14

Für einen langen Augenblick stand Templeton schweigend da und ließ seinen Blick über die Reihen der Electoren, der Servanten und der Guardians schweifen. Auf dem Vorplatz herrschte wieder völlige Stille. Es war eine angespannte, fast atemlose Stille. Alle wussten, dass ein solcher Bruch im morgendlichen Ritual nur durch einen außerordentlicheren Anlass zu rechtfertigen war.

»Libertianer!«, rief Templeton ihnen schließlich zu. »Der neue Tag, der über Liberty 9 heraufzieht, wird ein ganz besonderer Tag sein.«

Kendira war sicherlich nicht die Einzige, der auffiel, wie brüchig und müde die Stimme des Primas klang. Templeton besaß eigentlich eine überraschend kräftige und ausdrucksstarke Stimme, wie man sie bei einem Mann von seiner hageren, asketischen Gestalt kaum vermuten würde, und er verstand sich auch darauf, sie mit der ganzen Autorität seiner hohen Stellung einzusetzen.

Er schien selbst zu bemerken, wie schwach und energielos er klang. Denn als er fortfuhr, kehrten augenblicklich die markige Kraft und die Autorität in seine Stimme zurück, wie man sie von ihm gewohnt war.

»Alle Electoren und Servanten sowie alle Oberen begeben sich sogleich zu einer außergewöhnlichen Vollversammlung ins Audimax! Ich will dort den gesamten Konvent versammelt sehen – und zwar ohne jede Ausnahme!«, ordnete er an und sorgte damit selbst bei den Mastern und Prinzipalen für reichlich verblüffte Mienen und sogar einiges Getuschel.

»Ich habe dem Konvent heute wichtige Mitteilungen zu machen. Liberty 9 steht vor gravierenden Veränderungen, die einen jeden von uns angehen«, fuhr Templeton fort und brachte das Gemurmel, das überall eingesetzt hatte, schlagartig zum Schweigen. »Deshalb habe ich auch Commander Ferguson sowie First Lieutenant Blake und Lieutenant Shelton, die drei Offiziere unserer Guardians, zu dieser Vollversammlung bestellt. Ich weiß um die Ungewöhnlichkeit dieser morgendlichen Versammlung. Aber dennoch erwarte ich, dass sich gleich alle ruhig und gesittet in den Saal begeben!« Er ließ die Ermahnung ein, zwei Sekunden nachwirken, bevor er abschließend verkündete: »Doch bevor wir jetzt alle zum Audimax gehen, bitte ich die Electoren Carson und Zeno sowie den Servanten Dante zu mir. Ich habe sie aufgrund ihrer besonderen Leistungen dazu bestimmt, mir gleich bei der Präsentation oben auf der Bühne zur Hand zu gehen.«

Carson, Zeno und Dante traten wie aufgefordert hervor und begaben sich hinauf zu Templeton.

Ein verstecktes Lächeln huschte über Kendiras Gesicht, als sie sah, wie überrascht die drei dabei taten. Carson und Zeno zuckten die Achseln, als sie sich aus dem Block der Alpha-Jungs lösten, und sahen sich fragend an, als hoffte jeder, der andere könne ihm irgendwie verraten, wieso die Wahl ausgerechnet auf sie gefallen war und wobei sie Templeton helfen sollten. Dante zögerte sogar und blickte seinen Vorgesetzten, den Senior-Servant Winslow, zweifelnd an, als glaubte er, sich verhört zu haben. Erst auf dessen nachdrückliches Nicken hin folgte er den beiden anderen die Freitreppe hinauf.

Und keiner ahnte, dass Dante unter seiner Kutte Templetons Automatikpistole bei sich trug und dass auch Carson und Zeno bewaffnet waren. Sie hatten sich in der Waffenkammer jeweils einen Revolver mit kurzem Lauf ausgewählt.

Auch Kendira trug eine Waffe unter ihrem Gewand. Sie hatte die Innentasche ihrer Kutte aufgeschnitten und sich den handlichen Revolver unterhalb ihres Bauchnabels unter ihren eng anliegenden Body geschoben. Dort trug er weniger auf als seitlich über dem Oberschenkel.

Das Metall des Revolvers drückte noch immer so kalt und unheilvoll gegen ihre nackte Haut wie im ersten Moment. Doch nun, als sich Templeton oben umwandte und mit Dante, Carson und Zeno durch das Portal schritt und sich hier unten auf dem Appellplatz die militärische Ordnung sofort auflöste, da empfand sie die Berührung der Waffe wie ein eisiges Brennen. Denn sie trug sie nicht zu ihrem Selbstschutz, zumindest nicht in erster Linie, sondern weil sie im Saal gleich eine wichtige Aufgabe erfüllen musste. Dafür brauchte sie den Revolver – und die Entschlossenheit, notfalls auch ohne langes Zögern abzudrücken.

»Was ist los? Heute kein ›So geht denn hin und dient!‹?«, stieß jemand hinter Kendira und ihren beiden Freundinnen entrüstet hervor. Es war Alisha, deren Haut dunkler war als die von Nekia und die ihr dickes schwarzes Haar zu schulterlangen Rasta-Zöpfen geflochten hatte. »Und das ›Lob und Dank sei dir, Erhabene Macht!‹ hat der Primas auch noch vergessen! Das … das ist doch dann gar kein richtiges Morgenlob!«

Hailey fuhr zu ihr herum. »Dann denk dir doch den Rest, wenn du auf das hohle Wortgeklingel nicht verzichten kannst!«

Empört sah Alisha sie an. »Wie kannst du so etwas sagen? Sei froh, dass ich den Oberen deine abfällige Bemerkung nicht zur Kenntnis bringe!«

»Tu’s doch, am besten gleich nach der Versammlung. Da werden die Oberen in der richtigen Stimmung sein, um dein Anschwärzen würdigen zu können«, blaffte Hailey sie an.

Kendira packte sie am Arm und zog sie von Alisha weg.

In Haileys sommersprossigem Gesicht blitzten die Augen. Leise stieß sie hinter den Zähnen hervor: »Keine Sorge, ich raste schon nicht aus. Doch das Warten bringt mich fast um.«

»Es geht uns nicht anders, aber gleich ist es ausgestanden«, sagte Nekia und schob sie sanft mit sich fort.

Liberty 9 - Todeszone
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