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»Du bist wirklich ein Vollidiot, Zeno!«, stieß Hailey wütend hervor und versuchte damit auch die Peinlichkeit zu überspielen, dass sie sich ausgerechnet von ihm, der Nervensäge aus dem Beta-Level, so hatte erschrecken lassen.
Zeno verzog das teigige Gesicht, dessen Haut selbst im Sommer seine fahle Blässe nicht verlor, und ließ die Taschenlampe in seinen Schoß sinken. »Was du nicht sagst! Allerdings ist mein IQ satte fünfzehn Punkte höher als deiner, und in die Nähe meiner Leistungen im Schwarzen Würfel kommst du nicht mal an deinen besten Tagen«, hielt er ihr vor. »Also, wenn mich das zu einem Vollidiot macht, was bist dann du …?«
»Du bist und bleibst ein nerviger Vollidiot, selbst wenn du einen IQ von 200 hättest!«, blaffte Hailey, zog sich einen der dreibeinigen Hocker heran und setzte sich so weit von ihm entfernt, wie es der sechseckige Raum auf dem Baum zuließ.
»Nicht so laut!«, ermahnte sie Kendira, die gleich hinter Hailey ins Baumhaus gekrochen war. »Und hört auf zu streiten. Das ist wirklich das Letzte, was wir jetzt brauchen können! Wir müssen zusammenhalten!«
»Mit Zeno, der einem ständig auf den Geist geht? Du machst wohl Witze!«, entrüstete sich Hailey. »Was hat der Schleicher überhaupt in unserem Baumhaus zu suchen?«
»Er gehört zum kleinen Kreis der Eingeweihten«, kam es von Nekia, die sich jetzt durch den niedrigen Eingang duckte.
»Na, prächtig!« Hailey verzog das Gesicht. »Also, wenn diese Nervensäge zu euren Eingeweihten gehört, habe ich bestimmt keine Lust, auch in diesen Club einzutreten.«
»Zeno ist in Ordnung«, sagte Kendira mit Nachdruck. »Er ist sogar mehr als nur in Ordnung.«
»Ja, wenn er vor ein paar Tagen nicht blitzschnell gehandelt hätte, wäre Kendira jetzt vermutlich tot, zerfetzt von einer Salve aus dem Gewehr eines Guardian«, warf Nekia ein.
»Was, ein Guardian hat auf dich geschossen?«, stieß Hailey ungläubig hervor. »Aber das ist doch unmöglich! Davon wüsste ich doch … ach was, jeder wüsste das! Also wovon redet ihr? Oder wollt ihr mich verarschen?«
»Nein, es stimmt, Hailey. Aber der Reihe nach!«, sagte Kendira.
»Hör genau zu, es geht hier nämlich um unser Leben und dass wir von Kindesbeinen an von unseren Oberen belogen worden sind.«
Hailey kniff die Augen zusammen. Dann fragte sie streng: »Weißt du überhaupt, was du da sagst?«
»Die Wahrheit«, sagte Zeno mit Abscheu in der Stimme.
Hailey warf ihm einen ungehaltenen Blick zu, sie fuhr ihn aber nicht an, sich aus dem Gespräch herauszuhalten. Dass er dazugehörte, das hatten ihre Freundinnen ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben.
Kendira nickte. »Erinnerst du dich noch an die Bemerkung, die einer der Guardians über die arme Sinfora gemacht hat, als die beiden Kerle sie wegen des Flugblatts, das ihr zufällig in die Hände geflattert war, verhaftet und auf den Stuhl gebracht haben?«
Eine schmerzvolle Erinnerung blitzte in Haileys Augen auf. Auch sie hatte auf die öffentliche Auslöschung dieser jungen Mitschwester aus dem Delta-Level mit großem Unverständnis reagiert. Auch hatte sie nicht vergessen, welch tragische Verkettung von Zufällen Sinfora das Leben gekostet hatte.
»Und ob ich mich erinnere!«, antwortete Hailey. »Der Mistkerl hat gesagt: ›Die hätte es sowieso nicht mehr lange gemacht.‹ Es hat richtig bösartig geklungen, aber was die beiden damit gemeint haben, ist mir noch immer ein Rätsel.«
»Keine Sorge, das wird sich gleich auflösen«, versicherte Nekia.
Kendira fuhr fort: »Dir ist nach dieser Bemerkung wohl klar, dass die Guardians etwas über unsere Zukunft wissen, das wir nicht wissen … genau genommen, das wir nicht wissen sollen, oder?«
Hailey zögerte, überlegte kurz und nickte dann.
»Und jetzt denk mal an das, was Carson und die Zwillinge Fling und Flake uns vor ein paar Tagen erzählt haben!«, sagte Kendira.
Ein düsterer Ausdruck trat auf Haileys Gesicht. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, was Carson und die Zwillinge ihnen anvertraut hatten. Sie hatten einen Wortwechsel zwischen zwei Ausbildern belauscht. Der noch recht neue Master Wilford hatte sich bei Master Chapman, dem seit Jahren die Ausbildung der Electoren im Schwarzen Würfel unterstand, darüber beklagt, dass man Sinfora auf den Stuhl geschnallt hatte, nur weil sie kurz ein Flugblatt der Nightraider in ihren Händen gehalten hatte. Es sei doch hart genug, was am Ende ihrer Ausbildung auf sie, die Electoren, warte.
Worauf Master Chapman erwidert hatte, dass diese Härte notwendig sei, dass die Electoren nun mal zu unentwegtem Gehorsam erzogen werden müssten und dass das ganze System von Liberty 9 wie ein Kartenhaus zusammenfallen würde, falls die Electoren anfingen, selbstständig zu denken und misstrauisch zu werden.
»Und hast du dich nicht gefragt, weshalb wir auf keinen Fall misstrauisch werden dürfen und welche Wahrheit unbedingt vor uns verborgen werden muss?«, erkundigte sich Kendira. »Hat dich das denn nicht stutzig gemacht?«
»Na ja, irritiert hat es mich schon«, murmelte Hailey beklommen. »Aber ich … ich habe das einfach nicht ernst nehmen wollen, sondern mir so wie die Zwillinge gesagt, dass Carson und sie bestimmt irgendwas missverstanden haben.« Sie machte eine gequälte Miene, als hoffte sie noch immer, dass sich alles als Missverständnis herausstellen würde. »Ich meine, weil wir doch die Electoren von Hyperion sind, die Auserwählten und Berufenen für den hochwürdigen Dienst im Lichttempel!«
»Ein Dienst, der nach allem, was wir herausgefunden haben, unser Verderben sein wird!«, sagte Nekia hart.
»Was redet ihr denn da?«, warf Hailey ein. »Das klingt wie Propaganda der Nightraider da draußen im Totenwald!«
»Diese Nightraider«, warf Zeno ein, »wollen uns ganz und gar nicht umbringen, sondern uns mit ihren Flugblättern nur darauf aufmerksam machen, dass wir in einem Gefängnis leben und für irgendeine infame Aufgabe herangezogen und ausgebildet werden, bei der wir spätestens in einem Jahr den Tod finden!«
»Das kann nicht euer Ernst sein!«, stieß Hailey erschrocken hervor.
»Ich wünschte auch, es wäre anders, aber leider ist es so, wie Zeno es gesagt hast!«, bestätigte Kendira. »Das angebliche Mysterium unserer Bestimmung, das sich uns erst im Lichttempel der Erhabenen Macht offenbaren soll, ist in Wirklichkeit der sichere Tod. Von Kindesbeinen an hat man uns und all die vielen anderen, die vor uns hier in diesem Tal fern vom Rest der Welt gelebt haben, einer unablässigen Gehirnwäsche unterzogen. Die Oberen haben uns glauben lassen, besonders begabt und privilegiert zu sein und daher zu einem noblen Orden zu gehören, eine einzigartige Ausbildung zu erhalten und Zugang zu allem Wissen zu besitzen.«
»Aber das stimmt doch alles!«, warf Hailey ein. »Was haben wir nicht alles lernen müssen, und nicht nur Theorie, sondern auch in der Praxis. Jeder von uns kann schweißen, fräsen, Pumpen reparieren, Kühlmaschinen warten, Elektrokabel verlegen und vernetzen und was weiß ich noch alles! Ganz zu schweigen von den Fähigkeiten, die wir in den Sim-Kabinen beim Tanz der Tausend Stäbe an den Schaltkonsolen erworben haben!«
»Ja, aber sie haben alles, was wir über diese praktischen Dinge hinaus lernen, lesen und sehen dürfen, bis ins Kleinste zensiert«, sagte Kendira. »All das, was uns die Augen über unser wahres Schicksal hätte öffnen können, haben sie als verbotenes Seelengift gebrandmarkt und uns den Zugang dazu verwehrt. Und das ist keine Vermutung, sondern wir haben Beweise dafür.«
»Erhabene Macht!«, entfuhr es Hailey, die nun begriff, dass ihre dunklen Ahnungen, gegen die sie sich gewehrt hatte, berechtigt gewesen waren.
Zeno wedelte ungeduldig mit den Händen. »Jetzt erzähl ihr schon von Master Seywards geheimer Botschaft und von dem unterirdischen Weg in die Freiheit, den Dante und Jaydan gefunden haben!«, forderte er Kendira auf. »Bin schon auf Haileys Gesicht gespannt, wenn sie hört, dass wir draußen gewesen sind und was wir mit den Wolf-Leuten im Totenwald ausgemacht haben.«
Auch Kendira hielt nun den Zeitpunkt für gekommen, um Hailey in alles einzuweihen. Und so begann sie, abwechselnd mit Nekia, von ihren geheimen nächtlichen Unternehmungen, der anfangs schaurigen Begegnung mit den Männern vom Wolf-Clan, dem Gefecht mit den Guardians und von ihrem Plan von der Befreiung aller Electoren und Servanten sowie ihrer Freunde im Lichttempel zu erzählen.
Zeno kam voll auf seine Kosten. Er würde die Mischung aus Erschrecken, Fassungslosigkeit und schierem Unglauben, die sich auf Haileys Gesicht spiegelte, so schnell nicht vergessen. Hailey entglitten buchstäblich die Züge. Der Mund klappte ihr auf, und sie schnappte wie ein Fisch, der an Land geworfen wird, hilflos nach Luft.
Als Kendira und Nekia ihr alles anvertraut hatten, saß Hailey für eine ganze Weile lang schweigend und mit bleichem Gesicht zwischen ihnen.
Als sie schließlich das Schweigen brach, schien es ihr an der Kraft zum Sprechen zu fehlen. Ihre zitternde Stimme war kaum zu vernehmen. »Unser Auserwähltsein … unsere Berufung zu einem hochwürdigen Dienst im Lichttempel von Hyperion … alles Lüge!«, kam es ihr stockend über die Lippen. »Aber … aber wofür werden wir denn so gründlich in so vielen Fächern ausgebildet, wenn … wenn sie uns am Ende in den sicheren Tod schicken? Was für einen Sinn sollte das denn machen?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Kendira und griff nach Haileys Hand und drückte sie. »Aber wir werden es bald erfahren.«
»Ja, wenn Dante und Carson auch die Bones für unsere Sache gewinnen können und alles nach Plan verläuft, dann wissen wir die Antwort vielleicht schon in ein paar Stunden!«, sagte Zeno, und in seinen Augen loderte ein kaltes Feuer, das so gar nicht zu seinem Wesen zu passen schien. »Und dann werden die Oberen für ihre Verbrechen bezahlen!«
Aber auch diejenigen, die sich Liberty 9 ausgedacht und es seit Jahrzehnten betrieben haben, müssen entlarvt und zur Rechenschaft gezogen werden!, fügte Kendira in Gedanken hinzu. Auch diese Schreibtischverbrecher dürfen nicht ungestraft davonkommen!
Hailey liefen die Tränen stumm über das Gesicht.