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Kendira kämpfte gegen die Benommenheit an, die sie plötzlich überkommen hatte. Sie brauchte einen klaren Kopf, damit ihr Plan nicht in einer Katastrophe endete.
Nach Tagen nervenzehrenden Abwartens waren Dante und Carson nun mit den Männern vom Wolf-Clan im Totenwald unterwegs. Sie sollten den Handel mit den Bones-Leuten abschließen und die beiden kampferprobten Gruppen der Mountain Men schließlich durch das unterirdische Labyrinth der Höhlen, Spalten und Kriechgänge ins Liberty Valley führen. Eine Aufgabe, die auf jeder einzelnen Etappe voller Gefahren steckte.
Sie bangte um die beiden, ohne jedoch sagen zu können, an wem ihr Herz stärker hing. Jeder berührte sie auf seine eigene Art – wie auch jeder von ihnen seine eigene Art zu küssen hatte. Sie wünschte, sie hätte in dieser Nacht, da ihr aller Leben und damit auch das Schicksal ihrer Freunde im Lichttempel auf dem Spiel stand, bei ihnen sein können.
Aber Jedediah, der Clan-Chef der Wolfsleute, hatte die Anwesenheit eines Mädchens für äußerst unklug gehalten und darauf bestanden, dass nur Carson und Dante ihn zu dem Treffen mit den Bones begleiteten. Zudem wurde Kendira hier in der Sicherheitszone gebraucht. Dante und Carson bauten darauf, dass sie zusammen mit Nekia und Zeno dafür sorgte, bei ihrer Rückkehr nicht einer Patrouille Guardians in die Arme zu laufen. Und so lag Kendira nun in ihrem Bett im Alpha-Dorm, schlaflos seit vielen Stunden.
Wenn der Morgen graut, wird Blut fließen!
Wer hatte das noch mal gesagt? Ja, es war Dante gewesen. Und obwohl er nur ein Servant war und kein Elector, hatte keiner widersprochen. Es wäre auch lächerlich gewesen, zu glauben, eine so stark geschützte Anlage wie Liberty 9 könnte ohne Anwendung von Gewalt fallen.
Die einzig entscheidende Frage ist nur, wessen Blut – das der Oberen und Guardians oder unseres!
Das hatte ihr Alpha-Mitbruder Carson gesagt. Keiner unter den Electoren hatte strahlendere blaue Augen und hübscheres blondgelocktes Haar als er. Nur die fröhliche Unbekümmertheit, die ihn so viele Jahre gekennzeichnet hatte, gab es nicht mehr. Er hatte sie innerhalb weniger Tage verloren, und mit ihr noch so vieles andere, was sein Leben bis dahin bestimmt hatte. Aber damit stand er keineswegs allein, so war es ihnen allen ergangen.
Vermutlich werden auch wir nicht ungeschoren davonkommen, selbst dann nicht, wenn wir das Unmögliche irgendwie schaffen sollten!
Zeno, das plump wirkende, teigige Mondgesicht mit dem verblüffend hellen Verstand und der scharfen Zunge, hatte den Nagel auf den Kopf getroffen und alle schlagartig verstummen lassen.
Kendira wunderte sich über sich selbst. Warum, um alles in der Welt, gingen ihr plötzlich diese lähmenden Gedanken durch den Kopf? Was war nur mit ihr, dass es ihr so schwerfiel, sich auf ihre eigentliche Aufgabe zu konzentrieren? Wo waren Willenskraft und Nervenstärke geblieben, die doch immer ihre Stärken gewesen waren und die sie im virtuellen Raum des Schwarzen Würfels fast unbezwingbar gemacht hatten?
Im Moment spürte sie vor allem Angst, scharf und kalt wie ein Eisdorn. Und sie wusste, dass sie allen Grund dazu hatte.
Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit und versuchte zu begreifen, dass dies die Nacht war, in der alles ausgelöscht werden sollte, was sie jemals für wahr und erstrebenswert gehalten hatte.
Trotz ihrer Benommenheit spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers die angespannte Stille, die über der Sicherheitszone im einsam gelegenen Liberty Valley lag.
Liberty 9 war der einzige Ort in der Welt, den sie kannte. Sechzehneinhalb Jahre, von ihren ersten Schritten in der Aufzucht von Eden an bis zu ihrer kürzlichen Ernennung zum Alpha-Elector, ihr ganzes Leben hatte sie in diesem Tal verbracht, das die Form eines riesigen Bumerangs hatte. Vierzehn Kilometer lang und knappe vier Kilometer breit, ruhte es inmitten der zerklüfteten Bergwelt der Sierra Nevada. Ein hoher, unter Starkstrom stehender Zaun mit Wachtürmen alle fünfhundert Meter sowie Selbstschussanlagen und ein abgeflämmtes Vorfeld von zweihundert Meter Breite umgaben die Sicherheitszone.
Jenseits davon begann der dichte Totenwald, die Jagdgründe der Nightraider aus der Dunkelwelt, wie man es sie von Kindesbeinen an gelehrt hatte. Der Wald umschloss das Tal mit den Aufzucht- und Wirtschaftsbetrieben Eden 1 bis Eden 24 im Süden sowie das weitläufige Gelände um die majestätische Lichtburg im Norden von allen Seiten, zog sich über die Hänge der rasch ansteigenden Vorberge hinauf in die Höhe und verlor sich am Fuß der steil aufragenden Felswände, deren Spitzen selbst im Sommer oft noch von glitzernden Schneekuppen gekrönt wurden.
Die gleißenden Lichtfinger der Suchscheinwerfer, die sonst von den Wachtürmen herab in die Nacht stachen und ruhelos über die finstere Wand des Totenwalds wanderten, stiegen in dieser letzten Stunde vor dem Morgengrauen ab und zu in den Nachthimmel auf, als ahnten die Guardians auf den hohen Stahlgerüsten, dass ihnen Gefahr drohte, doch ohne zu wissen, woher.
Kendira fröstelte, aber sie war zu müde, um sich besser zuzudecken. War sie überhaupt wach oder schlief sie?
Gleich geschieht es! Ich spüre es!, dachte sie. Und wieder lief es ihr kalt den Rücken hinunter.
Plötzlich brachen dumpfe Töne die angespannte Stille dieser Julinacht. Es war, als schlüge ein bulliger Oberer wie der verhasste Master Sherwood unten in der Eingangshalle einen großen Gong an, der mit einer Wolldecke umwickelt war. Es waren dunkle und unheilvolle Töne, die durch die hohen Gewölbe der Schlafsäle der Electoren dröhnten, dort selbst die tiefsten Schläfer jäh erwachen ließen.
In den acht Dorms fiel kein einziges Wort, während sich die zum hochwürdigen Dienst auserwählten Jungen und Mädchen zwischen zwölf und achtzehn Jahren die wadenlangen Kutten aus fließendem silbrig-blauem Gewebe über den Kopf streiften, sich den ihrem Rang entsprechenden Gürtel aus geflochtenen farbigen Kordeln um die Hüften knoteten und in ihre Ledersandalen fuhren.
Und genauso stumm flutete der Strom der Electoren wenig später aus dem hohen, doppelflügeligen Portal und über die zwölfstufige Freitreppe hinunter auf den weiten Vorplatz, der im Zwielicht einiger weniger Fassadenstrahler lag. Ihnen folgten die Oberen des Konvents, die Master und Prinzipalen, in ihren blutroten Kutten.
Kendira erschauderte beim Anblick der Oberen, denn bei keinem von ihnen entdeckte sie auf dem Gesicht auch nur einen Hauch von Mitgefühl für das verurteilte Mädchen, das gleich der furchtbaren Strafe des Cleansing unterzogen werden würde.
Aber auch der Anblick ihrer ahnungslosen Mitschwestern und Mitbrüder jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Wie sie sich da brav in Viererreihen aufstellten und, nach Jungen und Mädchen getrennt, ihre 24er-Blöcke bildeten, die ihrem jeweiligen Rang als Delta, Gamma, Beta oder Alpha entsprachen, und wie sie sich mit eingeübtem Drill Schulter an Schulter zur Frontfassade der mächtigen Lichtburg ausrichteten, ohne dass es dazu eines Befehls bedurfte, kamen Kendira die anderen Electoren wie willenlose Marionetten vor. Und das waren sie ja auch – und bis vor wenigen Wochen war auch sie selbst eine dieser Marionetten gewesen!
Dante und Carson … beide wollen mich retten, dachte Kendira benommen. Geküsst haben mich beide … in einer einzigen Nacht … Ein Servant und ein Elector … Darauf steht das Cleansing …
Aus den primitiven Containerquartieren, die sich einen Steinwurf entfernt hinter Bäumen und hohen Hecken verbargen, kamen jetzt die Servanten geeilt, ebenso lautlos wie die Electoren, denen sie zu dienen hatten. Sie stellten sich hinter den Blöcken der Auserwählten auf und bildeten einen Riegel aus stumpfbraunen Kutten.
Fast gleichzeitig trafen auch die Guardians aus der nahen Kaserne ein. Gesichtslose Gestalten in mattschwarzen Overalls, das Sturmgewehr geschultert und das verspiegelte Helmvisier trotz der schwachen Beleuchtung heruntergeklappt. Ihre angeblichen Beschützer, die in Wirklichkeit ihre Gefängniswärter waren, fassten den versammelten Konvent an den Flanken ein.
Als Letzter trat Primas Templeton hinaus auf die Plattform vor dem Portal, der uneingeschränkte Herr über Leben und Tod in Liberty 9. Er war ein hagerer, hochgewachsener Mann mit einem knochigen, asketischen Gesicht und vollem eisengrauem Haar. Mit seiner schneeweißen Kutte und der in schillernden Spektralfarben gehaltenen Seidenschärpe um die Hüften bildete er einen starken Kontrast zu den ihn umgebenden dunkelroten Gewändern der Master und Prinzipalen.
Gewöhnlich ergossen sich jetzt zu diesem Appell, der »Morgenlob« genannt wurde, atemberaubende Lichtkaskaden über die Lichtburg.
Doch nicht an diesem Tag.
Zum ersten Mal in der Geschichte von Liberty 9 würde es in dieser grauen Morgenstunde ein öffentliches Cleansing geben, eine Auslöschung!