30
Reglos stand Dante vor dem wandlangen Spiegel, der sich im Vorraum der Toilette über die drei Waschbecken erstreckte. Er konnte seinen Blick einfach nicht von seinem Abbild nehmen. Das tiefe Brummen, das aus der Ferne kam und schnell zu dem rhythmisch dröhnenden schrap-schrap-schrap eines Rotors anschwoll, nahm er in seinem Zustand seltsamer Entrückung nur mit dem Unterbewusstsein wahr. Er starrte sich an, als würde der Spiegel das Bild eines Fremden zurückwerfen. Dabei gab er in dieser Nacht genau das Bild ab, nach dem er sich so viele Jahre lang gesehnt hatte.
Er trug die silbrig-blaue Kutte eines Electors!
Langsam fuhren seine Hände über das geschmeidige Gewebe, als müsste er sich einmal mehr vergewissern, dass er nicht träumte und sein Spiegelbild ihn nicht trog. Eine Gänsehaut lief ihm dabei über die Arme, und er musste schlucken, weil ihm irgendetwas die Kehle zuschnürte.
Es gab nichts, was er sich in den letzten sechs Jahren mehr gewünscht hatte. Was hätte er noch vor wenigen Wochen dafür gegeben, wenn man ihm die Chance eröffnet hätte, aus dem Servantenstand in die Reihen der Electoren aufsteigen und das Gewand der Auserwählten tragen zu dürfen! Alles hätte er dafür geopfert. Selbst die Suche nach einem Weg in die Freiheit, mit der Jaydan ihn angesteckt hatte.
Jahrelang hatte er unter dem Makel gelitten, mit zwölf bei den winterlichen Selectionen gescheitert zu sein. Jeden Tag hatten beim Anblick der Electoren, die im Bewusstsein ihrer besonderen und großartigen Berufung die Lichtburg mit ihrem fröhlichen Selbstbewusstsein erfüllt hatten, Bitterkeit, Neid und Minderwertigkeitsgefühle an ihm gefressen. Wie schwer war es ihm gefallen, sie im Refektorium tagtäglich zu bedienen, ohne dabei zu erkennen zu geben, wie sehr er sie hasste – und zugleich doch abgöttisch bewunderte und um jeden Preis einer von ihnen hatte sein wollen!
Und jetzt, nachdem sich diese Berufung als Täuschung und als Todesurteil herausgestellt hatte, trug er die Electorenkutte, für die er selbst sein Leben hergegeben hätte. Wie irrwitzig.
Es war, als hätte er einen Sieg errungen, der einmal einzigartig gewesen war, plötzlich aber nichts mehr galt.
Dante zuckte zusammen und fuhr erschrocken aus seinem beinahe tranceartigen Zustand, als plötzlich die Tür hinter ihm aufgestoßen wurde und gegen die Wand knallte.
Carson stürmte herein. »Mann, wo bleibst du denn? Hörst du das nicht? Der Chopper ist im Anflug! Er wird in ein paar Minuten landen und du trödelst noch immer hier unten herum!«
»Oh!«, entfuhr es Dante. »Ich war ganz in Gedanken.«
Carson lachte spöttisch. »Nicht gerade der beste Zeitpunkt dafür«, sagte er. »Aber da ich dich endlich mal allein erwische, sollten wir eine Sache rasch klarstellen, bevor wir alle in das Lichtschiff steigen.«
»Ich dachte, wir müssten unbedingt schnell nach oben aufs Dach«, erwiderte Dante.
»Man kann auch im Gehen reden!«, knurrte Carson, während sie den Waschraum verließen und in die Vorhalle des Schwarzen Würfels traten, in der nur einige Nachtlichter glimmten.
»Na, sag schon, was du klarstellen willst.«
Carson räusperte sich und wich Dantes Blick aus. »Es ist wegen Kendira.«
»Wirklich?« Dante tat übertrieben verblüfft. »Hätte ich nie vermutet!«
»Hör zu, Kendira und ich … also, wir sind mehr als nur gute Freunde! Wir haben vieles gemein und sind … na ja, ein Paar … sozusagen«, stieß Carson nun hastig hervor. »Deshalb wäre es anständig von dir, wenn du das akzeptieren und nicht dauernd um sie herumschwänzeln würdest.«
»So, das wäre also anständig von mir, ja? Was hat denn Anstand damit zu tun?«
»Verdammt, du weißt, was ich meine!«, stieß Carson ärgerlich hervor.
Dante fixierte ihn mit hartem Blick. »Ich weiß ganz genau, was du meinst. Dir passt es nicht, dass Kendira offensichtlich viel für mich übrig hat und ich eine Menge mehr für sie empfinde, als ich dir auf die Nase zu binden gedenke. Also lass uns Klartext reden: Du glaubst, ich komme dir bei Kendira in die Quere. Und du willst, dass ich dir keine Konkurrenz mache, sondern dir edelmütig den Vortritt lasse und mich von Kendira fernhalte.«
»Du hast es erfasst!«, blaffte Carson. »Sie und ich, wir sind füreinander bestimmt. Und je eher du das begreifst, desto besser ist es auch für dich. Denn damit ersparst du dir eine Enttäuschung …«
Dante fiel ihm ins Wort. »Da hast du dich geschnitten, Carson! Du scheinst vergessen zu haben, dass die Zeiten vorbei sind, in denen ein Elector alle Vorrechte besaß und er einem Servanten Anweisungen erteilen konnte!«
»Das hat damit nichts zu tun!«
»Hat es wohl! Auch scheinst du vergessen zu haben, dass du ohne uns Servanten spätestens in einem Jahr in dieser Strahlenhölle auf Tomamato Island krepiert wärst – und ich hier mein Leben noch einmal aufs Spiel setze, um deine …«, er tippte ihm dabei mit dem Zeigefinger hart vor die Brust, »… Freunde zu retten!«
»Natürlich wissen wir, was wir dir und Jaydan zu verdanken haben!«, beteuerte Carson rasch. »Und dass du jetzt mitkommst, ist dir hoch anzurechnen. Aber das …«
Dante ließ ihn nicht ausreden. »Du brauchst mir gar nichts gönnerhaft anzurechnen! Ich tue das, weil alles andere Feigheit wäre! Und was Kendira angeht, so wird nur sie und niemand sonst darüber entscheiden, mit wem sie zusammen sein möchte. Wer das ist, werden wir ja sehen.«
»Und ob wir das sehen werden!«, stieß Carson wütend hervor. »Bilde dir nicht ein, mich so leicht aus dem Rennen werfen zu können!«
»Na, prächtig, dass wir uns da einig sind!«, sagte Dante. »Ich denke, damit ist alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt. Also komm mir nicht noch einmal damit! Und jetzt sollten wir wirklich hoch zu den anderen aufs Dach!« Er drückte auf die Taste für die Glastüren mit den schwarz getönten Scheiben, die mit einem leisen Zischen auffuhren und sie in die Nacht entließen.
Augenblicke später, als hinten beim Solarfeld gerade Tausende Fotozellen unter dem Lichtschein des Helikopters aufleuchteten und ihn für eine Sekunde förmlich in einem grell aufflammenden Lichtblitz verschwinden ließen, rannten sie auch schon die Außentreppe empor und reihten sich oben auf dem Flachdach in den Block der männlichen Alpha-Electoren ein.
Kendira, die in der ersten Reihe der weiblichen Alpha-Electoren stand, atmete erleichtert auf, als sie Carson mit Dante zu ihnen zurückkehren sah. Sie rechnete fest damit, dass die beiden zu ihr herüberschauen und einen letzten, Mut machenden Zuruf, zumindest aber einen Blick mit ihr austauschen würden. Doch keiner von ihnen rief ihr etwas zu oder blickte zu ihr herüber, und das machte sie stutzig. Carsons Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst und in Dantes markanten Zügen schien sich ein grimmiger Ausdruck eingenistet zu haben. Oder war das nur die ungeheure Anspannung, unter der sie alle standen?
Kendira wusste es nicht zu sagen, und dann war auch keine Zeit mehr, um sich weiter Gedanken darüber zu machen. Das Lichtschiff kam, um sie zu holen!