgefunden haben.«
Margo atmete tief durch. »Ich weiß nicht, wieviel Lieutenant D'Agosta Ihnen bereits erzählt hat«, begann sie,
»aber ich möchte kurz noch einmal das Wichtigste zusammenfassen. Sie wissen alle, daß das deformierte Skelett aus dem Humboldt Kill das von Gregory Kawakita war, einem früheren Kurator des Museums. Er und ich haben gemeinsam bei Dr. Frock promoviert. Nach seinem Weggang aus dem Museum richtete sich Greg offenbar eine Reihe von geheimen Labors ein, das letzte davon im alten Güterbahnhof an der West Side.
Meine Untersuchung der Ruine ergab, daß Greg dort vor seinem Tod eine gentechnisch manipulierte Art von lilicea mbwunensis gezüchtet hat«
»Und das war die Pflanze, nach der die Museumskreatur süchtig war?« fragte Horlocker dazwischen. Margo achtete genau auf einen sarkastischen Unterton in seiner Stimme, konnte aber keinen entdecken.
»Ja«, erwiderte sie. »Aber ich glaube, daß die Pflanze nicht nur eine berauschende Wirkung hat. Wenn ich mich nicht irre, dann ist das in ihr enthaltene Reovirus in der Lage, andere Lebewesen morphologisch zu verändern.«
»Wie bitte?« fragte Waxie.
»Das Virus löst eine starke Verformung des Körpers aus. John Whittlesey, der Wissenschaftler, der vor zehn Jahren die Kisten mit den Fasern ans Museum schickte, muß im Regenwald von der Pflanze gegessen haben ob unabsichtlich oder unter Zwang, wird wohl niemand mehr herausfinden – und hat daraufhin eine grundlegende körperliche Verwandlung erlitten.Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, daß die Museumskreatur in Wirklichkeit John Whittlesey war.«
Keiner sagte ein Wort. Nur Frock holte laut vernehmlich Luft »Ich weiß, wie abwegig diese Erklärung im ersten Moment klingt«, sagte Margo. »Und außerdem steht sie im krassen Gegensatz zu allen unseren früheren Theorien. Aber sie würde unter anderem erklären, weshalb es das Mbwun-Monster nach der Zerstörung seines natürlichen Lebensraums ausgerechnet hierher ins Naturgeschichtliche Museum verschlagen hat.«
Whittlesey wußte natürlich, daß in den Kisten hier im Keller der einzige noch existierende Vorrat an den Pflanzenfasern zu finden war. Schließlich hatte er sie ja selbst hierher geschickt. Greg Kawakita hat das alles übrigens sehr viel schneller herausgefunden als ich. Vermutlich war ihm die wahre Bedeutung der Pflanzenfasern bereits kurz nach dem Tod des Museumsmonsters klar. Er muß sich irgendwie ein Exemplar der Pflanze beschafft und dann begonnen haben, sie genetisch zu verändern. Ich denke, er hat versucht, sie von ihren negativen Nebenwirkungen zu befreien.«
»Erzählen Sie von der Droge«, sagte DAgosta.
»Kawakita hat große Mengen von der Pflanze in seinem Labor gezüchtet; vermutlich, um daraus eine neue Droge namens Glaze herzustellen«, begann Margo mit ihren Ausführungen.
»Neben der morphologischen dürfte das Virus nämlich auch eine stark narkotische oder halluzinatorische Wirkung haben. Ich nehme an, daß Kawakita das Rauschgift einer ausgewählten Gruppe von Süchtigen verkauft und sich so das Geld für seine Forschungen beschafft hat. Außerdem konnte er an den Usern der Droge die Fortschritte seiner Arbeit testen. Irgendwann allerdings muß er damit begonnen haben, die Droge selbst zu nehmen, denn nur so lassen sich meiner Meinung nach die grotesken Veränderungen an seinem Skelett erklären.«
»Aber wenn dieses Zeug so schreckliche Nebenwirkungen hat, wieso hat Kawakita es dann genommen?« wollte Horlocker wissen.
Margo runtzelte die Stirn. »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Vermutlich hat er geglaubt, er habe die negativen Eigenschaften der Droge eliminiert. Außerdem muß er irgendeinen Nutzen für sich darin gesehen haben. Zur Zeit führe ich zusammen mit meiner Assistentin umfangreiche Tests mit den Pflanzenresten durch, die ich in Kawakitas Labor gefunden habe. Wir haben die Droge mehreren Versuchstieren injiziert und werten gerade die Ergebnisse aus.«
»Warum hat mir niemand etwas davon gesagt?« polterte Waxie auf einmal los.
»Wenn du dich hin und wieder dazu bequemen würdest, deine Voice-Mail abzuhören, wüßtest du, daß wir dir jeden gottverdammten Schritt mitgeteilt haben«, fuhr D'Agosta ihn an.
Horlocker hob die Hand. »Das genügt, Vincent. Wir alle wissen, daß bei dieser Untersuchung Fehler gemacht wurden, aber jetzt ist nicht die Zeit für Schuldzuweisungen.«
D'Agosta lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. Margo hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Es kam ihr so vor, als mache er alle in diesem Raum – sich selbst mit eingeschlossen für die Tragödie in der U-Bahn verantwortlich.
»Im Augenblick haben wir eine unglaublich ernste Situation zu meistern«, fuhr Horlocker fort. »Der Bürgermeister sitzt mir schon seit Tagen im Genick und drängt auf sofortige Fahndungserfolge, und jetzt, nach diesem Massaker, stößt der Gouverneur ins selbe Horn.« Horlocker tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Nun gut. Wenn das stimmt, was Dr. Green sagt, dann haben wir es wohl mit einer Gruppe von Drogenabhängigen zu tun, die dieser Kawakita mit Stoff versorgt hat. Jetzt, wo er tot ist und sie nicht mehr beliefern kann, werden sie da unten in diesen Astortunnels, von denen D'Agosta uns vorhin erzählt hat, vermutlich halb wahnsinnig vor Gier nach dem Zeug. Wenn sie es nicht bekommen, dann müssen sie eine bestimmte Drüse aus dem menschlichen Gehirn essen, genau wie die Mbwun-Kreatur damals. Das wäre in der Tat eine ziemlich plausible Erklärung für die Morde, die uns allen soviel Kopfzerbrechen bereiten.«
Horlocker hielt inne und blickte herausfordernd in die Runde. »Gibt es Beweise, die diese Theorie untermauern?«
»Die Mbwun-Pflanzen, die wir in Kawakitas Labor gefunden haben«, meinte Margo.
»Und den Umstand, daß die meisten Morde in der Nähe der Astortunnels begangen wurden«, ergänzte D'Agosta. »Das hat Pendergast herausgefunden.«
»Purer Zufall«, schnaubte Waxie.
»Und was ist mit den Aussagen zahlreicher Maulwürfe, daß sich im Dachboden des Teufels merkwürdige Lebewesen eingenistet haben?«
»Sie werden doch nicht einer Bande von Pennern und Junkies Glauben schenken!«
»Und warum sollten sie lügen, bitte schön?« warf Margo ein.
»Wer weiß denn besser, was dort unten vor sich geht, als sie?«
»In Ordnung!« sagte Chief Horlocker und hob abermals die Hand. »Angesichts dieser Beweise glaube ich, daß wir die Theorie akzeptieren sollten. Keine andere Spur hat bisher etwas gebracht, und von ganz oben wird von uns erwartet, daß wir so rasch wie möglich handeln. Nicht morgen oder nächste Woche, sondern jetzt sofort.«
Frock räusperte sich leise. Es war das erste Geräusch, das er seit Margos Vortrag von sich gegeben hatte.
»Wollen Sie etwas sagen, Professor?« fragte Horlocker.
Frock rollte langsam nach vorn. »Entschuldigen Sie meine Skepsis, aber ich finde diese Theorie doch ein wenig zu phantastisch und konstruiert«, begann er mit einem leicht tadelnden Blick hinüber zu Margo. »Da man mich bei den jüngsten Untersuchungen nicht hinzugezogen hat, bin ich natürlich mehr oder weniger auf Mutmaßungen angewiesen, aber ich bin trotzdem nach wie vor der Meinung, daß selbst bei einem Fall wie diesem die einfachste Erklärung auch die wahrscheinlichste ist.«
»Und was ist die einfachste Erklärung Ihrer Meinung nach?« fragte D'Agosta ungeduldig dazwischen.
Frock quittierte die Unterbrechung mit einem eisigen Blick.
»Vielleicht lassen Sie mich erst einmal ausreden, Lieutenant«
»Beruhigen Sie sich, Vincent«, sagte Horlocker zu D'Agosta.
»Vielleicht hat Kawakita ja wirklich an der Mbwun-Pflanze gearbeitet«, fuhr Frock fort. »Und ich stimme Margo sogar zu, wenn sie sagt, daß wir vor achtzehn Monaten möglicherweise zu übereilte Schlüsse in Hinblick auf die Museumskreatur gezogen haben. Aber wo sind die Beweise dafür, daß Gregory eine Droge hergestellt und vertrieben hat?« Frock streckte den anderen seine leeren Hände entgegen.
»Großer Gott, Doktor, wieso sollte er denn sonst ständig Besucher in seinem Labor in Long Island Gity gehabt haben? Und was ist mit ...«
Frock brachte D'Agosta mit einem weiteren kühlen Blick zum Schweigen. »Ich möchte fast wetten, daß auch Sie in Ihrer Wohnung in Queens Besucher haben«, erwiderte der Wissenschaftler, wobei er das Wort »Queens« besonders abfällig aussprach. »Aber das bedeutet noch lange nicht, daß Sie ein Drogendealer sind, Lieutenant. Was auch immer Kawakita in seinen Geheimlabors gemacht hat, mag vielleicht nach ethischen Maßstäben verwerflich gewesen sein, aber deshalb muß es noch lange nichts mit einer Bande jugendlicher Verbrecher zu tun haben, die im Untergrund die Menschen abschlachten. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß Gregory selbst zu den Opfern in diesem Fall zählt. Wie Sie daraus eine Verbindung zu den Tätern konstruieren wollen, ist mir schlichtweg schleierhaft.«
»Und wie erklären Sie sich dann seine körperlichen Veränderungen?« fragte Horlocker.
»Na schön, dann hat er eben Drogen hergestellt und sie vielleicht sogar selbst genommen. Aus Achtung vor Margo möchte ich sogar so weit gehen und sagen – ohne einen stichhaltigen Beweis, wohlgemerkt –, daß diese Droge möglicherweise morphologische Mißbildungen hervorrufen kann. Aber das heißt immer noch nicht, daß Kawakita diese Drogen an andere Süchtige verkauft hat, die wiederum alle diese Morde begangen haben.
Und was die Theorie anbelangt, daß die Mbwun-Kreatur in Wirklichkeit John Whittlesey war, da muß ich doch schon sehr bitten ... das würde ja jeglicher Evolutionstheorie widersprechen.«
Nichtjeglicher, aber deiner Evolutionstheorie, dachte Margo.
Horlocker fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn und schob dann Papiere und leere Kaffeetassen von einer Karte, die auf dem Tisch ausgebreitet lag.
»Ihre Einwände habe ich zur Kenntnis genommen, Dr. Frock«, sagte er. »Aber es ist mittlerweile egal, wer diese Kreaturen sind. Wir wissen, was sie tun, und haben eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wo sie leben. Jetzt müssen wir eigentlich nur noch etwas gegen sie unternehmen.«
D'Agosta schüttelte den Kopf. »Ich halte das noch für verfrüht. Natürlich ist mir klar, daß es auf jede Minute ankommt, aber wir tappen in vielerlei Hinsicht noch zu sehr im dunkeln. Ich war damals bei der Ausstellungseröffnung dabei und habe die Kreatur gesehen. Wenn diese Drogensüchtigen auch nur einen Bruchteil von ihrer Kraft und ihren Fähigkeiten haben, dann gute Nacht ...« D'Agosta atmete tief durch. »Ich bin deshalb dafür, daß wir erst dann losschlagen, wenn wir genau wissen, womit wir es zu tun haben. Pendergast ist vor achtundvierzig Stunden zu einer Erkundungstour in die Astortunnels aufgebrochen. Ich finde, wir sollten warten, bis er wiederkommt.«
Frock sah D'Agosta erstaunt an, und Horlocker schnaubte:
»Pendergast? Ich mag den Mann nicht, und seine Methoden mag ich noch viel weniger. Außerdem fallen die Morde nicht in seinen Zuständigkeitsbereich. Wenn er also da unten herumkriecht, dann ist das sein Privatvergnügen. Vermutlich ist er schon längst nicht mehr am Leben. Und machen Sie sich mal keine Sorgen wegen der Kreaturen, die sich womöglich in den Tunnels herumtreiben. Wir verfügen über genügend Feuerkraft, um es mit ihnen aufzunehmen.«
Waxie signalisierte durch eifriges Nicken seine Zustimmung.
D'Agosta gab nicht auf. »Dann halten wir eben die Tunnelausgänge unter Beobachtung. Aber es wäre wirklich klüger zu warten, bis Pendergast sich meldet. Geben Sie ihm noch vierundzwanzig Stunden, Sir.«
»Sie wollen die Eingänge unter Beobachtung halten«, wiederholte Horlocker sarkastisch und blickte in die Runde. »Ist das alles, was Ihnen einfällt? Und was mache ich dann bitte schön mit dem Bürgermeister? Er verlangt nun mal sofortiges Eingreifen von mir und will bestimmt keine vierundzwanzig Stunden mehr abwarten. Uns läuft die Zeit davon, Vncent, das müßte doch auch Ihnen klar sein.« Er wandte sich an Waxie.
»Machen Sie mir eine Verbindung mit dem Büro des Bürgermeisters, und dann stellen Sie fest, wo Jack Masters ist. Wir müssen endlich in die Gänge kommen.«
»Einen Augenblick noch, Chief Horlocker«, meldete sich Frock zu Wort »Ich bin derselben Meinung wie Lieutenant D'Agosta. Wir sollten nichts überstürzen und ...«
»Zu spät, Professor«, fauchte Horlocker und wandte sich wieder der Karte zu. »Die Entscheidung ist gefallen.«
Frocks Gesicht wurde puterrot, und er rollte wütend in Richtung Tür. »Dann fahre ich eben in mein Labor«, erklärte er bitter. »Offenbar ist meine Gegenwart hier nicht länger erwünscht.«
Margo wollte aufstehen, aber D'Agosta legte ihr eine Hand auf den Arm. Mit Bedauern sah sie, wie sich die Tür hinter ihrem alten Lehrer schloß. Früher einmal war Frock für sie ein Visionär gewesen, der nicht unerheblich an ihrer Entscheidung beteiligt gewesen war, den Beruf der Anthropologin zu ergreifen. Jetzt aber fühlte sie nur noch Mitleid für den großen Wissenschaftler, der sich zusehends mehr in seine Theorie verrannte. Warum nur hat man ausgerechnet ihn bei diesem Fall hinzuziehen müssen? fragte sie sich. Warum konnte man ihn nicht in Ruhe und Frieden seinen Lebensabend genießen lassen?