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»Hey, alle mal zuhören da draußen! In der Kaserne, auf den Wachtürmen, auf Streife und wo ihr euch sonst noch in die Hose macht!«
Im ersten Moment fuhren Dante und Carson verblüfft zusammen und schauten sich ungläubig um. Ihnen war, als stünde Zeno mit einem Megafon am Mund direkt hinter ihnen.
Doch dem war nicht so. Vielmehr schallte Zenos Stimme mit maximaler Phonstärke aus den Lautsprechern. Und diese befanden sich nicht nur an der Fassade der Lichtburg, sondern waren auch an allen anderen Gebäuden innerhalb der Sicherheitszone angebracht, auch drüben in Eden.
»Es wird Zeit, diesen Schwachsinn hier zu beenden! Hört auf, wild um euch zu ballern und euch einzureden, ihr könntet noch irgendetwas reißen und das Blatt wenden! Die Sache ist gelaufen, ihr Dumpfbacken!«, verkündete Zeno. »Jetzt sind wir am Drücker, die Electoren, die ihr in der Strahlenhölle des Lichttempels für eure Privilegien krepieren lassen wolltet, und die Servanten, die ihr hier wie Sklaven gehalten habt! Eigentlich müssten wir euch alle umlegen. Aber wir sind heute gut drauf, weil wir alle Oberen auf einen Schlag gefangen genommen und Liberty 9 im Handstreich erobert haben. Aber wenn ihr euer Leben retten wollt, müsst ihr jetzt eure Waffen wegwerfen und kapitulieren. Wer es nicht tut, kann sich eigentlich gleich selbst die Kugel geben«, schallte es durch das Tal.
»Aber vielleicht seid ihr ja zu begriffsstutzig, um zu kapieren, was die Stunde geschlagen hat«, fuhr Zeno in seinem sarkastischen Plauderton fort. »Deshalb habe ich einen von euren Offizieren mitgebracht. Na ja, der Bursche hat sich erst ein bisschen geziert, aber irgendwie habe ich ihn dann doch dafür gewinnen können. Wie schnell man doch seine Meinung ändert, wenn einem andernfalls das Gehirn aus dem Schädel geblasen oder die Kehle durchgeschnitten wird. Ich glaube, erst mal skalpieren und die Augen rausschneiden war ein anderer Vorschlag, den einer aus der Truppe unserer tapferen Mountain Men gemacht hat.«
Von den Dächern des Gym und des Schwarzen Würfels kam raues Gelächter. Auch die Männer vom Wolf-Clan zeigten sich belustigt. Längst war kein einziger Schuss mehr zu hören. Das ganze Tal schien der ätzenden Jungenstimme aus den Lautsprechern zu lauschen.
Selbst der ansonsten wortkarge Jedediah äußerte Anerkennung. »Der Bursche ist gut«, sagte er. »Wirkungsvoller als ein Dauerfeuer aus einem Dutzend Gewehren. Ihr hättet ihn eher vor das Mikrofon setzen sollen!«
»Jaja, unsere naturverbundenen Freunde aus den Bergen der Sierra Nevada haben schon einen recht eigenwilligen Humor«, setzte Zeno seinen Monolog vor dem Mikro im Dienstzimmer des Primas fort. »Aber zurück zur Sache, ihr Verlierer da draußen. Eigentlich wollte ich das Wort jetzt an den ehrenwerten Commander Ferguson übergeben. Geht leider nicht. Der große Krieger Ferguson, der hier jahrelang so tapfer todgeweihte Kinder und Jugendliche bewacht hat, er hat den Helden spielen wollen und sich zur Belohnung nicht nur eine Kugel eingefangen, sondern auch noch eine Streitaxt. Die hat ihm sozusagen das Wort abgeschnitten. Und zwar für immer. Deshalb übernimmt seinen Part nun First Lieutenant Blake. Nehmt es ihm nicht übel, wenn er nervös und ein wenig bedrückt klingt … Na los, Lieutnant, jetzt sind Sie an der Reihe! Nur zu und Mut gefasst. Das Ding hier beißt nicht … Sagen Sie ihren Kameraden da draußen im Valley doch etwas Tröstliches!«
Erst war nur ein wütendes Schnauben und ein scharfes Zischen zu hören, dann drang Lieutenant Blakes Stimme, die ein heiseres und abgehacktes Bellen war, aus den Lautsprechern.
»Verdammt! … Ja, es … stimmt … es stimmt alles, was er sagt! Liberty 9 ist verloren. Weiß der Teufel, wie sie die Bande Nightraider ins Lager gebracht haben. Es sind mehr als fünfzig Mann. Alle sind schwer bewaffnet. Sie haben die Waffenkammer geplündert. Ja, Commander Ferguson ist tot … Alle Oberen sind festgenommen und eingesperrt … Die Kaserne ist unter Lockdown, Templeton hatte den Electoren und Servanten alles verraten. Wer jetzt noch weiterkämpft, stellt sich sein eigenes Todesurteil aus. Aber man hat uns Garantien gegeben. Wer aufgibt, kommt mit dem Leben davon. Und er darf das Lager ungeschoren verlassen. Wir hier haben kapituliert und …« Seine Stimme brach ab, und es dauerte eine Weile, bis Lieutenant Blake sich endlich dazu durchrang, auszusprechen, was ihm zutiefst widerstrebte. »Und als ranghöchster Offizier von Liberty 9 erteile ich euch den Befehl, auf der Stelle jegliche Kampfhandlungen einzustellen und euch zu ergeben! Ich wiederhole: Jegliche Kampfhandlungen sind einzustellen! Das ist ein Befehl!«
»Na wunderbar, Lieutenant!«, hörte man nun wieder Zenos Stimme. »Das haben Sie gut gemacht.«
Aus dem Loch in der Kasernenwand flog nun ein weißes Bettlaken, begleitet von dem lauten Zuruf: »Wir ergeben uns!«
Sofort verkündete Zeno im ganzen Tal, dass die Garnison kapituliert habe.
Erlöst sackte Dante in den harten Metallsitz der Planierraupe. Es war vorbei. Mit Aufgabe der mehr als hundert Guardians in der Kaserne war der letzte entscheidende Dominostein gefallen. Sie versetzte der verbrecherischen Herrschaft der Oberen und der Guardians über das Tal den Todesstoß. Jetzt brauchten sie nicht länger zu bangen, ob sie bis zum Eintreffen des Lichtschiffes das Tal auch wirklich völlig unter ihre Kontrolle gebracht haben würden. Jetzt würden sich keine Widerstandnester mehr bilden und die Kämpfe in die Länge ziehen. Ihr tollkühnes Vorhaben, Liberty 9 zu erobern und alle gegenwärtigen und zukünftigen Electoren und Servanten von Hyperions mörderischem Joch zu befreien, war gelungen.
Dante vermochte es kaum zu glauben. Und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich frei – richtig frei und als Herr seines eigenen Schicksals.
Dass er noch in dieser Nacht nach Tomamato Island aufbrechen würde, trübte dieses berauschende Gefühl nicht im Mindesten.