31

Um zwanzig Minuten vor drei in der Nacht hatte Bishop im Dienstzimmer des Primas den Funkspruch eines der Helikopterpiloten entgegengenommen. Der Pilot hatte sein Eintreffen in Liberty 9 für circa drei Uhr fünfzehn angemeldet.

Die Zeitangabe erwies sich als korrekt. Eine knappe halbe Stunde nach dem Funkkontakt tauchte der Helikopter, begleitet von dem schnell anschwellenden und typisch rhythmischen Geräusch seiner Rotoren, über den nordwestlichen Bergspitzen auf und sank schnell ins Tal herab.

Die geistigen Architekten von Liberty 9 hatten dem Helikopter nicht zufällig, sondern mit kalter Berechnung den verklärenden und zugleich doch zutreffenden Namen »Lichtschiff« gegeben. Er schien auch wahrhaftig auf einer Wolke gleißenden Lichts herabzuschweben. Oben auf dieser blendenden Wolke zeichnete sich zudem noch eine leicht gekrümmte glutrote Linie ab.

Das Lichtschiff, dessen Eintreffen im Herbst für alle, selbst für die Servanten, stets der atemberaubende Höhepunkt des Jahres gewesen war, nahm nach einem Schwenk über das funkelnd reflektierende Solarfeld Kurs auf den Schwarzen Würfel. Das tiefe Dröhnen und das rasende schrap-schrap-schrap erfüllten das Tal.

Alles sah so aus, wie es bisher immer in solch einer Nacht in Liberty 9 ausgesehen hatte. Zumindest musste es aus dem Cockpit des Helikopters so erscheinen.

Alle Wachtürme waren besetzt und ließen ihre Suchscheinwerfer mit der üblichen Rastlosigkeit und Zufälligkeit über die schwarzen Mauern der Wälder zickzacken. Die majestätische Lichtburg lag im schwachen Schein von nur wenigen Fassadenstrahlern, die zudem gerade mal ihre halbe Leuchtkraft abstrahlten. Nichts sollte vom Eintreffen des Lichtschiffes und dem raffiniert inszenierten Schauspiel ablenken, das mit seinem Kommen einherging.

Auch das weiträumige Flachdach des Schwarzen Würfels hob sich mit seiner zurückhaltenden Beleuchtung nicht sonderlich vor der dunklen Kulisse des Nachthimmels ab. Die schwenkbaren Strahler, die sich an den Dachrändern dicht an dicht aneinanderreihten, gaben nicht viel mehr als ein schwaches Glühen von sich.

Der Konvent hatte auf dem vorderen Drittel des Dachs wie gewohnt in Hufeisenformation und voller Stärke Aufstellung genommen. Die Versammlung zeigte jedenfalls die normale Anzahl von Electoren in silberblauen Kutten, von Mastern und Prinzipalen in roten Gewändern und den Primas in seiner weißen Robe mit der schillernden Schärpe.

Nur handelte es sich diesmal um ältere Servanten, die in roten Kutten die vorderen Plätze der Oberen eingenommen hatten. Und die Rolle des Primas spielte ein Senior-Servant namens Tyler aus Eden, dessen schon stark ergraute Haare man nicht mehr allzu stark hatte färben müssen, um ihn wie Templeton aussehen zu lassen.

Sechs kniehohe, längliche Transportkisten aus geriffeltem Aluminium standen bereit. Sie enthielten Waffen, Munition, Granaten, Flashbang genannte Blendgranaten, Sprengstoff, Sprechfunkgeräte, Overalls, Tornister, Magnesiumfackeln und anderes, was den zwölf Freiwilligen des Befreiungskommandos bei ihrem tollkühnen Unternehmen von Nutzen sein konnte.

Als der Helikopter näher kam, verwandelte sich der glutrote Bogen über dem gleißenden Weiß in eine Scheibe, die sich mit hoher Geschwindigkeit über der Lichtwolke drehte. Wer genau hinsah, konnte das, was eine rotierende Scheibe zu sein schien, als drei lange, glutrot leuchtende Rotorblätter ausmachen.

Als das Lichtschiff höchstens noch anderthalb Kilometer entfernt war, rief Tyler, der falsche Primas, gegen den anschwellenden Rotorlärm an: »Haltet euch bereit, Leute! Gleich ist es so weit! Und ihr Mutigen, die ihr euch freiwillig für die Befreiungsaktion gemeldet habt, alles Glück der Welt – und kommt alle heil wieder zurück!«

Kurz erhob sich brandender Applaus auf dem Dach, der jedoch schnell wieder erstarb – aus Sicherheitsgründen. Jeder wusste, was auf dem Spiel stand, und es musste alles vermieden werden, was den Argwohn der Piloten wecken konnte.

Tyler betätigte einen Schalter auf der Fernbedienung. Das bislang bescheidene weiße Lichtfeld, das die ochsenkopfgroßen Scheinwerfer auf dem Dach des Schwarzen Würfels gebildet hatten, verwandelte sich augenblicklich in gigantische Lichtfontänen in Kobaltblau und Feuerrot. Wie mächtige Säulen aus Farbe stiegen sie leicht schräg in den Himmel und bildeten eine Krone aus blaurotem Licht.

Gleichzeitig begannen auf der hinteren Hälfte des Flachdachs auf einer zwanzig Meter langen und zwölf Meter breiten Stahlplatte gelbe Lichter zu blinken. Sie bildeten auf der Mitte der Landeplattform einen großen Zielkreis, der im Sekundentakt aufleuchtete.

Einen Moment später löste sich diese Stahlplatte vom Rest der stählernen Dachkonstruktion und erhob sich, von einem Dutzend hydraulischer Arme gehoben, mehrere Meter in die Höhe. Eine Rampe mit gummiverkleideten Trittleisten klappte heraus, glitt über Führungsschienen schräg abwärts und verband den Landeplatz des Lichtschiffes mit dem unteren Teil des Flachdachs.

Und dann war das Lichtschiff auch schon heran. Wie in der Woche zuvor hatte ihnen Hyperion auch diesmal nur das kleine geschickt. Offensichtlich war der große Helikopter, der auch große Container transportieren konnte, noch immer nicht repariert.

Der Helikopter verharrte einen Moment hoch über dem Landeplatz. Dröhnender Sturmwind fegte aus der Höhe über das Flachdach hinweg, zerrte an den Kutten und zerzauste allen die Haare. Die schillernde Primasschärpe wehte an Tylers weißem Gewand wie das Banner einer Truppeneinheit.

Während der versammelte Konvent sich mit gesenktem Kopf hinkniete, sank der Helikopter, scheinbar von seinem Kissen aus gleißender Helligkeit getragen, langsam herab. Er schwankte kurz über den intensiv gelb blinkenden Landelichtern und setzte dann mit dem Heck zum Konvent auf der Stahlplattform auf. Die Rotoren wurden langsamer und der Sturmwind legte sich.

Weißer Nebel wogte im nächsten Moment in dichten, dicken Wolken unter dem Rumpf hervor, stieg an der silbrigen Haut empor und wurde von den Rotoren zerhackt und verwirbelt. Die Heckklappe öffnete sich. Ein ähnliches tiefblaues Licht, wie es die Hälfte der Dachstrahler schräg in den Himmel jagte, drang aus dem Innern des Lichtschiffs, begleitet von einem wabernden, ebenfalls blauen Bodennebel, der sich mit dem weißen entlang des Rumpfes vermischte.

»Die Transportkisten!«, befahl Tyler knapp. »Bringt sie ins Lichtschiff!«

Zwölf junge Männer in Servantenkutten traten vor. Je zwei packten sich eine der Alukisten und trugen sie in den Helikopter. Die Fracht mit angeblich recycelbaren Geräten und Materialien war schnell eingeladen.

Und dann tauchte oben auf der Anzeigetafel in der Hecköffnung des Helikopters auch schon der erste Name von der Liste auf, die Bishop an die Leitstelle in Presidio durchgegeben hatte. Wie üblich wurden zuerst die männlichen Electoren aufgerufen. Deshalb war es Carson, der in der alphabetischen Reihenfolge den Anfang machte.

»Carson, geh und diene, Libertianer!«, rief Tyler, sich getreu an das vorgeschriebene Ritual haltend, das nichts weiter als diese nüchterne Aufforderung nach achtzehn Jahren in Liberty 9 zum Abschied vorsah.

Es war ganz still geworden in der Versammlung, absolut still. Nicht ein Laut war zu hören. Es war jedoch nicht jene vertraute Stille, die von dem brennenden Wunsch erfüllt war, gleich auch den eigenen Namen in der Heckluke aufleuchten zu sehen.

Es war vielmehr eine beklommene Stille des Abschieds – wie bei einer Beerdigung, bevor die erste Schaufel Erde auf den Sarg fällt. Jeder wusste, was den zwölf Freiwilligen bevorstand, jeder war dankbar, nicht zu ihnen zu gehören, und jeder schämte sich dafür im Stillen.

Mit steifen Schritten, aber hoch erhobenem Kopf trat Carson aus dem Block der Alpha-Electoren, schritt die Rampe hinauf und begab sich, ohne sich noch einmal umzublicken, in den Helikopter. Und so wie er ging einer nach dem anderen den kurzen Weg hinauf zur Plattform und verschwand hinter der Nebelwand im Rumpf des Lichtschiffs.

Liberty 9 - Todeszone
titlepage.xhtml
cover.html
978-3-641-08750-0_ePub.html
978-3-641-08750-0_ePub-1.html
978-3-641-08750-0_ePub-2.html
978-3-641-08750-0_ePub-3.html
978-3-641-08750-0_ePub-4.html
978-3-641-08750-0_ePub-5.html
978-3-641-08750-0_ePub-6.html
978-3-641-08750-0_ePub-7.html
978-3-641-08750-0_ePub-8.html
978-3-641-08750-0_ePub-9.html
978-3-641-08750-0_ePub-10.html
978-3-641-08750-0_ePub-11.html
978-3-641-08750-0_ePub-12.html
978-3-641-08750-0_ePub-13.html
978-3-641-08750-0_ePub-14.html
978-3-641-08750-0_ePub-15.html
978-3-641-08750-0_ePub-16.html
978-3-641-08750-0_ePub-17.html
978-3-641-08750-0_ePub-18.html
978-3-641-08750-0_ePub-19.html
978-3-641-08750-0_ePub-20.html
978-3-641-08750-0_ePub-21.html
978-3-641-08750-0_ePub-22.html
978-3-641-08750-0_ePub-23.html
978-3-641-08750-0_ePub-24.html
978-3-641-08750-0_ePub-25.html
978-3-641-08750-0_ePub-26.html
978-3-641-08750-0_ePub-27.html
978-3-641-08750-0_ePub-28.html
978-3-641-08750-0_ePub-29.html
978-3-641-08750-0_ePub-30.html
978-3-641-08750-0_ePub-31.html
978-3-641-08750-0_ePub-32.html
978-3-641-08750-0_ePub-33.html
978-3-641-08750-0_ePub-34.html
978-3-641-08750-0_ePub-35.html
978-3-641-08750-0_ePub-36.html
978-3-641-08750-0_ePub-37.html
978-3-641-08750-0_ePub-38.html
978-3-641-08750-0_ePub-39.html
978-3-641-08750-0_ePub-40.html
978-3-641-08750-0_ePub-41.html
978-3-641-08750-0_ePub-42.html
978-3-641-08750-0_ePub-43.html
978-3-641-08750-0_ePub-44.html
978-3-641-08750-0_ePub-45.html
978-3-641-08750-0_ePub-46.html
978-3-641-08750-0_ePub-47.html
978-3-641-08750-0_ePub-48.html
978-3-641-08750-0_ePub-49.html
978-3-641-08750-0_ePub-50.html
978-3-641-08750-0_ePub-51.html
978-3-641-08750-0_ePub-52.html
978-3-641-08750-0_ePub-53.html
978-3-641-08750-0_ePub-54.html
978-3-641-08750-0_ePub-55.html
978-3-641-08750-0_ePub-56.html
978-3-641-08750-0_ePub-57.html
978-3-641-08750-0_ePub-58.html
978-3-641-08750-0_ePub-59.html
978-3-641-08750-0_ePub-60.html
978-3-641-08750-0_ePub-61.html
978-3-641-08750-0_ePub-62.html
978-3-641-08750-0_ePub-63.html
978-3-641-08750-0_ePub-64.html
978-3-641-08750-0_ePub-65.html
978-3-641-08750-0_ePub-66.html
978-3-641-08750-0_ePub-67.html
978-3-641-08750-0_ePub-68.html
978-3-641-08750-0_ePub-69.html
978-3-641-08750-0_ePub-70.html
978-3-641-08750-0_ePub-71.html
978-3-641-08750-0_ePub-72.html
978-3-641-08750-0_ePub-73.html