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Als Kendira viele Stunden später aus einem scheinbar endlos tiefen, todesähnlichen Schlaf erwachte, war es, dem Stand der Sonne nach zu urteilen, schon später Nachmittag. Sie fühlte sich zerschlagen, obwohl sie doch so lange geschlafen hatte. Am liebsten wäre sie noch stundenlang liegen geblieben.
Aber es gab eine Menge zu tun: Sie mussten die verräterischen Kutten gegen die mitgebrachten, unscheinbaren Arbeitsoveralls der Servanten austauschen und dann sehr genau überlegen, welche Waffen ein jeder von ihnen mitnehmen sollte, was sie besser hier zurückließen und was sie unbedingt in ihre Rucksäcke packen mussten. Sie hatten ja nicht damit gerechnet, sich zu Fuß durch die Trümmerlandschaft kämpfen zu müssen. Und Akahito hatte sie schon gewarnt, sich bloß nicht zu schwer zu beladen, weil sie das unter Umständen ihr Leben kosten konnte.
Aber zuallererst wünschte sie sich eine ausgiebige Dusche und dann etwas Handfestes zu essen. Wobei sie das mit der Dusche besser gleich wieder vergaß. Es war nicht anzunehmen, dass es fließendes Wasser in einem dieser Gebäude gab. Vermutlich musste sie schon dankbar sein, wenn sie einen Eimer Wasser haben konnte, um sich wenigstens grob zu waschen – und genau darauf lief es dann auch hinaus.
Vergiss nicht, dass du dankbar sein musst, überhaupt noch am Leben zu sein!, ermahnte sie sich in Gedanken. Was machen da ein bisschen Schmutz und ein knurrender Magen aus!
Kendira seufzte leise und setzte sich widerwillig auf. Benommen blickte sie sich um und stellte fest, dass die anderen auch schon wach oder gerade im Begriff waren, sich von ihrem Matratzenlager zu erheben.
Und dann hörte sie das Weinen.
Es kam von Hailey. Sie hockte auf der Bettkante und die Tränen rannen ihr in Strömen über das Gesicht. »Worauf haben wir uns nur eingelassen?«, stieß sie schluchzend hervor. »Warum mussten wir uns das antun? War es denn nicht genug, dass wir unser Leben riskiert haben, um Liberty 9 zu befreien? Warum sind wir nicht einfach wie die anderen im Tal geblieben? Dann wäre auch Indigo noch am Leben!«
»Kann schon sein, aber warum blickst du mich dabei so anklagend an?«, fragte Carson gereizt, der schon aufgestanden war und offenbar gerade den Raum hatte verlassen wollen. »Willst du vielleicht mich dafür verantwortlich machen, dass es so gekommen ist?«
Mit tränenfeuchten Augen funkelte Hailey ihn an. »Immerhin war dieses Himmelfahrtskommando ja deine Idee, von Anfang an!«
Carson schnaubte wütend. »Na und? Dass Indigo und Alisha beim Absturz ums Leben gekommen sind, ist bitter. Aber es konnte doch keiner ahnen, dass wir abstürzen würden! Außerdem ist niemand gezwungen worden, in das Lichtschiff zu steigen! Jeder von uns hat sich freiwillig zu der Rettungsaktion gemeldet!«
»Ach, du machst das alles doch bloß, weil du unbedingt deinen Busenfreund Duke da heraushauen willst!«, hielt Hailey ihm vor.
»Ja, das will ich! Aber ich will nicht nur ihn, sondern auch Colinda, Leota, Fay und all die anderen heraushauen! Oder willst du sie dort in der Strahlenhölle einfach so vor die Hunde gehen lassen, weil es dir reicht, deine eigene Haut gerettet zu haben?«, blaffte Carson zurück. »Also, ich denke nicht daran, jetzt feige den Schwanz einzuziehen und mein Versprechen zu vergessen, weil es plötzlich nicht mehr so glattläuft, wie wir es erhofft haben!«
»Das sehe ich auch so«, pflichtete Nekia ihm bei.
Hailey sprang auf und ballte die Fäuste. »Ich bin kein Feigling! Das nimmst du sofort zurück!«, schrie sie schrill. »Oder ich prügele es aus dir heraus!«
Carson verzog das Gesicht zu einer abfälligen Miene.
Hailey wollte sich nun tatsächlich auf ihn stürzen.
Doch Dante sprang noch rechtzeitig dazwischen. »Hey, nun mal langsam, ihr beiden!«, rief er, drückte Haileys erhobene Fäuste hinunter und schoss Carson einen scharfen Blick zu. »Was soll denn das, Leute? Wir sind wohl alle ziemlich mit den Nerven fertig. Aber das ist doch kein Grund, dass ihr hier durchdreht und aufeinander losgeht!«
»Wer hier durchdreht, steht ja wohl außer Frage«, sagte Nekia und handelte sich dafür einen giftigen Blick von Hailey ein.
Kendira beobachtete die Szene mit einer seltsamen inneren Distanz. Es überraschte sie, dass sie sich nicht genötigt fühlte, so wie Nekia Partei für Carson zu ergreifen. Es war nicht richtig, dass Hailey ihm Vorwürfe machte. Aber es gefiel ihr ebenso wenig, wie Carson darauf reagierte.
»Du hast doch gehört, was sie mir gerade an den Kopf geworfen hat!«, sagte Carson indessen knurrig zu Dante. »Ich bin am Tod ihres Freundes schuld! Sie hat sie ja nicht mehr alle!«
»Das hat sie so nicht gesagt.«
»Aber sie hat es so gemeint!«
»Was noch lange kein Grund ist, sie so hart anzugehen«, hielt Dante ihm entgegen. »Außerdem ist es doch ihr gutes Recht, sich zu fragen, auf was sie sich da eingelassen hat.«
Carson fasste Dante scharf ins Auge. »Sag bloß, du fragst dich das plötzlich auch?«
»Nein, ich sage nur, dass sie das Recht dazu hat«, stellte Dante kühl klar. »Wie auch jeder andere von uns das Recht hat, sich das zu fragen und angesichts der neuen, völlig veränderten Lage seine Meinung zu ändern.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein!« Carson stemmte die Fäuste in die Hüfte.
»Ist es aber«, erwiderte Dante.
Carson schnaubte geringschätzig. »Wieso soll denn auf einmal nicht mehr gelten, was wir vor dem Abflug besprochen und abgemacht haben?«
»Wenn du ein Problem damit hast, dass …«
Carson ließ ihn nicht ausreden. »Und ob ich ein Problem damit habe, Dante! Und zwar nicht nur damit, wenn du es genau wissen willst!«
Jetzt spürte Kendira das Verlangen, sich in die Auseinandersetzung einzumischen und Partei zu ergreifen – für Dante. Und dass dem so war, schmerzte sie. Denn das da war nicht mehr der Carson, der ihr Herz hatte höher schlagen lassen.
Über Kendira quietschten die Metallfedern des oberen Stockbetts, als Zeno sich dort aufrichtete, die Beine neben ihrem Kopf herabbaumeln ließ und dabei sarkastisch murmelte: »Mir scheint, die beiden haben grundsätzlich ein Problem miteinander. Aber ich denke, das ist keine echte Neuigkeit für dich, oder?«
Und bevor sie oder Dante etwas auf Carsons Provokation erwidern konnten, sprang Zeno auch schon vom Bett und rief betont aufgekratzt und laut in den Raum: »Freunde, es gibt Wichtigeres als solche Probleme! Wir stehen vor Herausforderungen. Und die Herausforderung, der wir uns am besten jetzt gleich stellen, lässt sich zu der simplen Frage zusammenfassen: Wer von euch ist bereit, unter den neuen Umständen am Vorhaben festzuhalten, unsere Freunde auf der Atominsel zu befreien?«
»Ja, ich bin auch dafür, noch einmal neu darüber abzustimmen«, pflichtete Flake bei. »Das ist nur fair gegenüber allen, denen die Sache jetzt zu heiß wird.«
Fling nickte. »Wer dafür ist, macht weiter. Wem es zu riskant ist, lässt es bleiben und versucht irgendwie, wieder zurück ins Tal zu kommen. Laut Yakimura haben wir ja genug Zeugs in den Kisten, mit dem man sich die besten Führer und anderen Schutz kaufen kann. Und dass keiner von uns ein Feigling ist, wie auch immer er sich jetzt entscheidet, belegt die Tatsache, dass wir alle nicht nur Liberty 9 befreit haben, sondern vor ein paar Stunden auch in den verdammten Chopper gestiegen und bereit gewesen sind, Tomamato Island im Handstreich zu nehmen!«
»Du sagst es!«, bekräftigte Zeno. »Wir alle haben schon jetzt eine ganze Brust voller Orden verdient!«
Es gab Gelächter, das die Situation weiter entspannte.
»Schriftlich geht es vielleicht leichter als mündlich«, fügte Marco noch hinzu, »Jeder schreibt auf ein Stück Papier seinen Namen und ob er weitermacht oder nicht.«
Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Carson machte zwar eine grimmige Miene, unternahm jedoch keinen Versuch, diese Abstimmung zu verhindern.
Dante besorgte Papier, Stifte und eine leere Konservendose, und dann traf jeder seine Wahl, faltete sein Stück Papier zusammen und warf es in die Blechdose.
Das Ergebnis war für alle eine Überraschung.
Nicht einer von ihnen wollte abspringen. Selbst Hailey nicht.
»Wer hätte das gedacht!«, sagte Fling und grinste dabei spöttisch in die Runde. »Wir scheinen uns alle noch eine Weile erhalten zu bleiben!«
»Sturm im Wasserglas nennt man das wohl«, kommentierte Zeno das Ergebnis auf seine eigene Art und warf einen Blick zu Carson hinüber. »Offenbar will es sich keiner von uns entgehen lassen, die Dunkelwelt so richtig hautnah kennenzulernen.«
Flake nickte. »Wir scheinen wohl alle ein bisschen verrückt zu sein.«
Carson sagte kein Wort. Von ihnen allen war er offensichtlich am meisten überrascht, dass keiner abgesprungen war. Sein Gesicht war gerötet, vor Verlegenheit und wohl auch aus Beschämung darüber, dass er Hailey indirekt der Feigheit bezichtigt hatte, und er konnte niemandem in die Augen sehen.
Liang erlöste ihn aus der peinlichen Situation, als er im nächsten Augenblick in der Tür erschien und verkündete: »Ying und Yang sind gerade mit einer Nachricht von Major Marquez zurückgekehrt!«
»Und?«, stieß Kendira hervor. Einerseits brannte sie darauf, durch die Befreiung ihrer Freunde Hyperion einen zweiten Schlag zu versetzen. Und dieser würde noch viel bitterer für die Verbrecherclique in Presidio sein als die Befreiung von Liberty 9. Andererseits hegte jedoch ein Teil von ihr die leise Hoffnung, dass der Major nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Denn in dem Fall brauchten sie sich nicht den vielfältigen Gefahren auszusetzen, die eine Durchquerung der Dunkelwelt zwangsläufig mit sich brachte. Bei einer ablehnenden Nachricht blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als ihren Plan endgültig aufzugeben und in ihr Tal zurückzukehren.
»Er hat zugesagt und einen geheimen Treffpunkt in New Providence angegeben!«, teilte Liang ihnen mit. »Dort wird ein Vertrauter von ihm auf euch warten und euch dann zu ihm bringen. Ihr habt zwei Tage Zeit, den Treffpunkt zu erreichen.«
»Und wann können wir aufbrechen?«, wollte Dante sofort wissen.
»Bei Einbruch der Dunkelheit«, sagte Liang. »Da stehen die Chancen am besten, sicher über den Skyway zu kommen.«