28

Unterhalb eines Tastenfelds mit den Ziffern von null bis neun pulsierten in kurzen Intervallen sieben rote, kirschkerngroße Lichter. Darunter zeigte ein quadratisches Display, mittig in die Funkbox eingesetzt, die Sekunden an, die noch bis zur Zündung der Sprengstoffdepots verblieben. Die Zahlen flammten in einem noch kräftigeren, warnenden Rotton auf als die sieben oberen Leuchtdioden.

Es war, als hätte sich im Dienstzimmer schlagartig eine lähmende Eiseskälte ausgebreitet. Alles blickte entsetzt auf die flache Box mit den blinkenden Zahlen des Countdowns.

Nur Kendira nicht.

»Wie gesagt, die Zeit läuft!« Ihre Stimme war kalt und von unerbittlicher Entschlossenheit. Ihr Blick richtete sich mit derselben Härte auf Scalper Skid. »Ihr Bones habt noch … vierundachtzig Sekunden Zeit, um euch zu überlegen, ob ihr mit uns in die Luft fliegen oder eure Waffen abgeben und mit heiler Haut davonkommen wollt. Keiner hier im Raum kann der Explosion entkommen oder sie jetzt noch aufhalten – außer mir! Und ich denke nicht daran! Es sind jetzt noch achtundsiebzig Sekunden bis zum großen Knall.«

»Das werden wir ja sehen!« Rib Cage Bobby riss sein Messer heraus, war mit einem Satz bei Kendira und setzte ihr die Klinge an die Kehle. »Du tippst sofort den Code ein, der diesen Zünder stoppt!«, schrie er sie an. »Oder ich schneide dir die Kehle durch!«

Kendira zuckte nicht mit der Wimper. »Nur zu, dann habe ich es schon mal hinter mir! Ich sterbe ja sowieso, wenn ihr euch auf die Seite der Oberen stellt und das Geschäft mit Hyperion macht. Und alle anderen Electoren und Servanten werden ebenso sterben. Und zwar weil ihr uns verraten habt. Ob jetzt oder erst in ein paar Stunden, was macht das für einen Unterschied? Und da meinst du, du könntest mir mit deinem lächerlichen Messer drohen? … Wach auf, du Schwachkopf! Wir haben alle noch dreiundsechzig Sekunden.«

»Halt dein verdammtes Maul!«, schrie Rib Cage Bobby sie an, aber nun flackerte selbst in seinen Augen Angst auf.

»Weg mit dem Messer!«, rief Jedediah scharf. »Hast du nicht kapiert, dass nur sie den Code kennt, um die Katastrophe aufzuhalten?«

Rib Cage Bobby schluckte krampfhaft und leckte sich nervös über die Lippen.

Jemand gab einen würgenden Laut von sich.

»Erhabene Macht, das nenn ich eine überraschende Wendung!«, entfuhr es Dante trocken. »Bleib hart, Kendira. Du hast recht, wir haben nichts mehr zu verlieren. Wir sind auf deiner Seite.« Er rang sich ein tapferes Lächeln ab.

»Zweiundfünfzig.«

Carson lachte kurz auf. Es war ein heiseres, zittriges Lachen. »Wenn wir schon daran glauben sollen, dann nehmen wir die ganze Höllenbande gleich mit! Und nur so kriegen dann auch die Oberen und Guardians, was sie verdienen!«

»Himmel!«, keuchte Hailey, wachsbleich im Gesicht.

Nekia sank wie entkräftet auf den nächsten Stuhl.

»Schade um die guten Sandwiches«, kam es mit einem schweren Seufzer von Flake.

Fling kicherte über den schwarzen Humor seines Zwillingsbruders und schlug vor: »Komm, nehmen wir noch schnell einen Bissen. Unsere Henkersmahlzeit scheint verdammt kurz auszufallen.«

Beide griffen nach einem Sandwich.

»Los, nichts wie raus hier!«, gellte Teether Joe und wollte sich zur Tür durchdrängen.

»Flucht wird keinen retten! Das gesamte Gelände fliegt gleich in die Luft!«, stieß Whitelock mit sich überschlagender Stimme hervor.

»Einundvierzig«, zählte Kendira laut, während ihr der Schweiß den Rücken hinunterrann. Mit jeder Sekunde kostete es sie größere Willensanstrengung, äußerlich den Eindruck von völligem Gleichmut zu bewahren. Hatte sie sich in Scalper Skid verrechnet? Ließ er es darauf ankommen und schätzte er sein Leben so gering ein?

»Tun Sie doch was!«, schrie Sherwood den Anführer der Bones verzweifelt an. Nackte Todesangst sprang ihm aus den Augen. »Wenn Whitelock sagt, dass es kein Entkommen gibt, dann ist es auch so!«

»Siebenunddreißig«, zählte Kendira. Der Tod rückte immer schneller näher. Die Sekunden schienen nun förmlich über das Display zu rasen.

»Gib auf, Scalper Skid!«, sagte nun auch Jedediah. Seine Sätze kamen selbst im Angesicht des Todes kurz und knapp, wie es seine Art war. »Die Sache ist gelaufen. Du hast hoch gepokert und verloren. Das Mädchen hat dich ausgetrickst. Du hast sie unterschätzt. Leg die Waffe weg! Und sag deinen Männern hier, sie sollen dasselbe tun!«

»Achtzehn!«

»O mein Gott, es wird uns gleich alle in Stücke reißen!«, jammerte Whitelock und beschwor Scalper Skid händeringend: »Um Himmels willen, tun Sie, was sie verlangt!«

»Vierzehn!« Kendira presste die Zahl mühsam hervor. Ihr war, als drückte eine Platte aus Blei auf ihre Brust und raubte ihr den Atem.

Der Tod streckte die Hand nach ihnen aus.

»Verdammt! Hol mich doch der Teufel!«, fluchte Scalper Skid. Auf seiner Stirn perlte feiner Schweiß und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske ohnmächtiger Wut. Er riss sich den Ledergurt seiner Maschinenpistole von der Schulter, legte den Sicherungshebel um und warf die Waffe auf den Tisch. »Los, runter mit den Waffen, Männer!«, brüllte er dabei. »Gebt sie ab!«

Die Erlösung ließ Kendira schwindelig werden. Sie wankte, hielt sich aber schnell an der Tischplatte fest. Niemand schien es bemerkt zu haben.

Den geschlagenen Bones wurden die Waffen aus den Händen gerissen.

»Herrgott, worauf wartest du?«, schrie Whitelock Kendira hysterisch schrill an und stieß die Funkbox zu ihr auf die andere Seite des Konferenztisches hinüber. Im Display leuchtete gerade die Acht auf. »Den Code! Tipp den Stoppcode ein!«

»Ja, das müsste ich wohl«, sagte Kendira, machte jedoch keine Anstalten, nach der Box zu greifen und die entsprechenden Zahlentasten zu drücken.

»Kendira!« Indigo packte sie mit hartem Griff am Arm. »Nun mach schon! Sonst war das alles vergeblich!«

Doch sie rührte sich nicht.

Die letzten Zahlen liefen durch.

»O mein Gott!« Sherwood schlug die Hände vors Gesicht und sackte wimmernd in sich zusammen.

Null.

So mancher im Raum spannte in Erwartung der gigantischen Explosion alle Muskeln an und schloss unwillkürlich die Augen. Doch die Explosion, die die Lichtburg und alle Gebäude um sie herum hätte zerstören sollen, blieb aus.

Die atemlose, von Entsetzen und Todeserwartung getränkte Stille, die dem Aufleuchten der Null für ein, zwei Sekunden folgte, hatte etwas Unwirkliches.

»Es war ein Bluff!«, sagte Kendira. Ihrer Stimme fehlte jeglicher Triumph, nicht einmal ein Hauch Schadenfreude schwang in ihr mit. Sie war innerlich viel zu ermattet, um etwas anderes als unsägliche Erleichterung und Dankbarkeit zu empfinden. »Templeton hat die Zünder in den Kellerschächten schon vor Tagen entschärft. Es bestand also nie die Gefahr, dass der Plastiksprengstoff hochgeht und uns alle in Stücke reißt. Nur uns war der Tod gewiss, Scalper Skid! Weil ihr uns in den Rücken gefallen seid und uns an Hyperion verkaufen wolltet!«

Ein zorniges Gefluche und gequältes Aufstöhnen ging durch den Raum, das von den übertölpelten Bones sowie von Sherwood und Whitelock kam. Es wurde begleitet von schadenfrohem Gelächter, in das sogar die drei Wolf-Leute einstimmten, und dem lauten Abklatschen mehrerer High Fives.

»Verflucht sollst du sein!«, schrie Scalper Skid in maßloser Wut, weil das Mädchen, das er vor wenigen Minuten noch geohrfeigt hatte, ihn mit ihrem Bluff in die Knie gezwungen und ihn vor seinen Männern blamiert hatte.

»Du irrst! Der Fluch trifft dich!«, rief Hailey ihm über den Tisch zu. Sie hatte einem der Glatzköpfe den Revolver abgenommen, mit dem er sie, Nekia und die Zwillinge in Schach gehalten hatte. Sie hielt den Trommelrevolver mit beiden Händen. »Für deinen Verrat gibt es nur eine Strafe und die erhältst du jetzt auf der Stelle!« Sie drückte ab.

Die Detonation im Dienstzimmer war ohrenbetäubend.

Scalper Skid wurde von der Kugel in die Brust getroffen und gegen die Wand geschleudert. Seine rechte Hand krallte sich in die Kleidung über der Wunde. Dabei weiteten sich seine Augen, als wollten sie gleich aus den Höhlen quellen. Er sank an der Wand entlang zu Boden.

Bevor noch jemand einschreiten konnte, schwenkte der Revolver in Haileys Händen zu Whitelock und Sherwood herum.

Der Prinzipal riss die Arme hoch. »Was soll das?«, schrie er. »Ihr habt versprochen, dass wir mit dem Leben davonkommen!«

»Ich nicht!«, erwiderte Hailey voller Abscheu. »Und das Versprechen von heute Morgen habt ihr längst verwirkt! Ein zweites Mal lasse ich euch Mörderpack nicht davonkommen!« Und dann fielen zwei weitere Schüsse in rascher Folge.

Liberty 9 - Todeszone
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