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Je tiefer Dusty Tumbleweed sie in die Dunkelwelt führte, desto mehr erschien sie Kendira wie ein gigantischer Kadaver – erst von Geschossen zerfetzt, dann von wildem Getier ausgeweidet und nun umsirrt von Schmeißfliegen, die zusammen mit einem Heer wimmelnder Käfer und Würmer über die fauligen Reste herfielen.
Jede Straße, durch die Dusty sie führte, zeigte dasselbe trostlose Bild: Gebäudereste mit zerborstenen Glasscheiben; aufgerissene Asphaltdecken, in deren Spalten und Löchern Unkraut und Gesträuch wuchs; geborstene Rohre, die aus dem Boden oder aus Mauerstücken ragten; herabhängende, zerfetzte Kabel; längst erloschene Ampeln, die von einem geknickten Mast hingen oder aus einem Schuttberg hervorragten; verrostete, durchlöcherte Verkehrsschilder; der abbröckelnde Betontorso einer Brücke auf hohen Pfeilern, die im Nichts begann und nach wenigen Metern im Nichts endete; Skelette von Hochhäusern in allen Stufen der Zerstörung; ausgebrannte Autowracks und endlose Mengen von Dreck und Schutt und stinkendem Abfall und Fäkaliengruben.
Mit vorrückender Nacht begegneten ihnen auf den Straßen und Trümmerwegen immer weniger Menschen. Aber dass die Ruinen, Höfe und Bretterverschläge um sie herum alles andere als ausgestorben waren, verrieten ihnen die vielfältigen Geräusche, die flackernden Lichter und die Rauchschwaden, die aus den Trümmerbehausungen zu ihnen drangen.
Hier und da stießen sie aber auch auf Hinweise, dass die Bewohner im Umkreis einiger Ruinenblöcke zähen Widerstand gegen das sie umgebende Elend leisteten. Derartige Anzeichen fanden sich zumeist in der näheren Umgebung von einstigen Grün- und Parkanlagen. Alte Bäume wuchsen dort zwar längst keine mehr. Die letzten waren schon wenige Jahre nach dem zweiten Erdbeben gefällt und verfeuert worden. Aber die Anwohner hatten diese kleinen Stadtparks in Äcker und Gemüsefelder verwandelt, die von hohem, rostigem Stacheldraht umzäunt waren und selbst bei Nacht von bewaffneten Männern bewacht wurden.
In den ersten beiden Stunden, die sie mit Dusty unterwegs waren, musste der Runner dreimal Wegzoll bezahlen. Beim ersten Mal versperrten ihnen weniger die dicken Eisenketten, die quer über die Straße gespannt waren, den Weg, als viel mehr die Wachposten dahinter – und insbesondere die fünf doppelten Gewehrläufe von Schrotflinten. Die Läufe waren in kreisförmiger Anordnung auf ein Gestell montiert, das auf einer mit Rollen versehenen Holzplattform ruhte, und alle Abzüge waren miteinander verbunden.
»Wartet hier!«, befahl Dusty, als es noch etwa zwanzig Schritte bis zur Straßensperre waren. »Die Russen stehen in ihrem kleinen Bezirk arg unter dem Druck der umliegenden Territorien. Deshalb haben sie am Abzug höllisch nervöse Finger. Und wenn das Ding da losgeht, bleiben von uns allen bloß Fleischstücke übrig!« Allein stiefelte er mit seinen Sporen, die in der Nacht besonders laut klirrten, auf die Wachposten zu.
»Ich glaube fast, seine Sporen sollen so laut klirren«, vermutete Kendira leise. »Damit man ihn schon von Weitem kommen hört und ihn im Dunkeln nicht einfach über den Haufen schießt.«
Es dauerte nur ein, zwei Minuten, dann hatte Dusty mit den Wachposten den Wegzoll ausgehandelt. Ein kleiner Beutel wechselte den Besitzer, dann winkte der Runner sie zu sich. Als sie Augenblicke später über die Ketten stiegen und an dem halben Dutzend Wachposten vorbeikamen, starrten die Männer sie mit harten und durchdringenden Blicken an. Und so manches Augenpaar vermochte sich nur äußerst widerwillig von ihren modernen Waffen zu lösen.
»Wenn Blicke einen entwaffnen könnten, stünden wir jetzt alle ohne unsere Gewehre und Maschinenpistolen da«, raunte Carson und schaute sich nervös um, als fürchtete er, dass die Russen jeden Moment hinterrücks über sie herfallen könnten. »Und wenn die wüssten, was wir noch in unseren Rucksäcken mit uns schleppen und was ich hier in der Segeltuchtasche habe …«
Dasselbe mulmige Gefühl hatten sie bei den nächsten beiden Begegnungen mit bewaffneten Gangs. Diesmal verschaffte ihnen Dusty mit zwei Schachteln Land of Glory und einem Heftchen Angeldust freien Durchzug durch deren Revier.
Es ging schon auf Mitternacht zu, als sie eine breite Straße entlanggingen und plötzlich feierlichen, geradezu jubilierenden Gesang hörten und vor sich den Lichtschein von vielen Pechfackeln sahen.
Ein langer Zug Menschen in grauen Gewändern strömte singend und von Dutzenden Fackelträgern begleitet über eine Kreuzung. Eine der vorderen Gestalten trug offensichtlich etwas Schweres und Sperriges auf seiner Schulter. Was es jedoch war, ließ sich so schnell nicht feststellen, verschwand der Mann doch im nächsten Moment schon hinter den Trümmergebäuden neben der Kreuzung.
»Was geschieht da?«, rief Zeno.
Der Runner zog die dünnen weißblonden Brauen hoch und blieb kurz stehen. »Verdammt! Sieht ganz so aus, als ob die Anhänger von Preacher Elias jetzt tatsächlich Ernst machen!«
»Ernst womit?«, wollte Kendira wissen.
»Mit den Kreuzigungen.«
»Kreuzigungen?«, stieß Dante hervor, als könnte er nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. »Was um alles in der Welt wollen sie denn kreuzigen?«
»Sich selbst. Beziehungsweise sie lassen sich kreuzigen – und das völlig freiwillig.«
»Das gibt es doch nicht!«, stieß Zeno hervor. Sie wussten aus Romanen über die Antike, was Kreuzigungen waren und was dabei geschah. Im alten Rom galt sie als die grausamste Form der Hinrichtung, die deshalb jedoch nur an jenen Verurteilten vollstreckt werden durfte, die nicht das römische Bürgerrecht besaßen.
»Das Territorium, in dem wir uns gerade aufhalten und das dem Shadowland noch ein Stück vorgelagert ist, befindet sich unter der Kontrolle von mehreren militanten religiösen Sekten, und die von Preacher Elias ist nicht nur die größte, sondern von allen auch die radikalste«, erklärte Dusty. »Seine Anhänger bevölkern die Ruinen rund um den Salvation Square und der liegt gleich rechts von der Kreuzung da oben.«
»Aber warum wollen sie sich denn kreuzigen lassen?«, fragte Kendira verständnislos.
»Weil sie sich davon das Paradies und das ewige Heil versprechen«, erwiderte Dusty. »Zumindest hat dieser Preacher, der sich nach dem Propheten Elias benannt hat, ihnen das eingeredet. Er hat schon seit Langem gepredigt, dass bald das Ende der Welt kommt und jeder, der sich in den letzten hundertzwanzig Tagen vor Gottes Jüngstem Gericht kreuzigen lässt, auf der Stelle das ewige Heil erlangen wird.«
Carson schüttelte irritiert den Kopf. »Aber wie kann man denn solch einen Schwachsinn bloß glauben?«
»Weil es so in der Bibel steht. Fragt mich nicht, wo genau, aber sinngemäß heißt es da: ›Ein jeder nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!‹ Und weil Jesus am Kreuz gestorben ist, hat dieser Fanatiker Elias seine Anhänger offensichtlich davon überzeugt, dass diese Aufforderung wörtlich zu nehmen ist und jeder freiwillig am Kreuz sterben muss.«
»Glauben Sie an diesen Jesus?«, fragte Kendira.
Dusty nickte. »Ja, das tue ich. Aber ich glaube nicht daran, dass alles, was in der Bibel steht und vor über zweitausend Jahren niedergeschrieben worden ist, absolut wortwörtlich zu verstehen ist. Und jetzt weiter, Leute!«, beendete er das Thema. »Wir haben noch eine verdammt lange Strecke vor uns. Und der gefährlichste Teil kommt erst in einigen Stunden!«
Als sie die Kreuzung erreichten, bog Dusty nach links ab, ohne einen Blick in Richtung Salvation Square zu werfen. »Ihr schaut besser nicht nach rechts!«, rief er ihnen zu.
Seine Warnung kam zu spät. Aber selbst wenn sie früher gekommen wäre, Kendira und ihre Freunde hätten wohl auch dann der Versuchung nicht widerstanden, auf der Kreuzung nach rechts zu blicken.
Augenblicke später wünschte ein jeder von ihnen, es nicht getan zu haben.
Der Salvation Square lag im Licht großer Feuer, die in alten Ölfässern und trichterförmigen Eisenkäfigen brannten. Ihr lodernder Flammenschein hob Dutzende hölzerner Kreuze aus der Dunkelheit, die rund um den großen Platz errichtet waren. Von zwei Kreuzen, die sich rechts und links neben einem Balkenkreuz mit der überlebensgroßen Metallfigur eines Gekreuzigten mit einem goldenen Dornenkranz um den Kopf erhoben, hingen die nackten Körper von Menschen. Sie waren blutüberströmt, über der Hüfte aufgeschlitzt und auf das Grässlichste von den scharfen Schnäbeln der Aasvögel gezeichnet, die nie lange auf sich warten lassen, wo der Tod einen menschlichen oder tierischen Leib in einen Kadaver verwandelte.
Ein eisiger Schauer des Entsetzens lief Kendira durch den Körper und ein Würgen stieg ihr in die Kehle. Schnell wandte sie sich ab, aber das schaurige Bild hatte sich schon unauslöschlich in ihre Erinnerung gebrannt – wie auch so manch andere Bilder, zu denen auch die Auslöschung von Master Seyward und der Mord an Sinfora auf den Portalstufen der Lichtburg gehörten. Schon jetzt waren es viel zu viele, die sie für den Rest ihres Lebens heimsuchen würden. Aber sie ahnte, dass es nicht bei ihnen bleiben würde.
Auch die anderen wandten sich rasch von der grauenvollen Szene ab, erschüttert und abgestoßen. Nur Hailey zeigte nicht die geringste Gefühlsregung.
»So oder ähnlich werden wir auch enden«, sagte sie völlig gleichgültig. »Wir alle. Wir kommen aus dieser Dunkelwelt nicht mehr lebend heraus.«
Carson fuhr zu ihr herum. »Red doch nicht so einen Unsinn!«, zischte er. »Der Runner bringt uns bestimmt sicher durch das Shadowland! Also hör auf, hier allen den Mut zu nehmen, okay?«
Hailey lachte trocken auf. »Von wegen! Wir sind erledigt. Und warum auch nicht? Gibt doch keinen Grund, warum nur Indigo und Alisha dabei draufgehen sollen, oder?«
»Halt endlich den Mund, sonst sorge ich dafür, dass du es tust!« Carson machte eine Drohgebärde.
Kendira legte ihm eine Hand auf den erhobenen Arm, obwohl sie wusste, dass es eine leere Drohung war. Sie alle standen unter einer ungeheuren nervlichen Anspannung. Aber Carsons Nerven schienen blank zu liegen, blanker als die der anderen. Es kostete ihn sichtlich immer größere Anstrengung, ein Mindestmaß an Selbstbeherrschung zu bewahren. Das hätte sie bei ihm, der in Liberty 9 doch von allen als unbestrittener Anführer bewundert worden war, nicht vermutet.
Hailey verzog den Mund zu einem Ausdruck, der mehr mitleidig als abfällig war. »Wirst schon sehen«, murmelte sie und begann dann leise die Melodie von den zehn kleinen Negerlein zu summen. Sie fing jedoch schon gleich bei neun an.