Epilog

Verschwitzt, dreckig, mit blutigen Kratzern im Gesicht und erschöpft wie noch nie zuvor in ihrem Leben, standen sie Arm in Arm auf der Plattform. Sie gehörte zu dem stählernen Laufsteg, der hinter ihnen halb über das Dach von Reaktorblock III und dann eine kurze Treppe hinunter in die tatsächliche Steuerzentrale von Tomamato Island führte.

Vor ihnen über der nahen Dunkelwelt lag noch die drückende Finsternis der Nacht. Doch weit im Osten hellte die Dämmerung den Horizont schon ein wenig auf, auch wenn der Sonnenaufgang noch einige Zeit auf sich warten lassen würde.

Indessen funkelte Presidio schräg zu ihrer Rechten mit scheinbar ungebrochener Machtherrlichkeit im Glanz seines Lichtermeers. Es war, als wollte Hyperion schlichtweg leugnen, Tomamato Island verloren zu haben, oder sich den Anschein geben, dass die Rückeroberung seiner überlebenswichtigen Reaktorinsel nur eine Frage der Zeit war.

»Was jetzt bloß auf uns warten mag«, sagte Kendira leise und fühlte sich noch ganz benommen. Viele hatten ihr Leben gelassen, um diese Felseninsel vor der Küste von Presidio zu erobern. Dass es ihnen gelungen war und Marquez und Yakimura in diesen Minuten unten in der Schaltzentrale ihre Bedingungen per Videokonferenz an den Wächterrat von Hyperion übermittelten, erschien ihr immer noch unwirklich – wie auch die Rolle, die sie aus Liberty 9 dabei gespielt hatten. Doch das größte Glück und Wunder für sie persönlich war, dass Dante den Absturz mit dem Glider überlebt hatte. Für nichts war sie dankbarer als für dieses einzigartige Geschenk.

»Hyperion wird es nicht wagen, uns anzugreifen und die Reaktorblöcke zu beschießen. Das wäre das sichere Ende der Machthaber«, sagte Dante mit Blick auf die kleine Armada stark bewaffneter Barkassen und Schnellboote, die einen weiten Ring um Tomamato Island gelegt hatten, aber einen respektvollen Abstand hielten. Dasselbe galt für die beiden Helikopter, die in großer Höhe weite Kreise zogen und die letzten beiden Hubschrauber waren, die Hyperion jetzt noch besaß. »Das da unten ist eine leere Drohkulisse, die hier keinen beeindruckt. Nein, Hyperion wird sich auf Verhandlungen einlassen müssen und dann werden die Machtverhältnisse hier an der Küste bald anders aussehen.«

»Ja, hoffentlich«, sagte Kendira. »Aber das hatte ich eigentlich nicht gemeint.«

»Sondern?«

»Was jetzt uns beide erwarten mag, Dante. Was wir mit unserem Leben anfangen wollen und wo wir uns dieses neue Leben aufbauen sollen.«

»So genau weiß ich das auch noch nicht«, gestand er freimütig ein. »Hier in der Dunkelwelt hält mich jedenfalls nichts, auch wenn sich die Verhältnisse vermutlich bald verbessern werden. Nach diesem Erfolg wird Major Marquez keine Schwierigkeiten haben, immer mehr Territorien als Verbündete zu gewinnen und mit einer rechtmäßigen Regierung nach und nach überall Recht und Ordnung durchzusetzen. Aber selbst das wird Jahre dauern.« Er machte eine kurze Pause. »Also wenn du mich fragst, wohin wir von hier aus gehen sollen, dann würde ich vorschlagen: zuerst einmal zurück in unser Tal. Da sind unsere Freunde, und das ist unser Zuhause – auch wenn dort Schreckliches geschehen ist.«

Sie lächelte ihn erleichtert an und nickte. »Das ist auch mein Gedanke gewesen. Ich möchte so schnell wie möglich von hier weg, Dante!«

»Das machen wir auch«, versicherte Dante. »Bestimmt geben uns Yakimura und der Major ein paar von ihren Männer mit, damit wir sicher durch die Dunkelwelt und über die Berge kommen.«

»Aber erst mal müssen wir hier mit unseren Freunden heil von der Insel kommen. Und irgendwie habe ich das ungute Gefühl, dass die Sache längst noch nicht vorbei ist, auch wenn wir mit der Insel einen Trumpf in der Hand halten«, befürchtete Kendira und sah ihn mit einem sorgenvollen Blick an.

»Das ist mehr als nur ein gewöhnlicher Trumpf. Eher so was wie ein Maxi-Joker, der alles sticht, was Hyperion jetzt noch an Karten in der Hand hält«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Dass sie die Insel verlieren könnten, damit hat die Bande nicht gerechnet. Die Leute unten in der Schaltzentrale waren nicht mal bewaffnet, so sicher sind sie sich ihrer Macht und Unbezwingbarkeit gewesen. Mann, du hättest mal ihre dämlichen Gesichter sehen sollen, als ich mit Duke in die Schaltzentrale gestürmt bin. Die haben erst gar nicht begriffen, dass das Spiel für sie aus ist. Erst als einer den Helden spielen wollte und Duke das halbe Magazin in ihn geleert hat, haben sie kapiert, was die Stunde geschlagen hat!«

Kendira wollte etwas darauf sagen, doch da kam Nekia die Treppe hochgelaufen: »Major Marquez und der Tai-Pan möchten, dass ihr runter in die Schaltzentrale kommt!«

»Und? Hat der Wächterrat kapituliert?«, fragte Dante erwartungsvoll.

»Nein, die Kerle weigern sich, direkte Verhandlungen aufzunehmen. Der Tai-Pan argwöhnt, dass sie versuchen, auf Zeit zu spielen, aber den Zahn wollen die beiden ihnen ganz schnell ziehen«, teilte Nekia ihnen mit. »Deshalb sollt ihr ja auch kommen. Ihr sollt dabei sein, wenn sie Hyperion endgültig in die Knie zwingen. Fragt mich nicht, warum, sondern kommt!«

Verwundert sahen sich Dante und Kendira an. Dann begaben sie sich mit Nekia hinunter in den großen Raum der Schaltzentrale. An den Konsolen saßen die vier verängstigten, blassgesichtigen Reaktortechniker Eastwood, Patterson, Blackstone und Harrington, scharf bewacht von Akahito, Liang und einem halben Dutzend Sons of Liberty.

Zeno nickte ihnen zu, als sie durch die Tür kamen. Mit umgehängter MP und vor der Brust verschränkten Armen lehnte er neben der riesigen Schalttafel mit den vielen Monitoren an der Wand.

Kendira hatte das Gefühl, als hätte er seine einst plumpe Körperhülle abgeworfen und wäre über Nacht zudem auch noch ein mächtiges Stück gewachsen. Vielleicht aber hielt er sich auch nur aufrechter. Verändert hatte er sich jedoch auf jeden Fall. Im Gesicht war er schmaler geworden, und wenn der Zeno von früher jetzt vor jungenhaftem Stolz fast geplatzt wäre und wie ein Schmalzkringel frisch aus dem Fettbad gestrahlt hätte, so drückte seine Miene jetzt ein völlig neues, erwachsenes und zugleich doch gelassenes Selbstbewusstsein aus. Er wusste, welche Gefahren er überlebt und welche Taten er vollbracht hatte, und den Stolz, den er darüber empfand, brauchte er nicht plakativ vor sich herzutragen. Jeder hatte es gesehen, und keiner von ihnen würde vergessen, was in den wenigen zurückliegenden Tagen geschehen war.

Kendira registrierte noch, dass Nekia sich hinüber zu Carson begab und er nach ihrer Hand griff. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit ganz von Major Marquez in Anspruch genommen. Der Milizenführer stand mit einer Automatik in der Hand neben dem Hyperion-Techniker Eastwood, der als Einziger einen weißen Overall trug, sich Master Controller nannte und zurzeit der ranghöchste Reaktortechniker auf der Insel war.

»Also gut, dann werden wir Ihnen zeigen, dass wir nicht bluffen!«, sagte der Major mit schneidender Stimme in das Bogenmikrofon vor einem Bildschirm, auf dem eine Gruppe von Männern, der allmächtige Wächterrat von Hyperion, um einen Konferenztisch herum zu sehen war.

Einer aus der Herrscherclique setzte zu einer wütenden Erwiderung an, doch der Major drehte sofort den Lautstärkeregler auf null. »Toben Sie, wie Sie wollen, hier hört Sie keiner mehr!«, teilte er ihnen kalt mit. »Ich habe den Ton abgestellt. Ich denke, wir werden später andere Töne von Ihnen hören. Also hören und sehen Sie jetzt gut hin, meine Herren!« Dann wandte er sich Eastwood zu und forderte ihn auf: »Zeigen Sie mir, wo sich die zentrale Notabschaltung für die Reaktoren befindet!«

Eastwood schluckte nervös. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!«

»Lassen Sie die dummen Spielchen, Controller!«, herrschte der Major ihn an. »Ich weiß, dass es so eine kontrollierte Zentralabschaltung gibt. Also noch einmal: Wo ist sie?«

Mit zitternder Hand deutete Eastwood auf eine quadratische Vertiefung von etwa doppelter Handgröße in der Konsole. Die Abdeckplatte aus geriffeltem Metall, die Marquez aufschob, trug das Hyperion-Symbol. Darunter kamen ein Tastenfeld, ein Displayfenster, mehrere Kontrollanzeigen und ein Schieberegler mit einem roten Griffstück zum Vorschein.

»Na also!«, sagte Marquez zufrieden und forderte ihn mit kalter Höflichkeit auf: »Und jetzt bitte den Code!«

»Ich habe ihn nicht!«, stieß Eastwood keuchend hervor. »Hier auf der Insel hat ihn keiner! Wenn … wenn ein Notfall die rasche Abschaltung aller Reaktoren nötig macht, müssen wir erst den Wächterrat alarmieren. Nur er kennt die drei Codesequenzen für die drei Blöcke!«

»So, nur der Wächterrat kennt die Codes?«, vergewisserte sich der Major mit hochgezogenen Brauen.

Eastwood leckte sich über die trockenen Lippen und nickte heftig. »Ja, nur der Wächterrat!«, beteuerte er, während ihm der Schweiß ausbrach. »Ich schwöre es!«

Bevor der oberste Controller wusste, wie ihm geschah, hatte Marquez ihm die Mündung der Waffe aufs Knie gesetzt. »Wenn Sie nicht endlich mit den Codes herausrücken, drücke ich ab!«, drohte er mit unbarmherziger Härte. »Denn natürlich kennen Sie die Codes! Sie müssen Sie kennen. Und früher oder später werden ich sie aus Ihnen herausbekommen, das schwöre ich Ihnen! Es liegt also ganz bei Ihnen, ob Sie als Krüppel enden wollen – und wie stark verkrüppelt!« Er atmete kurz durch und fragte mit eisiger Stimme: »Entscheiden Sie sich, Controller: Ihr Knie oder die Codes?«

»Warten Sie!«, rief Kendira. Es war genug Blut geflossen, und ihr Sieg sollte nicht durch Folter befleckt werden, auch wenn Eastwood den Tod sicherlich mehr als verdient hatte. »Das System wird die Reaktoren bestimmt automatisch abstellen, wenn wir erst mal ein paar Salven aus einer MP in die Konsolen gejagt haben!« Sie winkte Zeno heran. »Übernimm du das!«

Zeno grinste. »Mit Vergnügen«, sagte er und lud die Waffe durch.

Mit einem Ausdruck nackten Entsetzens riss Eastwood die Hände hoch, als wollte er damit seine Schaltzentrale davor schützen, auf Dauer unbedienbar zu werden. »Halt! Nicht! Warten Sie!«, schrie er. »Ich sage Ihnen die Codes!«

»Endlich werden Sie vernünftig!«, knurrte der Major, nahm die Waffe vom Knie des Controllers und sicherte sie.

Eastwood nannte ihm die drei Codesequenzen und Marquez tippte sie nacheinander in das Tastenfeld ein. Nacheinander blinkten drei rote Warnlampen auf und im Display leuchtete die Meldung Bereit zur kontrollierten Notabschaltung von Block I, Block III, Block IV auf. Gleichzeitig sprangen tief unten die Dieselmotoren des Notaggregats an und in allen Gängen und Hallen verkündeten optische und akustische Signale die bevorstehende Abschaltung der drei Reaktoren.

Major Marquez ließ Eastwood aus der Schaltzentrale schaffen. Dann wandte er sich zu Dante und Kendira um. »Kommt, übernehmt ihr das Abschalten!«, forderte er sie auf. »Das ist der Schlag, der diese verbrecherische Bande in die Knie und hier an den Verhandlungstisch zwingen wird, wenn nämlich gleich drüben in Presidio das Licht ausgeht – und in Pacifica und Panamera ebenfalls. Das bricht ihrer langen Alleinherrschaft das Genick!«

Der Tai-Pan nickte. »Führt ihr diesen letzten KO-Schlag aus. Ihr habt es mehr als verdient.«

Auch Zeno, Carson und Nekia schlossen sich der Aufforderung der beiden Männer an.

Kendira schauderte, als sie mit Dante an die Konsole trat, die Hand nach dem Schiebehebel ausstreckte – und dann kurz darüber verharrte. Dante legte ihr seinen linken Arm um die Schulter und drückte dann sanft, aber entschlossen ihre Hand mit der seinigen auf den Hebel hinunter. Dann schob er seine Finger ein wenig zwischen ihre Finger, sodass ihre Hände nun halb ineinanderverschränkt auf dem Hebel lagen. Kendira empfand die Verbindung ihrer Hände wie eine wortlose Versicherung, dass es richtig war, was sie taten, und dass diese letzte Geste, wie symbolisch sie auch sein mochte, ihre Abrechnung mit Hyperion zum Abschluss brachte.

Gemeinsam und ohne jedes Zögern schoben sie den Hebel energisch und bis zum Anschlag nach vorn.

Nicht ein einziges Wort fiel in der Schaltzentrale, während sich unten in den Hallen Hunderte Steuerstäbe in die Reaktorbecken und zwischen die Brennstäbe senkten. Alles starrte auf die Anzeigen, folgte den drei in sich zusammenfallenden roten Leuchtskalen und den proportional dazu ansteigenden grünen Lichtbalken.

Und dann leuchtete ein einziges Wort im Display auf:

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