TOMAMATO ISLAND
»Das ist doch verrückt!«, stieß Ellis entgeistert hervor und sah Duke und Colinda an, als hätten die beiden den Verstand verloren. Alles begehrte in ihm dagegen auf, das Ungeheuerliche als wahr zu akzeptieren. Einfach undenkbar, dass er und jeder andere Elector in Wirklichkeit ein Todgeweihter sein sollte! Und doch, der scharfe Stachel der Wahrheit bohrte sich mit jeder Sekunde tiefer in sein Bewusstsein. Er lachte gequält auf. »Sag, dass ihr euch das ausgedacht habt, um uns einen Schrecken einzujagen!«
»Ja, gib es zu!«, pflichtete Leota ihm bei, doch auch ihr Gesicht war blass geworden.
Duke schüttelte mit finsterer Miene den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte euch und mir den Gefallen tun, aber wir haben uns das nicht ausgedacht. Wer würde sich denn auch so einen schlechten Scherz erlauben? Nein, jedes Wort stimmt. Jedes! Was wir euch gerade erzählt haben, war wortwörtlich das, was die beiden gesagt haben! Mann, Ellis! Wir standen direkt neben der offenen Tür und wir konnten den stiernackigen Sec Master Butch und den anderen so deutlich hören wie ihr uns hier!«
Colinda nickte nachdrücklich. »Das stimmt. Auch ich habe jedes Wort ganz deutlich verstanden. Da ist jeder Irrtum ausgeschlossen!«
Ellis und Leota sahen sie stumm und wie betäubt an. Sie standen mit Duke und Colinda auf der Galerie, die zur Mittagsstunde schattenlos unter der sengend heißen Sonne lag und deshalb zu dieser Tageszeit gewöhnlich von allen gemieden wurde. Deshalb hatten Duke und Colinda auch darauf gedrängt, unbedingt an diesem Ort mit ihnen zu sprechen.
»Ich weiß, es klingt im ersten Moment wirklich völlig verrückt«, räumte Duke ein. »Uns ist es ja nicht anders ergangen. Aber wenn man die einzelnen Puzzlesteine nimmt und zusammenfügt, kommt immer dasselbe furchtbare Ergebnis dabei heraus. Nämlich dass wir zwar Auserwählte sind, aber nicht auserwählt für einen hochwürdigen Dienst im Lichttempel, sondern um hier an diesem Ort die Reaktoren zu warten und dann bald wegen der tödlichen Strahlung elendig zu krepieren!«
»Welche Puzzlesteine meinst du denn?«, fragte Leota mit zittriger Stimme.
»Meint ihr, es ist ein Zufall, dass die Alten alle unter Haarausfall, permanentem Husten und schmerzenden Gliedern gelitten haben?«, antwortete Duke verbittert. »Oder was bedeutet es wohl, wenn Tec Master Patterson mit diesem Harrington über die tödliche Strahlung von Brennstäben redet, eine Strahlung, von der wir, die doch dort unten Wartungsarbeiten verrichten, noch nie gehört haben – und der arme Ashton bestimmt auch nicht! Und meint ihr, es ist Zufall, dass sich unsere Sec und Tec Master immer nur ganz kurz bei uns sehen lassen und dabei ständig auf ihre Dosimeter gucken?« Er holte schnell Atem, um dann mit ohnmächtiger Wut fortzufahren: »Warum steigt denn keiner von ihnen mit uns in die Reaktorbecken und Wasserkästen hinunter, wenn da Arbeiten anstehen? Warum ist das allein unser Privileg und warum beaufsichtigen sie das aus sicherer Entfernung per Kamera? Komisch auch, dass nur wir die Kontrollgänge durch den zerstörten Block II machen dürfen. Liegt das vielleicht daran, dass dort alles verstrahlt ist und es gegen diese Strahlen keinen wirklichen Schutz gibt?«
Ellis verzog das Gesicht, als litte er unter starken körperlichen Schmerzen. »Hör auf!«, rief er und machte Anstalten, sich die Ohren zuzuhalten, ließ die Hände dann jedoch wieder sinken.
Leota umklammerte das Geländer so fest, dass ihre Knöchel unter der Haut weiß hervortraten. Sie sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben.
»Nein, kommt ja gar nicht infrage!«, sagte Duke unerbittlich. »Erst beantwortet ihr mir ein paar Fragen. Etwa, warum wir fast überall von Kameras beobachtet werden, als würden die Oberen uns überwachen wie Gefängnisinsassen! Und wieso dürfen wir in der Schaltzentrale an den Konsolen herumspielen, obwohl es dort überhaupt keine Kontrollen für den Betrieb der Reaktoren gibt? Und ratet mal, warum man uns den Lichttempel nicht zeigt, obwohl er doch nach allem, was wir in Liberty 9 jahrelang gehört haben, gleich da drüben vor Presidio auf einer Halbinsel liegen muss? Warum verwehrt man uns, den Auserwählten, selbst das?«
»Weil es ihn nicht gibt!«, stieß Colinda hervor. »Wir haben da oben gestanden. Es gibt ihn einfach nicht! Und die Bilder und Hologramme, die sie uns in Liberty 9 vom angeblichen Lichttempel gezeigt haben, waren raffinierte Täuschungen, Fotomontagen oder Computeranimationen. Verarschung von Anfang an, ganz wie Butch gesagt hat!«
Duke nickte. »Und das ist bestimmt auch einer der Gründe gewesen, warum man uns fern von diesem Ort aufgezogen und in all den technischen Handwerken ausgebildet hat«, vermutete er. »Denn sonst hätten wir ja schon längst erfahren, dass es diesen Lichttempel gar nicht gibt und dass man uns nur braucht, um hier auf Tomamato Island Arbeiten zu verrichten, die einen offenbar nach spätestens einem Jahr umbringen!«
Colinda ballte die Fäuste. »Der Lichttempel ist eine Lüge! Begreift das endlich! Und alles, was man uns über unser Auserwähltsein erzählt hat, ist ebenfalls eine Lüge gewesen! Auf dieser verfluchten Insel wartet der Tod auf uns!«
Leota liefen Tränen über das Gesicht.
»Erhabene Macht, was … was … sollen wir denn nun bloß machen?«, stammelte Ellis erschüttert. »Wir … wir sind hier doch gefangen!«
Duke schnaubte grimmig. »Das glaubt die verfluchte Bande vielleicht, aber das stimmt nicht! Jedenfalls nicht länger! Es gibt jetzt einen Fluchtweg aus dem Gefängnis!« Er wies auf die Lücke im oberen Gitter nahe der Wand. »Wir werden uns noch mehr Seil besorgen und uns von hier abseilen. Und zwar schon heute Nacht!«
Leota wischte sich rasch die Tränen vom Gesicht. »Und dann?«
»Was wohl! Dann schwimmen wir zur Küste«, sagte Colinda. »Wir sind doch alle gute Schwimmer, dank der endlosen Schwimmstaffeln, mit denen uns Master Brewster jeden Sommer im Liberty Lake traktiert hat.«
Ellis nickte. »Okay, das ist zwar eine ganz schöne Strecke bis an Land, könnte man aber schaffen. Es sei denn, es gibt hier eine starke Strömung, die einen hinaus aufs Meer treibt.«
»Und wenn schon, hierbleiben ist auf jeden Fall tödlich!«, erwiderte Duke trocken.
Colinda griff nach seiner Hand und drückte sie fest. Dann tauschten sie einen Blick, mit dem sie sich wortlos versicherten, dass sie in der kommenden Nacht gemeinsam die Flucht von der Insel wagen würden.
»Und was ist mit den anderen? Müssen wir denen nicht auch reinen Wein einschenken?«, fragte Leota unsicher.
Energisch schüttelte Duke den Kopf. »Auf gar keinen Fall! Das ist zu gefährlich. Euch haben wir eingeweiht, weil wir wussten, dass wir euch vertrauen können und ihr uns niemals verraten würdet. Aber so gut wir uns auch mit den anderen verstehen, ich würde doch für keinen von ihnen meine Hand ins Feuer legen!«
»Aber wir können sie doch nicht ahnungslos in ihren Tod laufen lassen!«, wandte Leota ein.
»Das werden wir auch nicht«, versicherte Colinda. »Bevor wir uns heute Nacht absetzen, hinterlassen wir auf jedem Bett eine Nachricht, die alles enthält, was wir wissen.«
»Ich schreibe das nachher auf dem Klo auf und kopiere die Seite dann kurz vor unserem Aufbruch in dem kleinen Büroraum neben der Cafeteria, wo all die technischen Handbücher stehen«, sagte Duke. »Da gibt es einen alten Kopierer und vor allem keine Kamera. Das Seil lassen wir für die hängen, die uns glauben und nachkommen wollen. Mehr können wir nicht für sie tun, ohne uns selbst in höchste Gefahr zu bringen.«
Ellis wischte sich kalten Schweiß von der Stirn. »Wann wollt ihr heute Nacht los?«
»Gegen Ende der Nachtschicht und kurz vor dem Morgengrauen!«, sagte Duke. »Dann ist das Risiko, von irgendjemand auf den Gängen oder sonst wo überrascht zu werden, am geringsten. Also, was ist? Kommt ihr mit oder wollt ihr hier lieber langsam vor die Hunde gehen?«
»Wir kommen mit!«, sagten Leota und Ellis wie aus einem Mund, jedoch leise, fast atemlos geflüstert und mit unverhohlener Angst in den Augen.