37
Kendira saß am Fenster des Steamers und versuchte, sich einen Eindruck von der Umgebung zu verschaffen, durch die sie fuhren. Der schmale Spalt zwischen den Metallstreifen und die schlechten Lichtverhältnisse machten es jedoch unmöglich, mehr zu erhaschen als nur flüchtige Sekundenblicke auf Ruinen.
Von manchen Gebäuden standen nur noch Teile der Fassaden. Hier und da leuchtete das einsame Licht einer Lampe oder eines Feuers in dem dunklen Rechteck eines glaslosen Fensterlochs auf. Es huschten von Unkraut überwucherte Trümmerberge und immer mal wieder einige Reihen windschiefer Hütten aus Brettern und Wellblech vorbei, begleitet von Rauchwolken. Straßenlaternen gab es nirgends, dafür überall offene Feuer.
Wiederholt tauchten in ihrem schmalen Blickfeld ausgebrannte Fahrzeuge aller Art am Straßenrand auf. Manche lagen halb unter Schutt begraben, während andere Wracks, die wie Reisebusse und Straßenbahnwaggons aussahen, offenbar bewohnt waren. Dann wieder flogen halb eingestürzte Mauern mit unlesbaren Graffitis an ihr vorbei, begleitet von aufgebrochenen Asphaltdecken und Gehwegen, aus denen Gras und niedriges Gesträuch wuchs.
Aber die Dunkelwelt war nicht ausgestorben, sondern es wimmelte förmlich in ihr von Leben, das war selbst durch den Schlitz zu erkennen. Ständig erhaschte sie einen kurzen Blick auf abgerissene Gestalten, die um ein Kochfeuer hockten, Abfall durchwühlten, Metallteile schleppten, sich an schweren Gittern zu schaffen machten, die offenbar zu Werkstätten oder Geschäften gehörten, und überall aus den Ruinen auftauchten. Auf einem der freien Plätze sah sie vor einem großen Zelt sogar eine lange, gewundene Schlange abgerissener Gestalten jeden Alters. Doch die meisten Menschen, auf die ihr Blick flüchtig fiel, bewegten sich wie Schatten durch die Trümmerwelt, als scheuten sie das Licht, die Begegnung mit anderen Menschen – oder beides.
Auf einmal bremste der Steamer und fuhr dann langsam weiter, während er einer langen Linkskurve folgte. Barrikaden aus Betonblöcken verengten zu beiden Seiten die Fahrbahn und zwangen den Fahrer kurz zu einem Schritttempo. Das gab Kendira sowie Dante und Zeno, die hinter ihr auf ihrer Gangseite die Fensterplätze belegten, die Gelegenheit, sich die Gegend vor ihnen etwas genauer anzusehen.
Angestrengt spähte Kendira durch den Spalt aus dem Fenster. Einige wenige Sekunden lang wurde ihr Blickfeld von einer langen Reihe von Hochhäusern eingenommen. Sie bildeten ein auf dem Kopf stehendes L, wobei die lange senkrechte Linie aus mindestens zwölf Gebäuden schräg auf sie zulief. Vor den Gebäuden erstreckte sich ein weites, freies Feld. Früher war es vielleicht einmal ein Park gewesen. Jetzt sah es mit seinen ordentlich ausgerichteten Beeten, Spalierstangen und Grüngewächsen wie ein Gemüsefeld aus, das von Buschreihen, Seilen und Drahtgespann sowie niedrigen Hecken und Lattenzäunen in viele verschieden große Parzellen unterteilt wurde. Hier und da wuchsen sogar einige Bäume.
Die Architektur der dahinterliegenden Siedlung aus Wohnhäusern war denkbar schlicht, ja primitiv. Es handelte sich um längliche einförmige Kästen, ehemals wohl preiswerte Wohnkasernen für Minderbemittelte. Sie alle erhoben sich dreißig Stockwerke hoch in den sich nun rasch aufhellenden Himmel.
Schwer beschädigt waren sie alle. Einige von den näher stehenden Gebäuden waren sogar teilweise eingestürzt. Merkwürdigerweise waren die oberen Etagen jedoch nicht auf ganzer Länge und Breite eingestürzt, sondern nur auf halber oder sogar nur auf einem Drittel der Gebäudelänge.
Es sah so aus, als hätte das auf der eingestürzten Seite verwendete Baumaterial den Erdstößen nicht so gut widerstehen können wie die Bausubstanz des restlichen Hochhauses. Womöglich war auch Pfusch bei der Errichtung der Wohnkasernen im Spiel gewesen.
Was jedoch allen gemein war, war die offensichtliche Tatsache, dass ein Feuersturm über sie hinweggegangen war. Es gab keine einzige Fassade in dieser Siedlung, die nicht starke Brandspuren aufwies, bei manchen reichten sie sogar bis hoch ans Dach. Auch suchte man vergebens nach einer Hausfassade mit noch intakten Fenstern. Hunderte dunkler, rußgeschwärzter Löcher starrten wie leere Augenhöhlen in den anbrechenden Tag. Zwischen den Hochhäusern hingen irgendwelche Kabelstränge. Was genau es damit auf sich hatte, vermochten sie in der Kürze der Zeit und bei dem Geruckel des Dampfbuses nicht festzustellen.
»Das werden sie wohl sein, die Samurai Towers!«, murmelte Dante hinter Kendira. Seine Hand lag neben ihrer Schulter auf der Rücklehne, und sie fühlte sich in ihrer Beklemmung versucht, nach ihr zu greifen und sich daran festzuhalten.
»Eine wirklich noble Adresse für eine Gang von Dunkelwelt-Samurai!«, ätzte Carson.
»Mag sein, aber die Typen mit solchen Sprüchen noch zu reizen, wird unsere Lage bestimmt nicht verbessern!«, kam es grimmig von Flake, der ihm gegenüber auf der anderen Gangseite saß.
»Ob sie sich selbst wirklich Samurai nennen?«, fragte Fling.
»Wenn’s hier oben auf dem Steamer so steht, wird’s wohl auch so sein«, erwiderte Zeno trocken. »Glaube nicht, dass sie das zur Tarnung gemacht haben, damit niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit Stadtindianer sind.«
Fling und Flake kicherten belustigt.
»Diese Meute, die uns gleich nach dem Absturz überfallen hat, hat sie Jachis genannt«, sagte Kendira leise. »Aber vielleicht nennen nur andere sie so. Vielleicht weil ihre Gang aus Leuten japanischer wie chinesischer Herkunft besteht.«
»Ja, das würde Sinn ergeben«, meinte Nekia. »Und wenn ich mich nicht täusche, ist der Name Tai-Pan in China die Bezeichnung für den obersten Führer.«
»Aber Samurai sind doch japanische Krieger gewesen, da kann deren Anführer doch nicht den chinesischen Titel eines Tai-Pan führen!«, wandte Flake ein. Sie alle hatten mehr oder weniger dieselben Bücher und dieselben Filme gesehen. Alles, was sie über die Welt außerhalb von Liberty 9 wussten, hatten sie aus dem Fundus der Mediathek. »Die beiden Völker waren sich doch immer spinnefeind.«
»Und? Es hat auch einmal ein Amerika gegeben, das aus einer Nation bestand und nicht wie jetzt aus anderthalb Dutzend untereinander verfeindeter Herrschaftsgebiete mit den unterschiedlichsten Regierungsformen«, hielt Dante dagegen. »Vielleicht mussten sich die beiden Gruppen nach dem Großen Weltenbrand zusammenschließen, um sich gegen die anderen Gangs behaupten zu können.«
Im nächsten Moment verschwand die Hochhaussiedlung aus ihrem Blickfeld. Der Steamer steuerte nun direkt auf den Gebäudekomplex zu. Augenblicke später passierten sie eine weitere Barrikade. Diesmal bestand sie aus Sandsäcken. Sie waren so hoch aufgestapelt, dass sie bis zur Unterkante der Busfenster heranreichte.
Kendiras Blick fiel auf ein mit Wellblechplatten überdachtes Holzpodest, das sich auf ihrer Seite gleich neben der Durchfahrt hinter den Sandsäcken erhob und mit einem Maschinengewehr bestückt war. Zwei Männer mit leicht asiatischen Zügen, aber bekleidet mit ausgebleichten Jeans und ähnlich ausgewaschenen Hemden mit buntem Karomuster hockten dahinter.
Dann ratterte der dampfbetriebene einstige Schulbus eine Rampe hinunter – und schlagartig wurde es dunkel um sie herum.