32
Mit wild schlagendem Herzen trat Kendira durch den Vorhang wabernder Nebelschwaden in den Rumpf des Helikopters. Mit diesem letzten Schritt war ihre Entscheidung unwiderruflich geworden, ihre erst vor wenigen Stunden errungene Freiheit und ihr Leben für die Todgeweihten auf Tomamato Island zu riskieren.
Plötzlich bekam sie Angst vor ihrer eigenen Courage und fragte sich bestürzt, woher sie bloß die Zuversicht genommen hatte, zu glauben, ihr geplanter Handstreich könnte ihnen tatsächlich gelingen.
Ein kräftiger Mann stand in der Luke hinter der Leuchtanzeige und winkte sie durch. Er trug wie die Guardians eine schwarze Overalluniform mit dem Hyperion-Emblem auf der linken Brust und konnte nicht älter als Mitte zwanzig sein. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Such dir einen Platz und schnall dich an!«, trug er ihr auf, ohne ihr auch nur einen Blick zu gönnen. Dabei deutete er vage hinter sich. Dann drückte er eine Taste auf der Hinterseite der Leuchtbox, worauf Haileys Name auf der Anzeige erschien und von Tyler aufgerufen wurde.
Kendira ging an dem Mann vorbei, von dem sie annahm, dass es sich bei ihm um den Copiloten handelte. Denn vorn in der Cockpitkanzel zeichneten sich im schwachen Licht der hinterleuchteten Armaturen die Umrisse eines zweiten Mannes ab. Dieser kümmerte sich nicht um das, was hinter ihm vor sich ging. Er stellte etwas an seinem Headset mit dem integrierten Bügelmikro ein und drehte dann an dem Knopf einer Cockpitanzeige.
Sie wandte sich der rechten Sitzreihe zu, weil die linke schon mit Carson, Marco, Zeno, Alisha sowie Fling und Flake besetzt war. Dante saß rechts oben, gleich hinter dem offenen Vorhang zwischen Cockpit und Frachtraum. Neben ihm hatte Indigo Platz genommen.
Kendira war überrascht und enttäuscht über die äußerst spartanische Ausstattung des Helikopters. An beiden Längswänden, in die jeweils sechs schmale ovale Fenster eingesetzt waren, zogen sich primitive Rohrgestelle entlang. Dort fanden auf jeder Seite sechs Personen Platz. Die Sitzflächen und Rückenteile bestanden aus schlammgrünem und gut zwei Finger breitem Gurtgeflecht. Aus demselben Material waren auch die Vierpunktgurte gearbeitet, die seitlich am Rohrgestänge herabhingen. Da dies nur das kleine Lichtschiff war, das über keinen separaten Frachtraum verfügte, musste als Stauraum der Platz unter den Sitzreihen herhalten. Die länglichen Alukisten saßen dort in passgenauen Halterungen und waren zusätzlich mit Gurten festgezurrt.
»Reichlich glanzlos, um nicht zu sagen schäbig für ein sogenanntes Lichtschiff, oder?«, raunte Flake ihr im Vorbeigehen zu, gerade laut genug, um das Geräusch der im Leerlauf arbeitenden Motoren zu übertönen, aber doch nicht so laut, dass einer der beiden Piloten seine Bemerkung hätte hören können. »Die haben den ganzen Glanz draußen verbraten. Hier drinnen herrscht dagegen billiger Servantenstandard.«
Kendira nickte wortlos, setzte sich neben Indigo und legte den Vierpunktgurt an. Dabei achtete sie darauf, dass die Automatik unter ihrer Kutte nicht auftrug.
Jeder von ihnen hatte solch eine Waffe unter seinem Gewand mit an Bord gebracht. Wenn sie auf dem Dach des Kernkraftwerks landeten, das schwer bewacht war, blieb ihnen nicht viel Zeit. Das Überraschungsmoment würde zwar auf ihrer Seite sein, aber an ihre schweren Waffen kamen sie erst, wenn sie die Piloten überwältigt hatten.
Es hatte zwar den Vorschlag gegeben, den Piloten schon auf dem Flug die Pistole an den Kopf zu setzen, aber sie hatten ihn letztlich verworfen. Die Gefahr war einfach zu groß, dass die Crew unbemerkt eine Möglichkeit fand, sie auszutricksen. Keiner von ihnen kannte sich mit Flugtechnik aus und wusste, welche Schalter und Knöpfe ein Pilot bedienen musste und welche dazu benutzt werden konnten, ein geheimes Notsignal oder eine Warnung zu senden.
Kendira schaute zu Carson hinüber, der mit finsterer Miene vor sich hin stierte. Nun fiel ihr auf, dass Dante nicht neben ihm saß, obwohl sie beide doch als Erste in den Helikopter gestiegen waren. Dante hatte den obersten Sitz auf der anderen Seite gewählt. Beide mieden den Blickkontakt.
Jetzt war sie sicher, dass irgendetwas zwischen ihnen vorgefallen war. Nur zu gern hätte sie sich zu Dante hinübergebeugt und ihn danach gefragt. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es nicht ratsam war. Dies war weder der Ort noch die Zeit dafür, um der Verstimmung zwischen den beiden auf den Grund zu gehen. Was immer es war, es musste warten, bis sie sich alle außer Gefahr befanden.
In schneller Folge kamen Hailey, Joetta und Nekia durch die Nebelschwaden und füllten die leeren Sitze links von Kendira. Die Heckluke fiel sofort hinter Nekia zu. Und kaum hatte der Copilot seinen Platz im Cockpit eingenommen, als der Motorenlärm auch schon anschwoll und in ein durchdringendes Heulen überhing. Gleichzeitig hob der Helikopter mit nach unten gesenkter Nase von der Plattform ab.
Alle versuchten sie noch, aus der Höhe einen Blick auf Liberty 9 zu erhaschen, das rasend schnell unter ihnen zurückfiel, wie ihnen das flaue Gefühl in ihrem Magen verriet. Aber das gleißende Licht, das von den am Rumpf angebrachten Ringen aus Strahlern nach unten flutete, und die vom Flachdach des Schwarzen Würfels aufsteigenden Lichtsäulen machten es unmöglich, auch nur vage Umrisse zu erkennen. Und als die Piloten die Flutlichter ausschalteten, hatten sie schon die Bergkette überquert, die das Tal im Westen umschlossen hielt, und was immer jetzt unter ihnen vorbeizog, lag versunken in tintenschwarzer Nacht.
Der Copilot hatte den Vorhang hinter sich zugezogen und trug wie sein Kamerad ein Headset. Selbst wenn das Dröhnen der Rotoren weniger laut gewesen wäre, hätten sie kein Wort von dem verstehen können, was hinter dem Vorhang geredet wurde. Doch weder Kendira noch irgendein anderer verspürte das Verlangen nach einem Gespräch. Nicht allein wegen des Motorenlärms. Es gab nichts, was noch unbedingt hätte besprochen werden müssen. Sie waren ihren Plan oft genug durchgegangen, und selbst da hatte es nicht viel zu bereden gegeben, weil ihr Plan, aus Mangel an Alternativen, denkbar simpel war: Auf Tomamato Island landen, die Piloten überwältigen, die Wachmannschaften auf dem Dach mit einem Überraschungsangriff außer Gefecht setzen, das Kernkraftwerk stürmen, ihre Freunde herausholen und die Piloten dann zwingen, sie mit dem Helikopter in Sicherheit zu bringen.
Zudem machte sich bei allen fast schlagartig eine unendliche Müdigkeit bemerkbar, die sie so lange unterdrückt hatten und die sie nun überwältigte. Das monotone Motorengeräusch trug noch mit dazu bei. Dies war die zweite Nacht, in der ihnen so gut wie kein Schlaf vergönnt gewesen war. Der Kampf um Liberty 9 und der Zeitdruck, bis zum Eintreffen des Lichtschiffs alles unter Kontrolle zu haben, hatte immer wieder Adrenalin durch ihren Körper gepumpt, sie ihre körperliche wie psychische Erschöpfung vergessen lassen und sie wach gehalten. Nun jedoch überwältigte sie die Erschöpfung wie mit einem Hammerschlag.
Kendira wehrte sich nicht dagegen, als sie spürte, wie ihr die bleischweren Lider zufielen und ihr der Kopf auf die Brust sank. Dankbar nahm sie die Forderung ihres Körpers an, die Kontrolle über das Bewusstsein abzugeben und sich den heilenden Kräften des Schlafs zu überlassen. Mit einem unhörbaren seligen Seufzen ließ sie sich in ihn fallen wie in ein traumhaft weiches Kissen, das sie sogleich von allen Seiten behütend umhüllte.
Das Erwachen kam jäh. Es wurde begleitet von entsetzten Schreien, dem ekelhaften Gefühl, in freiem Fall aus großer Höhe der Erde entgegenzustürzen, und einem jaulend schrillen Motorenlärm, der Sekunden später erstarb.
Kendira riss den Kopf hoch und die Augen auf. Ihr Magen hob sich und schien sich mit seinem Inhalt in ihre Kehle quetschen zu wollen. Sie würgte und blickte sich verstört um, vom Schlaf noch ganz benommen. Ihr war, als wäre sie erst vor einer Minute eingeschlafen.
»Wir schmieren ab!«, schrie jemand.
Aus dem Cockpit kamen die panischen Stimmen der Piloten, die sich irgendwelche Zahlen und Anweisungen zubrüllten.
Kendira registrierte, dass der Helikopter auf der Seite lag. Die Sitzreihe mit Carson und den anderen fünf Freunden hing über ihr. Sie stürzten unkontrolliert in die Tiefe.
Erlebte sie einen grässlichen Albtraum?
»Der Rotor! … Der Hauptrotor ist ausgefallen!«, gellte Zeno mit verzerrtem Gesicht. Er hing wie die anderen unter dem Rohrgestell in der Luft, nur von den Gurten gehalten. Arme und Beine baumelten herab, als wollten sie nach den anderen sechs Angeschnallten greifen.
Fast im selben Moment sprang der Hauptrotor mit einem ungesund kreischenden Geräusch wieder an und der Pilot brachte die Maschine mit einem abrupten Manöver in eine stabilere Fluglage.
Alle auf Carsons Seite knallten hart in das Rohrgestänge ihrer Sitze zurück und schlugen mit dem Kopf gegen die Bordwand. Es gab schmerzerfüllte Aufschreie und Flüche.
Kendira hörte, wie sich jemand links von ihr erbrach. Es musste Joetta oder Alisha sein. Angst und Übelkeit saßen auch ihr in der Kehle, und sie kämpfte gegen den Drang an, sich zu übergeben.
Kaum hatte der Pilot den Helikopter abgefangen, als der Motor des Hauptrotors zu stottern begann. Das schrille Kreischen wurde lauter und durchdringender. Es klang wie eine Motorsäge, die sich mühsam in dickes Metall fraß, oder als hätte jemand feine Metallspäne in ein Getriebe geworfen.
Der Helikopter bockte wie ein übellauniges Rindvieh. Er machte ruckartige Bewegungen, als versuchte er ständig, aus der Flugrichtung auszubrechen, die der Pilot vorgab. Dabei setzte der Motor immer wieder für mehrere Sekunden aus. In abrupten, hart schaukelnden Bewegungen ging es abwärts. Es war, als zerrte eine unsichtbare Kraft einmal an der einen und gleich darauf an der anderen Seite der Maschine.
»Gleich knallen wir gegen irgendeine verdammte Bergwand!«, schrie Flake, die Augen vor Angst weit aufgerissen.
»Nein, wir sind längst über der Dunkelwelt!«, brüllte Indigo zurück, »und krachen in eine Trümmerstadt!«
Der Vorhang war bei den wilden Flugbewegungen aufgeflogen und gab den Blick in die verglaste Pilotenkanzel frei. Wenn auch die Schwärze der Nacht mittlerweile einem verwaschenen, fahlen Grau gewichen war, so war es doch noch nicht richtig hell. Deshalb waren auch nicht viele Einzelheiten jenseits der gewölbten Scheiben zu erkennen. Aber dass sie sich nicht länger über bewaldeten Bergketten befanden, sondern über der Trümmerlandschaft der Dunkelwelt, ließ sich selbst bei dem wilden Taumel des Helikopters zweifelsfrei feststellen. Zumal sie schon auf wenige Hundert Meter herabgesackt waren. Aus dieser Höhe waren die in den Himmel ragenden Ruinen größerer Gebäude, die wie unscharfe Fotoblitze vor der Glaswölbung der Kanzel vorbeizuckten, gut zu erkennen.
Das Kreischen und Stottern des Hauptrotors nahm zu. Der brandige Geruch von verschmorten Kabeln erfüllte plötzlich die Kabine, gefolgt von Rauch, der sich schnell ausbreitete. Er biss in die Augen und stach in die Kehle.
Augenblicke später gab der Rotor endgültig den Geist auf. Ein heftiger Schlag ging durch den Helikopter und drückte ihn zur Seite.
»Setz den Vogel bloß nicht in die Bay!«, schrie jemand im Cockpit. Es musste der Copilot sein. »In dem eisigen Wasser haben wir keine Chance. Selbst wenn wir heil runterkommen!«
»Ich bin doch kein Idiot, Mann!«, brüllte der Pilot zurück. »Sieh zu, dass du den Rotor wieder ankriegst!«
»Der ist im Arsch, das weißt du so gut wie ich!«
Der Pilot fluchte und drückte die Nase der Maschine nach unten. In einem steilem Winkel raste er auf die unter ihnen liegende Trümmerlandschaft zu.
Immer mehr Rauch waberte durch die Kabine.
Erstickte Schreie vermischten sich mit Weinen und Würgen.
Kendira spürte eine Hand, die nach ihr griff. Erst glaubte sie, Indigo suchte in seiner Todesangst Halt bei ihr. Doch dann sah sie, dass Dante sich vorgebeugt und ihre Hand ergriffen hatte. Er drückte sie ganz fest und rief ihr etwas zu, aber seine Worte erreichten sie in dem lauten, albtraumhaften Tumult um sie herum nicht. Sie sah nur die Bewegung seiner Lippen und den beschwörenden Ausdruck in seinen Augen, und sie glaubte zu wissen, was er ihr in diesen wohl letzten Augenblicken ihres Lebens unbedingt noch sagen wollte.
Weil sie zu ihm nach vorne blickte, sah sie Sekunden später auch den schiefen Fabrikturm, der wie ein gigantischer geknickter Halm aus Stahl aussah und geradewegs auf sie zuzufliegen schien.
Der Pilot riss am Stick und trat in die Pedale in dem verzweifelten Versuch, dem Turm auszuweichen. Es gelang ihm, einen frontalen Zusammenstoß zu verhindern, aber sie streiften doch eine hervorspringende Metallstrebe.
Die Scheibe auf der rechten Seite der Kanzel zerbarst mit einem lauten Knall. In ihn mischte sich der Todesschrei des Copiloten, der in seinem Sitz herumgerissen wurde und dann leblos zur Seite wegsackte. Metall kreischte, als die Stahlstrebe über die Außenhaut kratzte und sie auffetzte wie ein Dosenöffner eine Konservendose.
Der Helikopter wurde nach links geschleudert. Er prallte mit der Pilotenseite auf das Metalldach einer nahe stehenden Fabrikhalle, wurde wie ein Spielzeug herumgeschleudert, mit abbrechenden Rotorblättern um seine eigene Längsachse gewirbelt und wieder in die Luft katapultiert.
Wie in Zeitlupe sah Kendira, dass sich eine ihrer schweren Alukisten beim Aufschlag aus ihrer Bodenhalterung und den Gurten losgerissen hatte. Wie ein Geschoss flog die Kiste durch die Kabine – und zwar direkt auf sie zu!
Sie hielt noch immer Dantes Hand, als der Helikopter einen Wimpernschlag später hinter der Fabrikhalle aufschlug. Ihr war, als fegte eine dichte Hagelwolke aus Steinen durch die zertrümmerten Scheiben der Pilotenkanzel. Tausend Nadeln bohrten sich in Gesicht, Hals und Arme.
Noch nicht mal vierundzwanzig Stunden wirklich frei und schon ist alles verloren! Und nicht nur die Freiheit!
Das war ihr letzter Gedanke. Dann explodierte eine schwarze Sonne hinter ihren Augen und löschte jegliches Denken und Empfinden in ihr aus.