TOMAMATO ISLAND

Todesstille herrschte im pechschwarzen Labyrinth der endlosen Gänge und Hallen. Es war eine lähmende, Angst einflößende Stille.

Er hörte nur seinen eigenen keuchenden Atem, das Rauschen in den Ohren und das wilde Hämmern seines Herzens in der Brust. Anfangs hatte er noch deutlich das Knirschen von Betonbrocken und das Scheppern von Metallteilen unter seinen dicken Stiefelsohlen wahrgenommen. Doch je länger er in dem schauerlichen Trümmergebäude nach dem rettenden Ausgang suchte, desto lauter und stoßhafter wurde sein Atem hinter der Schutzmaske und übertönte alle anderen Geräusche.

Das schwache Licht seiner Kopflampe reichte in dieser erdrückenden Finsternis nicht weit. Es schnitt nur wenige Meter durch die von grauen Staubnebeln erfüllte Dunkelheit und es traf überall auf ein erschreckendes Bild der Zerstörung.

In den meterdicken Betonwänden klafften gewaltige Risse, zerfetzte Kabelstränge und Rohrleitungen hingen in einem wüsten Gewirr von halb eingestürzten Decken herunter, und mannsdicke Stahlträger und massige Metallplatten waren geborsten und zu grotesken Formen verbogen, als handelte es sich um dünne Drähte. Die fürchterliche Gewalt, die dieses Werk der Vernichtung vollbracht hatte, überstieg seine Vorstellungskraft.

Als er den Trümmerbau betreten hatte, hatte er saubere Atemluft für fünfundvierzig Minuten in dem Tank, den er mit den Messgeräten im Rückentornister trug. Laut der Sauerstoffanzeige blieben ihm noch vierzehn Minuten. Das war eigentlich Zeit genug, um anhand der roten Markierungen den schmalen Tunnel aus Bleiplatten zu finden, der zum Ausgang führte.

Aber wann hatte er das letzte Mal einen dieser Wegweiser gesehen?

Das war in der Halle gewesen – dort, wo an einer der haushohen Wände ein eigenartiger schwarzer Brei tonnenweise herabgeflossen und dann wie erkaltete Lava erstarrt war. Ein Anblick, der ihn aus einem unerfindlichen Grund mit größerem Grauen erfüllt hatte als alles andere auf seinem Kontrollgang.

Ja, in dieser riesigen Halle mit dem erstarrten schwarzen Brei an der Wand hatte er das rote Zeichen neben einem der Ausgänge gesehen und er war ihm auch gefolgt. Dessen war er sicher. Aber war er auch an der nächsten Kreuzung in den richtigen Korridor abgebogen? Hatte er dort die Markierung tatsächlich gesehen oder sich das nur eingebildet?

Er schluckte krampfhaft und starrte angestrengt den Korridor hinunter, der sich vor ihm erstreckte und sich schon nach wenigen Metern in scheinbar undurchdringlicher Dunkelheit auflöste.

Befand er sich noch auf dem richtigen Weg oder hatte er sich tatsächlich verirrt?

Im Licht der Kopflampe tauchten vor ihm auf dem rissigen Boden große, ölig schimmernde Lachen auf. War er auch auf dem Hinweg durch diese Pfützen gewatet? Sie fühlten sich unter seinen Stiefeln so an, als bestünden sie aus einer glitschigen und klebrigen Substanz. Müsste er sich daran denn nicht erinnern, wenn das hier der richtige Weg war?

Er zermarterte sich das Gehirn, vermochte jedoch keine solche Erinnerung in sich aufrufen. Das zielgerichtete Denken fiel ihm schwer. Ihm war, als müssten sich auch seine Gedanken mühsam durch eine ähnlich klebrige Masse kämpfen.

Er versuchte sich zu beruhigen, indem er sich sagte, dass er vielleicht bloß nicht auf die Pfützen geachtet hatte, sie aber sehr wohl da gewesen waren.

Ja, das musste es sein!

Aber was, wenn er sich täuschte, wenn er immer weiter in die Irre lief und ihm immer weniger Luft blieb, um den rettenden Tunnel zu finden?

Die Zweifel wuchsen mit jedem Schritt. Und auf einmal kostete es ihn große Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Auch brannten ihm plötzlich die Füße in den Stiefeln, und die leichte Übelkeit, die ihn auf diesem Kontrollgang die ganze Zeit begleitet hatte, sie wurde nun immer stärker und wuchs zu dem kaum noch zu beherrschenden Drang, sich zu erbrechen.

Der grüne PVC-Schutzanzug und die gummierte Atemmaske hatten ihn schon in der Schleuse zum Tunnel ins Schwitzen gebracht. Doch jetzt rann ihm der Angstschweiß in Strömen über das Gesicht und den Rücken hinunter. Die Sichtscheibe der Atemmaske beschlug und er spürte er einen bitteren, metallischen Geschmack auf Zunge und Lippen.

Er kämpfte gegen die aufsteigende Panik an.

Reiß dich zusammen und verlier jetzt nicht die Nerven!, herrschte er sich in Gedanken selber an. Du bist ein Alpha Elector, ein Auserwählter und Diener der Erhabenen Macht und berufen zum hochwürdigen Dienst im Lichttempel! Dieser Kontrollgang ist deine letzte Prüfung! Und du wirst sie so gut bestehen, wie du auch all die Selectionen und die vielen anderen Prüfungen in Liberty 9 bestanden hast!

Verzweifelt rief er sich in Erinnerung, dass er im Alter von zwölf Jahren mit besten Ergebnissen aus den winterlichen Selectionen hervorgegangen war. Damit war er ein Auserwählter, ein Elector geworden und mit dreiundzwanzig anderen Glücklichen in die Lichtburg zur weiteren Ausbildung umgezogen. Dagegen hatte die andere Hälfte seines Jahrgangs, die in den Selectionen gescheitert war, den niederen Status von Servanten erhalten. Damit waren sie für den Rest ihres Lebens dazu bestimmt, Dienstpersonal für die Electoren und Arbeiter in den Betrieben von Eden zu sein – und womöglich niemals aus der mit Selbstschussanlagen, Hochspannungszaun und Wachtürmen umschlossenen Sicherheitszone von Liberty 9 herauszukommen.

Er aber war auserwählt!

Und er besaß alle Fähigkeiten, die ein Elector haben musste, um seinen Aufgaben gerecht zu werden! Das hatte er Jahr für Jahr bewiesen. Nie hatte er versagt! Schon in seinem ersten Jahr in der Lichtburg als Elector im Delta Level hatte er bei den stundenlangen Runs im Schwarzen Würfel Nervenstärke bewiesen, und am Schluss war er als Alpha Elector – das war die höchste Ausbildungsstufe – einer der besten Driver gewesen, die je in einer Sim-Kabine vor der riesigen Bildschirmwand und der dazugehörigen Schaltkonsole Platz genommen hatten.

Erhabene Macht, ich habe nie versagt und ich werde es auch jetzt nicht tun! Ich schaffe es! Ich komme durch!

Benommen wankte er den finsteren Korridor hinunter. Er vermochte die schweren Stiefel bald kaum noch vom Boden zu heben. Im Licht der Lampe waberten dichte Staubnebel, die er mit seinen schlurfenden Schritten aufwirbelte.

Ihm war dumpf im Kopf. Es kratzte und würgte ihn in der Kehle. Seine Haut juckte wie verrückt und seine Füße brannten. Vor seinen Augen verschwamm alles, und seine Lungen gierten immer krampfhafter nach Luft, ohne jedoch genug einsaugen zu können. Es war, als strömte kein Sauerstoff mehr aus der Flasche im Tornister, was jedoch nicht der Fall war. Die Anzeige versprach noch ausreichend Luft und er hörte doch auch bei jedem Atemzug das Zischen der einströmenden Luft.

Dennoch glaubte er zu ersticken.

Schließlich ertrug er es nicht länger. Kraftlos und mit rasselndem Atem sackte er auf die Knie und riss sich die Atemmaske vom Gesicht.

Das Gummi der Dichtung hatte zu schmelzen begonnen und sich mit seiner Haut verbunden. Sie löste sich nun zusammen mit der Maske von seinem Gesicht.

Gierig sog er die Luft in seine Lungen, die sich augenblicklich mit Feuer zu füllen schienen. Es brannte, als hätte er Säure eingeatmet. Doch er nahm den fürchterlichen Schmerz kaum wahr, weil ihm schon die Sinne schwanden.

Ein erstickter, gurgelnder Schrei entrang sich seiner Kehle. Er stürzte vornüber und wand sich im Staub, während sich seine Lippen in wenigen Sekunden blau verfärbten. Schaum drang aus seinem Mund und vermischte sich mit dem Staub. Die Augen rollten in ihren Höhlen nach hinten, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Sein Körper zuckte noch einige Augenblicke, dann lag er still und leblos im Korridor.

Die Kopflampe leuchtete noch eine Weile, den Lichtstrahl starr auf eine eingerissene Wand mit einem Geflecht zerfetzter Rohrleitungen gerichtet, erlosch jedoch lange bevor Duke ihn fand.

Liberty 9 - Todeszone
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