56

Sie setzten die Flucht durch die Tunnel der oberen Ebene fort. Die Furcht, zu früh aus den Tiefen des Abyss aufgestiegen zu sein und die Umzingelung durch die Islander nicht durchbrochen zu haben, saß ihnen noch lange wie ein unsichtbarer Begleiter im Nacken und trieb sie rastlos voran.

Ihre Furcht erwies sich als unbegründet. Sie stießen in den Tunneln nur auf Elendsgestalten, die nirgendwo sonst Unterschlupf gefunden hatten und sich bei ihrem Nähern verängstigt in Nischen, Spalten und unter die seitlichen Laufstege verkrochen. Keiner wagte es, sich ihnen in den Weg zu stellen. Und sie liefen auch nicht in einen Hinterhalt von Hyperions Söldnern.

Es ging auf halb vier zu, als Dusty sie endlich wieder an die Oberfläche führte – mit bleichen Gesichtern, am Rande ihrer Kräfte und mit der Gewissheit, innerlich um viele Jahre gealtert zu sein. Nie hätte Kendira geglaubt, dass sie Erlösung empfinden würde, wenn sie sich in der düsteren Trümmerlandschaft des Shadowland wiederfand.

Ihren Gefährten erging es nicht anders.

»Endlich! Endlich kann ich wieder atmen!«, stieß Zeno befreit hervor und schüttelte sich, als könnte er den hinter ihnen liegenden Horror auf diese Weise loswerden. »Nie wieder steige ich da hinunter! Keine Macht der Welt wird mich noch einmal dazu kriegen!«

»Mich auch nicht«, murmelte Carson. »Dieser grauenhafte Abyss wird mich bestimmt noch bis ans Ende meines Lebens mit Albträumen heimsuchen.«

»Was für ein Geschenk, wieder den Himmel über sich zu sehen«, sagte Dante dankbar. »Selbst wenn er noch so grau und wolkenverhangen ist.«

Nekia nickte. »Ich dachte schon, wir werden ihn nie wiedersehen«, gestand sie mit belegter Stimme. »Dass wir das überlebt haben …« Sie ließ den Satz unbeendet und schüttelte nur müde den Kopf.

Kendira schämte sich insgeheim, dass sie sich trotz aller Erschöpfung so unbändig ihres Lebens freute. Es erschien ihr irgendwie schäbig, wo doch Marco auf dem Fabrikgelände sowie Hailey und die Zwillinge im Abyss ihr Leben gelassen hatten. Aber sie konnte nicht dagegen an.

Die Islander suchten noch immer nach ihnen, aber in der völlig falschen Richtung, wie ihnen das Kreisen der beiden Helikopter über einem Gelände mehrere Kilometer nordöstlich von ihrer Position verriet. Sie waren der Einkreisung entkommen.

Die Grenze zwischen dem Shadowland und New Providence, wo die Latinos die überwiegende Mehrheit der Bewohner stellten, erreichten sie schnell und ohne jeden Zwischenfall. Dass in diesem größten aller Territorien mehr als nur ein kümmerliches Maß an Gesetz und Ordnung herrschte, wurde schon offensichtlich, als sie zu einem der bewachten Übergänge gelangten.

Der Durchgang war zwar auch zu beiden Seiten von hohen und mehr als fünfzig Meter langen Trümmerbergen gesäumt. Aber man sah auf den ersten Blick, dass man viel Arbeit aufgewandt hatte, um diese Kette von Schuttbergen in der Höhe anzugleichen, sie möglichst lang auseinanderzuziehen und die Außenflächen dieser natürlichen Barrieren so zu glätten, dass sie nicht mehr so leicht zu erklettern waren.

Auch verlangten die Wachposten weder Hyperion-Credits noch Drogen, damit sie passieren durften. Man kannte den Runner offenbar gut und erwies ihm sichtlich Respekt. Und den staunenden und anerkennenden Blicken nach zu urteilen, mit denen Kendira und ihre Freunde bedacht wurden, wusste man inzwischen offenbar auch hier, wer sie waren und dass ein großes Aufgebot von Islandern die ganze Nacht lang Jagd auf sie gemacht hatte. Zweifellos hielt man es für ein Wunder, nun fünf von ihnen lebend aus dem Shadowland kommen zu sehen.

Dusty führte sie wenig später auf einen Platz, der etwa zweihundert Meter hinter dem Übergang lag. Mehrere Lager- und Werkstattschuppen aus Wellblech umschlossen das Gelände auf drei Seiten. Ein Holzturm mit einem Windrad an seiner Spitze überragte die niedrigen Gebäude und speiste vermutlich die alte Bogenlaterne, die einen schwachen gelblichen Schein über das nächtliche Gelände warf.

Vor den Schuppen türmten sich mannshohe Berge aus Ziegelsteinen, Balken, Latten, Brettern, Eisenstangen und Stahlträgern auf, aber nicht als wüste Trümmerberge, sondern sorgfältig aufgeschichtet. Und dort, wo der Platz seine einzige offene Seite hatte, ragten drei Eisenbahngleise, die weiter unten alle auf einen Schienenstrang mündeten, bis in die Nähe der Stapel aus recyceltem Baumaterial heran. Auf den Gleisen standen mehrere einfache Güterwaggons mit leichtem Unterbau und simplen Bretterwänden. So etwas wie eine Lokomotive war jedoch nirgends zu sehen.

Kaum waren sie aus der Gasse zwischen zwei Wellblechschuppen gekommen und auf den Platz getreten, als ihnen auch schon ein Mann mit einer Schrotflinte über der Schulter entgegenkam. Er war von sehr fülliger, untersetzter Gestalt, mit einer dicken Knollennase geschlagen und glatzköpfig bis auf einen schmalen grauen Haarkranz, der wie ein silberner Reif um seinen narbigen Schädel lief.

»Teufel, ihr habt es tatsächlich geschafft!«, rief er ihnen schon aus mehreren Schritten Entfernung und mit einem breitem Grinsen zu. »Nicht einen lausigen Credit hätte ich darauf gewettet, dass du mit ihnen durchkommst! Nicht nach dem, was die Hyperion-Bande heute Nacht gegen euch in die Schlacht geworfen hat! Wenn das mal nicht dein Meisterstück war, Dusty!«

Der Runner verzog das Gesicht. »Schätze mal, das lässt wohl noch auf sich warten«, sagte er mit müder Stimme. »Denn alle habe ich nicht durchgebracht, Diego.«

»Mit wie vielen bist du denn aufgebrochen?«

»Mit neun.«

»Und du musstest mit ihnen hinunter in den Abyss?«

Dusty nickte knapp, reichte Flakes Gewehr an Dante weiter und zog seine Metalldose mit den selbst gedrehten Zigaretten aus der Manteltasche.

Diego atmete tief durch. »Dann sind fünf von neun immer noch eine verdammt stolze Leistung.«

»Erzähl das mal Hailey und den Zwillingen!«, knurrte Carson, aber so leise, dass die beiden Männer vorn es nicht hören konnten.

Dusty schüttelte nur wortlos den Kopf, setzte den Glimmstengel in Brand und schob sich die Melone in den Nacken.

Diego stieß einen scharfen Pfiff aus und rief »Hector! Juan!« über den Platz. Sekunden später tauchten zwei junge, kräftige Männer aus einem der Schuppen auf. Sie hatten Jagdgewehre über die Schulter gehängt und sahen verschlafen aus.

Der Blick des kleinwüchsigen, dicken Diego ging kurz über die modernen Sturmgewehre und Maschinenpistolen, mit denen die Libertianer bewaffnet waren, und er lachte trocken auf. »Da stellt sich wohl die Frage, wer hier wen bewacht!«, sagte er spöttisch. Dann rief er den beiden Männern zu: »Los, schwingt euch auf die Daisy! Ihr könnt euch mal wieder richtig ins Zeug legen. Wir müssen die fünf Morituri zum Major bringen.«

Augenblicke später folgten die fünf Libertianer Diego und seinen beiden Gehilfen Hector und Juan auf einen leichten, offenen Bahnwagen mit einer brusthohen Bretterumrandung und mehreren Sitzbänken. In der Mitte des merkwürdigen Gefährts war eine doppelseitige Hebelstange auf ein Stangengerüst montiert.

»Was ist denn das?«, fragte Nekia verwundert.

Der dicke Diego lachte. »Das nennt man eine Draisine, genau genommen eine Handhebeldraisine. Es gibt nämlich auch welche, die mit Pedalen angetrieben werden«, erklärte er, während die beiden jungen Männer sich gegenüber an das Gestänge stellten und jeder die Hände um eine der beiden Hebelstangen legte. »Man treibt so eine Draisine vorwärts, indem man die Hebel rhythmisch auf und ab bewegt, so wie einen Pumpenschwengel. Über eine Kurbelschwinge unter der Plattform wird die Kraft dann auf die Räder übertragen.«

Keiner hatte darauf geachtet, dass der Runner nicht mit ihnen auf den Draisinewagen gestiegen war. Erst als sich das Schienengefährt langsam in Bewegung setzte, wurde ihnen bewusst, dass er fehlte.

»Kommt Dusty nicht mit?«, rief Kendira überrascht.

Diego schüttelte den Kopf. »Er hat euch zu mir gebracht. Damit ist sein Job erledigt.«

»Aber wir haben uns doch noch gar nicht von ihm verabschiedet und … und uns bedankt!«, stieß Nekia hervor. »Und dabei haben wir ihm doch so viel zu verdanken!«

»So ist es ihm lieber«, erwiderte Diego.

Als hätte der Runner gehört, dass sie über ihn sprachen, nickte er ihnen zum Abschied knapp zu und tippte dabei mit zwei Fingern an die Hutkrempe der Melone. Dann wandte er sich um und verschwand zwischen zwei Bretterstapeln – mit nun wieder klirrenden Sporen.

Hector und Juan mussten sich anfangs ordentlich anstrengen, um den Wagen von der Stelle zu bringen. Aber sowie die anfängliche Trägheit der Masse überwunden war und sie die Draisine in Schwung gebracht hatten, wurde es für sie sichtlich leichter.

Kendira war erstaunt, wie schnell sie an Geschwindigkeit gewannen und über die Gleise ratterten. Fahrtwind umwehte sie, trocknete ihre verschwitzten Haare und brachte eine willkommene Abkühlung von der schwülen Wärme, die über der Dunkelwelt lag. Die Strecke führte durch Stadtviertel, deren Gebäuden selbst bei Nacht anzusehen war, dass sie sich in der Mehrzahl in einem erheblich besseren Zustand befanden als die Häuser in allen anderen Bezirken, die sie bislang zu Gesicht bekommen hatten.

Aber nicht weil Erdbeben und Feuer hier weniger Zerstörung angerichtet hätten, sondern weil man hier den Wiederaufbau konsequent vorangetrieben hatte. Zwar gab es auch in diesem Territorium noch zahlreiche Ruinen, aber selbst diese erschienen weniger trostlos. Überall fiel der Blick auf primitive Baugerüste. Hier und da flog sogar ein von Grund auf neu errichtetes Gebäude an ihnen vorbei. Auch bemerkten sie auf vielen Dächern Windräder.

Die Fahrt dauerte keine zehn Minuten. Dann fuhr die Draisine in eine graue Betonhalle, durch die das Gleis mitten hindurchführte.

»Den Rest der Strecke geht es zu Fuß weiter!«, teilte Diego ihnen mit, während mehrere bewaffnete Männer aus dem Dunkel der Halle auftauchten und zu ihnen an die Draisine traten. »Und obwohl die Einhaltung der Vorschriften in eurem Fall vermutlich wenig Sinn ergibt, müssen wir sie doch ohne Ausnahme einhalten.«

»Und was heißt das?«, fragte Kendira.

Diego griff in eine Holzkiste unter seiner Sitzbank und sagte bedauernd, während er ein dickes schwarzes Wollbündel hervorholte: »Dass wir euch leider blickdichte Kapuzen über den Kopf stülpen müssen.«

Liberty 9 - Todeszone
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