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Zu Tode erschrocken fuhren sie herum und blickten geblendet in das gleißende Licht einer leuchtstarken Taschenlampe, die im selben Moment aufflammte und sie mit ihrem breiten Kegel erfasste.
»Und bitte keinen falschen Heldenmut!«, warnte die Stimme mit schneidender Schärfe. »Der Revolver in meiner Hand ist geladen und gespannt – und ich habe keine Hemmungen, sofort abzudrücken!«
Keiner von ihnen dachte daran, sich von der Stelle zu bewegen. Der schmerzhaft helle Lichtkegel war wie ein Bannstrahl, der sie lähmte. Auch war keiner von ihnen in der Lage, in diesen ersten Schrecksekunden einen klaren Gedanken zu fassen, der über das Offensichtliche hinausging. Nämlich dass ihr Plan, bei der Befreiung von Liberty 9 auf das Überraschungsmoment setzen zu können, hiermit gescheitert war.
Die Bulldogge, wie Master Sherwood bezeichnenderweise hinter seinem Rücken von Servanten und Electoren genannt wurde, hatte sie auf frischer Tat ertappt!
»Wie recht ich damit hatte, misstrauisch zu sein und mich bei den Senior-Servanten umzuhören, wer besonders dick mit diesem Jaydan befreundet war. Irgendwie hatte ich es doch geahnt, dass der Bursche noch anderes im Sinn hatte, als nur ein Tablet zu stehlen und verbotene Texte zu lesen«, sagte Master Sherwood. »Und so ist es ja auch, nicht wahr, Dante? Und wie ich sehe, hat es sich gelohnt, dass ich dich beobachtet habe und dir diese Nacht durch den Wald gefolgt bin!«
Fassungslos starrte Dante in den harten Lichtstrahl. Das hier war ein Albtraum. Nein, es war das Ende ihres tollkühnen und ehrgeizigen Plans! Ausgerechnet in diesem kritischen Moment, wo die Mountain Men noch unten in der Höhle steckten und nicht eingreifen konnten, von Sherwood überrascht worden zu sein, war eine Katastrophe.
Es blieb nur noch der Funke Hoffnung, dass Sherwood nicht ahnte, dass es noch einen weiteren Komplizen gab, nämlich Carson. Wenn Sherwood ihm, Dante, zu Beginn der Nacht zum ersten Mal gefolgt war, dann sprach alles dafür, dass er wirklich nichts von Carson wusste. Sie waren getrennt und auch nicht zur selben Zeit von der Lichtburg aufgebrochen und deshalb war Carson schon einige Minuten vor ihm durch den Tunnel in die Höhle hinuntergekrochen.
Aber wie sollte er ihm jetzt noch eine Warnung zukommen lassen, ohne dass Sherwood von seiner Waffe Gebrauch machte?
Wenn ein Schuss innerhalb der Sicherheitszone fiel, würden die Guardians sofort Alarm auslösen. Und dann würde es zu einem blutigen Kampf kommen, bei dem die Guardians nicht nur mit einer fünffachen Übermacht gegen die Mountain Men vorgehen konnten, sondern auch so gut wie alle anderen Vorteile auf ihrer Seite hatten, nämlich Nachtsichtgeräte, schnelle Trikes und Quads, eine überwältigende Feuerkraft und freies Schussfeld von den Wachtürmen herab. Und die ersten Truppen würden schon an den strategisch entscheidenden Punkten Stellung bezogen haben, noch bevor die erste Gruppe Mountain Men den Obsthain und die vorgelagerten Parkanlagen erreicht hatte.
Auch hinter Kendiras Stirn jagten sich die Gedanken. Sie wusste wie Dante, dass ihre Lage aussichtslos war. Sie hatte keine Chance gegen Sherwood, auch wenn sie ihm am nächsten stand. Selbst drei knappe Schritte waren eine weite Strecke im Vergleich zu dem Sekundenbruchteil, den Sherwood brauchte, um den Finger um den Abzug zu krümmen. Sie konnte der Kugel nicht entgehen und nur hoffen, dass der Schuss sie gleich töten würde. Aber wenn sie sich auf ihn warf, dann riss sie Sherwood vielleicht mit zu Boden und dämpfte mit ihrem Leib womöglich die Detonation. Gelang ihr das, war vielleicht doch noch nicht alles verloren.
»Hast mich ja reichlich lange warten lassen, bis du hier aus dem Loch wieder aufgetaucht bist, und beinahe hätte ich deine Rückkehr sogar noch verschlafen«, fuhr Master Sherwood indessen mit kaltem Hohn fort. »Aber das Warten hat sich gelohnt. Nun sind mir deine Komplizen gleich mit ins Netz gegangen. Was immer ihr da unten in der Höhle gemacht habt, es wird euch nichts nützen. Ihr kommt alle auf den Stuhl!«
Niemals!, schoss es Kendira durch den Kopf. Ich werde nicht auf dem Stuhl enden! Dann lieber ein kurzes und schnelles Ende hier im Wald!
Schon wollte sie sich mit dem Mut der Verzweiflung auf Master Sherwood stürzen, als schräg hinter ihm aus den Sträuchern ein scharfer, schnappender Laut zu vernehmen war, augenblicklich gefolgt von einem hohen Sirren.
Kurz darauf bohrte sich irgendetwas in Sherwoods Rücken. Eine Kugel war es nicht. Und doch bäumte er sich auf, während die Luft plötzlich von einem seltsamen elektrischen Knistern erfüllt war.
Sein Körper wand sich und zuckte, als hätte ihn ein schwerer epileptischer Anfall befallen. Revolver und Taschenlampe entglitten seinen Händen, als er jede Kontrolle über seine Gliedmaßen verlor. Unter ersticktem Stöhnen und Röcheln stürzte er vornüber. Eine letzte Welle von Zuckungen ging durch seinen Körper, dann lag er still vor Kendiras Füßen.
Das Licht der Taschenlampe, die neben ihm auf der Erde lag und ihren Schein quer über seinen gekrümmten Körper warf, ließ jetzt zwei silbrige Drähte erkennen, die in Sherwoods Rücken knapp unterhalb der Schulterblätter aus dem Gewebe seiner roten Kutte hervortraten – und von dort in Richtung der Büsche liefen.
Das elektrische Knistern, das aus genau diesen Sträuchern gekommen war, erstarb. Dort trat nun eine hagere Gestalt zwischen dem Buschwerk hervor. Der Mann hielt einen plumpen schwarzen Gegenstand in der Hand, der wie eine Waffe mit einer seltsam kurzen, rechteckigen Mündung aussah.
Es war ein Taser, eine Para-Gun! Sherwood war von mehreren starken Stromstößen, die durch die Drähte geflossen waren, paralysiert und bewusstlos zu Boden gestreckt worden.
Kendira fasste sich als Erste. Blitzschnell bückte sie sich nach Sherwoods Revolver und richtete ihn auf den Mann, der zu ihnen trat.
Dante riss zur selben Zeit seine Taschenlampe hoch und leuchtete ihn an. Er glaubte, wie auch seine Gefährten, seinen Augen nicht trauen zu dürfen.
»Verdammte Scheiße!«, entfuhr es Zeno.
Vor ihnen stand Primas Templeton, der Oberste ihrer Oberen und uneingeschränkter Herr über Leben und Tod in Liberty 9. Er ließ den Taser fallen und beschattete seine Augen mit einer knochigen Hand. Ein seltsam trostloses Lächeln lag auf seinem ausgemergelten Gesicht.
»Lass den Revolver sinken, Kendira. Es wäre nicht gut, wenn nun doch noch ein Schuss fällt. Sherwood wird noch eine Weile bewusstlos bleiben. Und von mir habt ihr nichts zu befürchten«, sagte er, um dann mit müder, brüchiger Stimme hinzuzufügen: »Jetzt nicht mehr.«