TOMAMATO ISLAND
Die Tür zur Galerie ging hinter Duke auf. Er drehte sich kurz um. Das Mondlicht fiel auf ein schlankes, stupsnasiges Mädchen mit rehbrauner Pagenfrisur. Der Reißverschluss ihres Overalls stand über der Brust ein gutes Stück offen und nackte Haut schimmerte im Ausschnitt.
Colinda.
Auch sie hielt einen Kaffeebecher in der Hand.
»Nicht gerade der erhebende Anblick, den ich erwartet hatte, als ich letzte Woche voller Vorfreude ins Lichtschiff stieg und glaubte, nun geht es endlich zum hochwürdigen Dienst in den Lichttempel«, sagte sie mit bitterem Spott, deutete mit der freien Hand in Richtung der Dunkelwelt am fernen Ufer und stellte sich neben ihn ans Geländer.
»Wahrlich nicht!«, antwortete er. »Weiß nicht, wann ich jemals schwerer enttäuscht gewesen wäre als bei unserer Ankunft hier!«
Colinda schnaubte. »Wenn mich je etwas eiskalt erwischt hat, dann ist das die Sache hier mit Tomamato Island!«
Sie schwiegen einen Moment, vereint in ihrem tiefen Groll, und schlürften ihren heißen Kaffee. Dann sagte Colinda mit ratloser Miene: »Ich verstehe einfach nicht, warum die Oberen uns nicht von Anfang an gesagt haben, dass wir erst noch einige Monate hier im Großen Dampferzeuger verbringen müssen, bevor es endgültig zum Lichttempel geht.«
»Ist mir auch ein Rätsel«, erwiderte Duke. »Und es gefällt mir gar nicht. Denn was für einen Grund kann es geben, der es den Oberen ratsam erscheinen lässt, uns nichts darüber zu sagen?«
Sie schwiegen wieder eine Weile, tranken ihren Kaffee in kleinen Schlucken und blickten gedankenverloren hinaus auf die dunklen Fluten, die mit leisem Rauschen die felsigen Ufer von Tomamato Island umspülten. Die Lichtkegel einiger weniger Scheinwerfer, die irgendwo an den Längsflanken des gewaltigen Inselkomplexes angebracht sein mussten, wanderten träge über das ufernahe Gewässer. Offenbar musste man auch hier vor Nightraidern auf der Hut sein.
Dann sagte Colinda: »In der Lichtburg hatte ich nie Probleme mit dem Schlafen. Und Albträume habe ich auch nicht gekannt. Hier aber wache ich jede Nacht mit Beklemmungsgefühlen auf und kann dann nicht wieder einschlafen.«
»Komisch, mir geht es genauso«, murmelte er über den Rand seines Bechers hinweg. »Und heute war’s eine besonders lausige Nacht. Die Sache mit Ashton hat mich im Schlaf verfolgt.«
Colinda lachte trocken auf. »Kein Wunder! Aber sag mal, warum hast du dich gestern freiwillig gemeldet, im Sperrbereich nach Ashton zu suchen? Das wäre doch eine Aufgabe für einen der Alten gewesen. Wir sind mit den Kontrollgängen im Sperrbereich doch erst in ein paar Wochen dran, wie Tec Master Patterson uns mitgeteilt hat.«
Duke verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Ich weiß auch nicht. Es hat sich einfach so ergeben. Und ich hatte doch schon den belüfteten Schutzanzug an.«
»Aber das war doch nur eine Übung. Es ging darum, wie man ihn richtig benutzt und wie man die Schleusen vorschriftsmäßig zu passieren hat, wenn man aus dem Sperrbereich zurückkommt!«, wandte sie sofort ein.
»Ja, schon, aber ich dachte wohl, dass es nicht so schwer sein kann, in den Korridoren hinter der Sicherheitsschleuse nach Ashton Ausschau zu halten«, erwiderte er. »Und das war es ja auch nicht. Er lag gleich hinter der ersten Abzweigung im Bleiplattentunnel.«
Er brach ab und schluckte. Der Anblick von Ashtons verkrümmter Leiche, sein grässlich verfärbtes Gesicht und der Schaum vor seinem Mund würden ihn noch lange verfolgen, und ganz sicher nicht nur in seinen Träumen.
»Warum er sich bloß die Atemmaske vom Gesicht gerissen hat«, sagte Colinda beklommen. »Er hat doch gewusst, dass es im Sperrbereich giftige Gase gibt. Und hast du nicht gesagt, dass er noch genug Atemluft in seinem Tank hatte?«
Duke nickte. »Sogar noch für mehrere Minuten. Er muss einfach die Nerven verloren haben – oder den Verstand, wie Tec Master Patterson vermutet.«
Wieder trat ein kurzes Schweigen zwischen ihnen ein. Nur das Rauschen der Fluten war zu hören, und aus dem Innern des monströsen Betonklotzes kam das tiefe Brummen, das nie verstummte.
»Sieht es in dem zerstörten Bereich wirklich so grauenhaft aus, wie die Alten erzählen?«, fragte dann Colinda.
»Keine Ahnung, ich musste ja nicht tief in die Sperrzone hinein. Aber auch in dem vorderen Bereich sieht es unheimlich aus«, räumte Duke ein. »Schon weil es da kein Licht gibt und weil man weiß, dass in der Luft diese vielen giftigen Substanzen herumschwirren.«
»Na ja«, meinte Colinda. »Ich werde mich bestimmt nicht darum reißen, dort auf Kontrollgang zu gehen.«
Er zuckte die Achseln. »Wir alle müssen dort unsere Prüfgänge absolvieren, das hast du doch gehört. Jede Woche muss einer von uns mit den Messgeräten dort rein und die Runde bis zur Halle machen, wo die Explosion passiert ist.«
Colinda seufzte. »Ich werd’s schon packen, wenn es so weit ist.« Dann wechselte sie das Thema, als wollte sie nicht über das nachdenken, was sie im roten Sperrbereich erwartete. »Sag mal, bist du aus dem schlau geworden, was Blackstone über unsere Aufgaben hier im Großen Dampferzeuger gesagt hat?«
Verwundert sah Duke sie an. »Aber das war doch alles sonnenklar«, sagte er und fasste noch einmal zusammen, was Tec Master Blackstone ihnen am Morgen ihrer Ankunft erklärt hatte. »Wir lernen hier auf Tomamato Island den praktischen Umgang mit großen Dampferzeugern, die entsprechenden Reparatur- und Wartungsarbeiten und später auch oben in der Schaltzentrale die Kontrolle und Verteilung des erzeugten Stroms an die drei Hisecis. Erst wenn wir das beherrschen, sind wir reif für unsere Aufgaben im Lichttempel.«
Sie warf ihm einen spöttischen Seitenblick zu. »So weit habe ich das auch kapiert. Was ich nur merkwürdig finde, ist das Verhalten unserer Tec Master und Sec Master.«
»Was soll denn daran merkwürdig sein?«, fragte Duke.
»Na, dass sie sich nur ganz selten bei uns zeigen, und wenn doch einmal, dann bleiben sie nur für ein paar Minuten. Auch kontrollieren sie nie persönlich die Ausführung unserer Arbeiten. Nicht einmal in den Werkstätten lassen sie sich blicken.«
»Keine Sorge, sie passen schon auf, was wir tun und dass uns keine Fehler unterlaufen, wenn wir irgendwelche Teile in den Werkstätten herstellen sollen!«
»Ja, ich weiß, über die Kameras, die überall hängen. Und in den Werkstätten geben sie uns über die Terminals Anweisungen, wenn wir Schwierigkeiten haben«, sagte Colinda und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Aber irgendwie kommt mir das eben merkwürdig vor – mal ganz davon abgesehen, dass mir das mit den vielen Kameraaugen, die uns auf Schritt und Tritt folgen, überhaupt nicht gefällt. So überwacht zu werden, gibt mir nicht gerade das Gefühl, für einen hochwürdigen Dienst auserwählt zu sein.«
»Vermutlich gehört das schon zum letzten Test, den wir hier zu bestehen haben. Nämlich ob wir in der Lage sind, selbstständig zu arbeiten, ohne dass uns ein erfahrener Master zur Seite steht und uns sozusagen die Hand hält«, mutmaßte Duke. »Ich bin sicher, wenn wir erst mal im Lichttempel sind, wird er uns den Atem rauben und uns für alles entschädigen, was uns hier nicht gefällt.«
Die Beunruhigung verschwand aus Colindas Gesicht und an deren Stelle trat ein Ausdruck freudiger Verklärtheit. »Erhabene Macht, wenn es doch nur schon so weit wäre!«, seufzte sie. »Wenn wir den Lichttempel doch wenigstens schon mal sehen könnten!«
Duke nickte. »Ja, wirklich zu blöd, dass die Galerie hier an der nordöstlichen Außenmauer hängt und nicht auf der anderen Seite der Anlage. Denn dann könnten wir Presidio und den Lichttempel sehen, da er ja auf einer Landzunge direkt vor der Stadt liegt. Was wäre das für ein toller Anblick in unseren Freistunden!«
»Leider hängt sie aber hier, und vom Anblick der Dunkelwelt, diesem bis zum Horizont reichenden Meer rauchender Trümmer, habe ich schon genug«, erwiderte Colinda und kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter. »Ich geh wieder rein. Kommst du mit? Wir könnten eine Runde Billard spielen, was meinst du?«
Duke lächelte sie an. In Liberty 9 hatte er Colinda keine sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt. Doch seit sie auf Tomamato Island waren, sah er sie mit anderen Augen – und sie gefiel ihm ausnehmend gut. »Klar, gerne! Geh schon mal vor, ich trink nur noch meinen Kaffee aus, dann komm ich.«
Nachdem Colinda gegangen war, leerte Duke in aller Ruhe seinen Becher. Dann drehte er sich um und wollte schon zur Tür, als er stutzte.
Täuschte er sich im Dunkeln, oder war es wirklich das, was er glaubte, im schwachen Mondlicht entdeckt zu haben? Ein größeres Wolkenfeld schob sich gerade vor den abnehmenden Mond. Doch der Wind trieb es rasch über den Himmel. Gleich würde die Sicht wieder besser sein, bis das nächste Wolkenschiff heransegelte.
Mit raschen Schritten ging er ans Ende der Galerie, zwängte den Kopf zwischen die Eisenstäbe und beugte sich so weit vor, wie es das Gitter erlaubte, und spähte schräg nach oben.
Als das Wolkenfeld einen Moment später am Mond vorbeizog und die milchige Scheibe wieder klar am Himmel stand, hatte er die Gewissheit, dass er sich nicht getäuscht hatte. Auf der anderen Seite des Gebäudes reichte ein ähnlicher Laufsteg aus Gitterrosten, aber ohne Gitterüberdachung, bis an die Gebäudeecke. Er konnte das seitliche Begrenzungsgitter und eine der schrägen Stützstreben unter dem Laufrost deutlich erkennen.
Von dort muss man einen völlig freien Blick auf Presidio und den Lichttempel haben!, schoss es ihm durch den Kopf.
Der Gedanke elektrisierte ihn. Und augenblicklich wusste er, was er zu tun hatte. Er musste einen Weg finden, um auf den offenen Laufsteg dort drüben zu gelangen!