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Der Eingang zur alten U-Bahnstation lag gleich hinter der verfallenen Shopping Plaza und wäre selbst bei Tag nicht auf den ersten Blick zu erkennen gewesen, denn von dem Portal war nur noch ein L-förmiges Seitenstück erhalten geblieben. Der Spalt zwischen der Betonmauer und dem Rest des mit Trümmern verschütteten Eingangs war gerade breit genug, um sich hindurchzwängen zu können.
Im Licht ihrer Taschenlampen stolperten sie eine lange und mit Schutt übersäte Treppe hinunter. Die Decke über ihnen war aufgerissen. Zerfetzte Kabel, Rohre, Stahlträger und rostiges Betoneisen hingen wie die Eingeweide eines aufgeschlitzten steinernen Tieres herunter und verengten immer wieder den Weg in die Tiefe.
Schließlich gelangten sie in das, was einmal eine Eingangshalle gewesen war und nun ein ähnliches Bild der Zerstörung bot wie der Treppengang. Von Rost zerfressene Drehkreuze ragten schräg aus Betonbrocken, die aus dem Boden herausgebrochen waren. Sie kamen an einer langen Wand vorbei, an der noch einige einst weiße, nun jedoch völlig verdreckte Kacheln hingen. Auf ihnen standen drei Buchstaben, offenbar ein Teil des Namens der U-Bahnstation.
Sie hörten das bösartige Zirpen und Fauchen der Ratten und das Sirren der Schmeißfliegen, bevor der Lichtschein ihrer Taschenlampen auf die beiden Leichen fiel. Die Gesichter der Toten waren von den Ratten zerfressen, Augenhöhlen und Wangen völlig entfleischt. Es wimmelte von Maden und Fliegen.
Abrupt wandte sich Kendira von dem schaurigen Anblick ab und wich zurück. Dabei wäre sie beinahe gestürzt, wenn Nekia nicht hinter ihr gestanden und sie davor bewahrt hätte.
»Passt auf! Die Ratten hier unten sind aggressiv und fürchten sich nicht vor Menschen!«, warnte Dusty sie, und wie zum Beweis stürzte sich eine der Ratten, die fast die Größe einer ausgewachsenen Katze besaß, auf ihn und biss in seinen linken Stiefel. Blitzschnell trat der Runner mit dem anderen Fuß nach ihr, rammte ihr die Stiefelspitze in den Leib und schleuderte sie in die Dunkelheit, wo sie mit einem lauten, schrillen Kreischen gegen eine Wand schlug.
»Ich wünschte jetzt, wir hätten auch einen Flammenwerfer mitgenommen!«, stieß Dante mit belegter Stimme hervor.
Dusty führte sie an den verrosteten Drehkreuzen vorbei aus der Halle und eine weitere Treppe hinunter. Sie gelangten zu einem Bahnsteig. Hier blieb er stehen und sammelte sie um sich, um ihnen wichtige Instruktionen zu erteilen.
»Von jetzt an bleiben wir dicht zusammen, sodass jeder seinem Vordermann jederzeit die Hand auf die Schulter legen kann, wenn er unsicher ist und meint, im Dunkel nicht Schritt halten zu können. Nur ich an der Spitze und der Hintermann werden ihre Taschenlampen eingeschaltet lassen«, teilte er ihnen mit, nahm die Drahtbrille mit den grünen Gläsern ab und steckte sie weg. »Die Rolle des Hintermanns wirst du übernehmen!« Er zeigte auf Dante.
Dieser nickte wortlos.
»Du richtest den Lichtkegel schräg vor dich auf den Boden, damit die Leute vor dir besser sehen können, wohin sie treten, und nirgendwohin sonst!«, wies der Runner ihn an.
Dante begnügte sich mit einem weiteren Nicken.
»Und noch etwas, bevor wir tiefer hinuntersteigen«, sagte Dusty dann, nun wieder an alle gerichtet. »Verkneift euch unbedingt das erschrockene Geschrei, wenn wir auf Leichen oder Skelette stoßen, was ganz sicher noch öfter der Fall sein wird. Damit bringt ihr uns alle nur in Gefahr. Wir steigen gleich in den Abyss, Leute! Und dort unten ist jeder Laut ein Laut zu viel. Der Abyss verzeiht einem keinen Fehler – nicht einmal den kleinsten, haben wir uns verstanden?«
Die acht Libertianer nickten stumm und mit angsterfüllten Gesichtern.
»Ich dachte, das hier wäre schon der Abyss«, flüsterte Zeno.
»Nein, das hier ist nur die Vorhölle, in die sich auch die Islander trauen«, stellte der Runner klar. »Auf dieser Ebene können wir ihnen im Augenblick nicht entwischen. Sie wissen genau, dass wir ihnen nur durch die Tunnel entkommen können. Deshalb werden sie die gesamte Strecke zwischen den nächsten beiden Stationen kontrollieren, und wenn wir auf dieser Ebene bleiben, sind wir erledigt. Deshalb müssen wir für mindestens fünf, sechs Kilometer noch zwei Etagen tiefer. Denn dort hinunter, in das finstere Herz des Abyss, trauen sie sich nicht.«
»Wenn es noch nicht mal Schwerverbrecher wagen, da hinunterzusteigen, wird es dafür bestimmt gute Gründe geben«, murmelte Kendira bedrückt.
Dusty nickte. »Die gibt es, fürwahr! Der Grund sind die Unterweltler, die da unten hausen, die Tunnelratten. Aber damit meine ich nicht die übliche Sorte mit vier Beinen. Nein, die Tunnelratten, von denen ich spreche, sind die Verrückten, die Vergessenen, die Unsichtbaren und die Abartigen unserer Spezies, die jedoch kaum noch etwas an sich haben, das man noch menschlich nennen könnte. Sie kommen nur nachts aus der Tiefe, um oben in der Trümmerlandschaft auf Beutezug zu gehen.«
»Was genau haben wir denn von den Tunnelratten zu fürchten?«, wollte Nekia mit zittriger Stimme wissen.
Dustys Gesicht verschloss sich. »Ich glaube nicht, dass irgendeiner von euch das wirklich wissen will. Und ich denke nicht daran, euch mehr zu verschrecken, als notwendig ist«, beschied der Runner sie.
»Und wir müssen wirklich durch den Abyss?«, fragte Nekia beschwörend.
»Ja, wir müssen, und ich bin wahrlich nicht lebensmüde«, erwiderte der Runner unerbittlich. »Wenn es nicht unsere einzige Chance zu überleben wäre, würde ich da nicht für alles Geld der Welt hinuntersteigen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Sehen wir zu, dass wir weiterkommen!«
Damit wandte sich Dusty um und sprang von der Bahnsteigkante auf das Schotterbett. Er richtete das Licht seiner Taschenlampe kurz auf den Tunneleingang und rief ihnen über die Schulter noch einmal mahnend zu, dicht hinter ihm zu bleiben, so wenig Lärm wie möglich zu machen und nicht zu reden, ja nicht einmal zu flüstern.
Was den Libertianern nicht sonderlich schwerfiel. Keinem war nach Reden zumute, schon gar nicht nach dem grässlichen Anblick der beiden von Ratten zerfressenen Leichen und dem, was Dusty ihnen soeben über die Schreckenswelt des Abyss mitgeteilt hatte.
Sie folgten dem Tunnel mehrere Minuten auf dem schmalen Laufsteg, der kniehoch über dem Schotterbett an der Wand entlangführte. Die Schienen der Gleise fehlten. Man hatte sie herausgerissen. Es roch nach Verwesung, Exkrementen, Schimmel und muffiger, abgestandener Luft. Nach etwa einem halben Kilometer ging die bislang gerade Tunnelführung in eine lange Biegung über.
Dusty wechselte mitten in der Biegung die Tunnelseite und hielt auf etwas zu, das wie eine Nische in der Wand aussah. Aus der Nähe stellte sich die Nische als Durchgang zu einem langen Versorgungstunnel und Notausgang heraus. An seinem Ende führte eine Eisentreppe steil nach oben.
Am Fuß der Treppe blieb Dusty stehen, kniete sich nahe der Wand und direkt unter der Treppe hin und richtete das Licht seiner Lampe auf eine verrostete viereckige Eisenplatte, die an dieser Stelle in den Boden eingelassen war. Er klappte die beiden Griffe, mit denen die Abdeckung versehen war, aus ihren Vertiefungen, hob die Eisenplatte vorsichtig an und setzte sie ebenso behutsam neben der Öffnung wieder ab. Dann winkte er Dante zu sich heran.
»Wenn du gleich als Letzter hinuntersteigst, musst du den Deckel wieder einsetzen!«, raunte er ihm zu. »Achte höllisch darauf, dass er dabei bloß nicht laut über den Rand schabt oder gar mit einem Krachen in seine Einfassung fällt. Am besten, du balancierst ihn auf den Fingerspitzen, okay?«
»Nichts leichter als das, Dusty. Solche Balanceakte über Kopf und auf einer Leiter sind doch mein tägliches Brot«, flüsterte Dante sarkastisch zurück.
Dusty ging nicht darauf ein. »Was ich fast vergessen hätte und was für euch alle gilt: Hängt euch das Gewehr oder die MP über die Schulter, schiebt den Lauf unter den Gurt eures Tornisters und presst die Waffe mit dem Ellbogen eng an den Körper! Es darf nichts gegen das Gestänge scheppern, verstanden? Und du pass bloß auf dein Rohr auf, Hitzkopf!« Er deutete auf Carson. »Ich warte unten auf euch!« Dann nahm er seine Taschenlampe und lüftete kurz die metallene Melone, um sie sich um den Hals zu hängen, schwang sich über den Rand der Schachtöffnung und kletterte abwärts, behände und lautlos wie ein Schatten.
Die Erste, die nach ihm mit schweißnassen Händen und einem kalten Schaudern nach den rostigen Sprossen der Leiter griff und ihm hinunter in den Abyss folgte, war Kendira.