TOMAMATO ISLAND
Duke ging den langen, kahlen Gang hinunter, der Block I des Atommeilers mit Block II verband. Ausgestorben und wie alle anderen Gänge und Hallen der Anlage von hellem Neonlicht erfüllt, lag er vor ihm.
Er hatte sich viel zu früh auf den Weg zu seiner Schicht im Maschinenraum von Block I gemacht. Aber das war okay, auch wenn er wünschte, diese lästige Unruhe, die ihn seit ihrem Eintreffen auf Tomamato Island befallen hatte, würde sich endlich legen. Aber dass er zu früh war, hatte auch sein Gutes. Er konnte die halbe Stunde freier Zeit dazu nutzen, um sich in den dortigen Werkstätten in aller Ruhe nach einer Feile umzusehen, die er heimlich mitgehen lassen wollte.
Er überlegte, ob er Colinda in sein Vorhaben einweihen sollte. Sie brannte wie er darauf, den Lichttempel endlich zu Gesicht zu bekommen. Zudem wusste er, dass sie Stillschweigen wahren würde. Colinda war in Ordnung. Ach was, sie war viel mehr als nur in Ordnung! Komisch, dass ihm in Liberty 9 nicht aufgefallen war, wie hübsch und sexy sie war und wie verführerisch sie einen anlächeln konnte. Wo hatte er nur seine Augen gehabt?
Nun, jetzt waren sie ihm endlich aufgegangen. Zwar reichlich spät, aber nicht zu spät, wie Colindas Reaktionen ihm verrieten.
Er bog um eine Ecke und hörte wenige Schritte dahinter plötzlich Stimmen. Sie kamen aus einem kurzen Seitenkorridor zu seiner Linken, der in eine Treppe überging. Die Stahltür an ihrem Ende ließ sich nur mit einem Zahlencode oder einem jener Chips öffnen, über die nur die Insel-Oberen verfügten. Von seinem Standpunkt aus konnte er die Tür nicht sehen. So hoch reichte die Decke des Seitengangs nicht. Aber es klang so, als stünden dort oben zwei Männer in der offenen Tür oder direkt davor auf dem oberen Treppenabsatz. Denn ihre Stimmen drangen deutlich zu ihm hin. Eine davon, die unverkennbar dunkle und kratzige, gehörte Tec Master Patterson.
»… unter den Betonklötzen eingestürzter Etagen. Das alles liegt auf dem Reaktor«, sagte Patterson gerade. »Selbst wenn die Außenmauern und der Rahmen der Schutzhülle halten, können jederzeit weitere Einstürze geschehen.«
»Halten Sie eine weitere Explosion für möglich?«, fragte die andere Stimme.
»So genau hat das ja bisher noch keiner überprüft. Aber wenn die inneren Teile vollends zusammenbrechen, kann es dazu kommen«, antwortete Tec Master Patterson. »Die Schutzhülle wird in dem Fall nicht halten, sondern aufgesprengt, und das war es dann. Die Brennstäbe sind ja noch alle drin, und bei der tödlichen Energie und Strahlung … nun, das brauche ich Ihnen ja nicht zu beschreiben.«
»Nein, wirklich nicht!«, versicherte der andere. »Sie haben recht. Die innere Beschaffenheit und der Zustand der unteren Räume müssen unbedingt näher untersucht werden.«
»Es dürfte notwendig sein, die innere Struktur des Reaktorrests erheblich zu verstärken, zusätzliche Träger einzuziehen und ein zuverlässigeres Messsystem einzurichten als nur diese kurzen wöchentlichen Prüfgänge«, sagte Patterson eindringlich. »Wir müssen eine große Menge an Messgeräten, Sensoren und anderen Geräten platzieren und sie regelmäßig austauschen, sonst gerät das Monster eines Tages doch noch außer Kontrolle.«
Ein hoher Signalton und eine von statischem Rauschen und Knistern begleitete, unverständliche Stimme aus einem Sprechfunkgerät mischten sich in das Gespräch der beiden.
»Ich glaube, ich werde da oben gebraucht«, sagte der Mann, der mit Patterson in der Tür am Ende der Treppe stand. »Wir bereden später, was unbedingt als Nächstes in Angriff genommen werden muss.«
»In Ordnung, Harrington.«
Die schwere Tür fiel mit einem lauten, nachhallenden Knall in das Sicherheitsschloss des Stahlrahmens und Schritte kamen die Treppe hinunter.
Duke beeilte sich, den Seitengang möglichst weit hinter sich zu lassen, bevor Patterson in den Hauptkorridor einbog und ihn zu Gesicht bekam. Denn was er da eben gehört hatte, war ganz sicher nicht für seine Ohren bestimmt gewesen.
Patterson und offenkundig nicht nur er hielt eine erneute Explosion im zerstörten Block III für möglich! Das zu wissen, ließ die auch so schon gefürchteten Prüfgänge, die sie als Electoren dort regelmäßig zu absolvieren hatten, in einem völlig neuen Licht erscheinen.
Als zu seiner Rechten das große Panoramafenster auftauchte, durch das man hinunter auf das Herz von Block II blicken konnte, blieb er unwillkürlich stehen. Unter ihm lag im hellen künstlichen Licht die gewaltige Halle, über der sich eine Betonkuppel wölbte.
Sein Blick ging hinunter zu der gelb gestrichenen Manipulierbrücke, den Seilwinden und Hebevorrichtungen und dem tiefen Reaktorbecken mit seinen Brenn- und Steuerstäben. Das Wasser, dessen Oberfläche glatt wie ein Spiegel war, leuchtete in einem intensiven, magisch unwirklichen Blauton.
Dieses seltsame Blau, das sich nirgendwo in der Natur fand und doch jedem Reaktorbecken zu eigen war, hatte ihn vom ersten Tag an fasziniert. Es war von einer fast unwirklichen Transparenz und Leuchtkraft. Nun jedoch wirkte es auf ihn unheimlich, beunruhigend und verstörend, als er daran dachte, was er soeben gehört hatte.
Tec Master Patterson hatte von der tödlichen Energie und Strahlung der Brennstäbe gesprochen!
Aber das ergab überhaupt keinen Sinn. Nach allem, was sie in Liberty 9 über die Atomkraft und den Prozess der Kernspaltung gelernt hatten, handelte es sich bei dieser Art der Energiegewinnung um eine in jeder Hinsicht saubere und gefahrlose Technik. Zur Explosion in Block III war es nur gekommen, weil sich im zentralen Treibstofflager der Dieselaggregate, die im Notfall den Betrieb der Kühlpumpen sicherten, Gase gebildet und entzündet hatten. Und was die hochgiftigen Substanzen betraf, die noch immer im zerstörten Block III lauerten, so rührten diese von diversen Baustoffen her, die von der Explosion freigesetzt worden waren und noch immer aus den Trümmern entwichen.
Welche tödliche Energie ruhte tatsächlich dort unter der spiegelglatten Wasseroberfläche des Beckens, das von jenem unheimlichen blauen Leuchten erfüllt war?
Die Schritte von Patterson, der in den Korridor eingebogen war, kamen schnell näher.
Duke tat so, als stünde er schon eine Weile vor der Scheibe und als bemerkte er in seiner Gedankenversunkenheit gar nicht, dass sich ihm jemand näherte.
»Was tust du hier, Elector?«, sprach Patterson ihn barsch an. Aber damit verhielt er sich nicht ruppiger als alle anderen Oberen. »Du bist einer der Neuen, richtig? Wie war dein Name noch mal?«
Duke gab sich den Anschein, überrascht zu ihm herumzufahren. »Was? Oh … Duke … Mein Name ist Duke, Tec Master Patterson.«
»Richtig! Du warst es, der Ashton gefunden und herausgebracht hat!«, erinnerte sich Patterson, ein kräftiger Mann Mitte vierzig von untersetzter Statur. Sein Gesicht, dessen wesentliche Merkmale eng zusammenstehende Augen unter zusammengewachsenen Brauen und ein nikotingelber Schnurbart waren, nahm einen freundlicheren Ausdruck an.
Duke nickte.
»Und? Was tust du hier?«
»Ich bin etwas früh dran für meine Schicht im Maschinenraum von Block I«, sagte Duke. »Und da habe ich mir ein bisschen Zeit gegönnt, um von hier oben aus dieses unglaubliche Blau da unten im Becken zu … na ja, zu bestaunen.«
Patterson lächelte nachsichtig. »Dieses einzigartige Blau ist die wahre Farbe der Atomkraft.«
»Woher kommt sie?«
»Von gewissen Partikeln, die bei der Kernspaltung freigesetzt werden und stark energiegeladen sind, um es mal ganz grob zu erklären und dich nicht mit einem langen wissenschaftlichen Vortrag zu langweilen«, sagte Patterson gönnerhaft. »Diese Partikel reagieren mit dem Wasser des Beckens und haben dabei eine Geschwindigkeit, die schneller ist als das Licht im Wasser.«
Duke machte ein verblüfftes Gesicht. »Schneller als das Licht?«
Patterson lachte. »Ja, du hörst richtig. Auf ihrem Weg durch das Wasser erzeugen sie sozusagen eine Schockwelle und damit einen Lichteffekt. Du kannst das mit dem Toneffekt vergleichen, dem Knall, der in der Luft beim Durchbrechen der Schallmauer entsteht. Im Wasser lösen die irrsinnig schnellen Partikel Lichtblitze im Farbspektrum von Blau und Ultraviolett aus. So kommt dieser einzigartige Blauton im Becken zustande. Man nennt das auch den Tscherenkow-Effekt.«
»Das habe ich nicht gewusst«, sagte Duke.
»Ihr wisst eine ganze Menge nicht«, versicherte Patterson mit einem eigenartigen Lächeln, »aber das soll dich nicht bekümmern.« Er schob kurz den linken Overallärmel zurück und warf einen raschen Blick auf eine Art Armbanduhr aus weißem Plastik an seinem linken Handgelenk, wie sie jeder Tec und Sec Master trug. »So, ich muss weiter! Und du sieh zu, dass du hinüber in den Maschinenraum von Block I kommst!«
Duke nickte.
Patterson eilte davon und verschwand wenige Augenblicke später im nächsten Quergang, der vom Herz des Reaktors weg und zu einer anderen Stahltür führte, die sich ebenfalls nur mit Chipkarte oder Zahlencode öffnen ließ.
Duke sann noch immer darüber nach, was er zwischen Patterson und dem anderen Oberen aufgeschnappt hatte und was die Bemerkung bloß bedeuten mochte, als er den Maschinenraum von Block I betrat. Ohrenbetäubender Lärm schlug ihm entgegen. Er traf ihn wie eine wuchtige, unsichtbare Brandungswelle und ließ ihn beinahe wieder zurückweichen. Selbst mit dick wattierten Ohrenschützern verursachte der Krach fast körperliche Schmerzen. Das maschinelle Tosen kam von dem langen Monster des Turbogenerators, der sich über die Mitte der riesigen Halle erstreckte. Der Maschinenraum, von meterdicken und doppelt schallgedämpften Wänden umschlossen, war so groß, dass das Gym von Liberty 9 mit Leichtigkeit viermal oder sogar noch öfter darin Platz gefunden hätte.
Die tödliche Energie der Brennstäbe.
Duke zwang sich, nicht länger darüber nachzugrübeln. Er hatte im Augenblick Wichtigeres zu tun. Zumal Patterson es womöglich gar nicht buchstäblich gemeint hatte, sondern irgendwie in einem übertragenen Sinn.
Wie auch immer, es musste warten. Jetzt hieß es erst einmal, in einer der Werkstätten nach einer soliden Feile zu suchen, die er mitgehen lassen konnte, ohne dass es jemand bemerkte.
Und dann musste er sich etwas ausdenken, wie er es anstellen konnte, von ihrem Balkonkäfig auf die sehr viel höhere Galerie zu kommen. Ziemlich abenteuerlich würde es wohl in jedem Fall werden. Aber ein bisschen Risiko und Nervenkitzel war es allemal wert, wenn es ihm damit gelang, den Lichttempel auf der anderen Seite der Bucht endlich vor Augen zu haben!