27

Teether Joe hatte beim Hinausgehen schnell noch zwei Sandwiches von der nächsten Platte genommen. In Templetons Schlafzimmer ließ er sich wieder in den Polstersessel vor dem Fenster fallen, legte die Stiefel über Kreuz auf das Fensterbrett und machte sich hungrig über die belegten Brote her. Dass wenige Schritte von ihm entfernt jemand im Sterben lag und sich hörbar quälte, schien seinen Appetit nicht im Mindesten zu beeinträchtigen.

Er mampfte mit offenem Mund und schmatzte dabei genüsslich. Den Revolver legte er jedoch nicht aus der Hand. Seine Rechte lag auf der breiten Armlehne, den Finger am Abzug und den Lauf unablässig auf sie gerichtet.

»Das mit der barmherzigen Schwester kannste dir eigentlich sparen. Der hat gleich ausgeröchelt, davon versteh ich was«, sagte er mit vollem Mund. »Am besten verpass ich ihm ’ne Kugel, dann hat er’s hinter sich.«

Kendira würdigte ihn keiner Antwort, sondern schoss ihm nur einen grimmigen Blick zu. Dass Templeton nicht mehr lange zu leben hatte, war selbst ihr klar. Es kam überhaupt einem Wunder gleich, dass er so lange durchgehalten hatte. Nun hing ihrer aller Leben davon ab, dass er dem Tod noch ein wenig länger widerstand.

»Templeton, können Sie mich hören?« Sie setzte sich zu ihm auf die Bettkante.

Laut stöhnend warf er den Kopf hin und her, das schweißnasse Gesicht von Schmerzen gezeichnet. Seine Augenlider flatterten, als könnte sich sein geschundener Körper nicht entscheiden, ob sie für immer zufallen oder sich noch einmal öffnen sollten.

Sie griff zum Leinentuch, das auf dem Nachttisch über dem Rand einer Waschschüssel hing, tränkte es im Wasser, wrang es halb aus und wischte ihm den kalten Schweiß vom Gesicht.

Templeton schlug die Augen auf und sah zu ihr hoch. Er war bei Bewusstsein und in seinen Augen stand ein stummes Flehen.

»Ich gebe Ihnen gleich eine neue Schmerzspritze, dann wird es Ihnen besser gehen«, sagte sie laut und mit einem heiseren Kratzen in der Stimme. Sie hatte einen Kloß im Hals.

Teether Joe grunzte hinten am Fenster.

Kendira sah kurz zu ihm hinüber. Der Glatzkopf hatte die beiden Sandwiches hinuntergeschlungen und holte nun aus einer kleinen Metalldose eine halb gerauchte Marihuana-Zigarette, die er mit einem Streichholz in Brand setzte. Er blickte nicht länger zu ihr herüber, sondern verfolgte die Rauchringe, die er mit seinem Mund formte und die träge zum Fenster hin aufstiegen.

Die Gelegenheit war günstig. Sie zog den Nachttisch näher zu sich heran, machte sich mit einer Einmalspritze und der Ampulle mit dem Schmerzmittel zu schaffen. Sergeant Jackson, der dienstälteste Sanitäter der Guardians, hatte auf Templetons Handrücken eine Kanüle gelegt. Seitdem konnte auch jeder andere dem Primas regelmäßig Schmerzmittel spritzen.

Kendira beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm hastig zu, was sich eben im Dienstzimmer ereignet hatte, was ihnen drohte und was sie von ihm wissen wollte. »Haben Sie nur übertrieben oder stimmt es wirklich?«, fragte sie zum Schluss.

Templeton nickte und bewegte die Lippen.

Kendira beugte sich noch weiter vor, brachte ihr Ohr ganz nahe an seinen Mund.

»Willste dem alten Sack vielleicht noch die Beichte abnehmen, bevor du ihm den Schuss verpasst?«, rief Teether Joe ihr höhnisch zu.

Kendira hatte das Wort »Beichte« noch nie gehört. Sie ahnte jedoch aus dem Zusammenhang, dass es sich dabei um so etwas wie ein umfassendes Schuldeingeständnis auf dem Totenbett handeln musste. Deshalb antwortete sie über die Schulter hinweg bissig: »Und wenn es so wäre, was geht es dich an?«

Der Glatzkopf mit den Ketten aus herausgebrochenen Zähnen um den Hals lachte nur abfällig und gab sich wieder seinem Joint hin.

Kendira brachte ihr Ohr wieder an Templetons Mund und lauschte mit wachsender Erregung den stockenden Worten, die Templeton mühsam und abgehackt über die Lippen brachte, immer wieder unterbrochen von heftigen Schmerzattacken, unter denen er sich laut stöhnend krümmte. Mehr als einmal fürchtete sie, er könnte wieder bewusstlos werden oder gar seinen letzten Atemzug tun, bevor sie die letzte und wichtigste Information von ihm erhalten hatte.

»Hast … du … die … Zahl … behalten?«, wisperte er schließlich.

»Ja.«

»Wieder … hole … sie … noch … einmal!«, verlangte er mit kaum vernehmbarer Stimme.

Sie tat es und flüsterte ihm die siebenstellige Zahl ins Ohr.

Templeton nickte, und die Augenlider fielen wieder herab, als hätte ihn nun die letzte Kraft verlassen. »Gut … und jetzt … gib … mir … die Spritze! … Gib … mir alles, was … du davon noch hast.«

Kendira stach die Nadel in den Stutzen der Kanüle und drückte den Kolben der Spritze langsam hinunter. Das starke Schmerzmittel begann sofort zu wirken. Templetons zerfurchtes, schmerzverzerrtes Gesicht entspannte sich augenblicklich und sein stoßhaftes röchelndes Ringen nach Luft sank zu einem flachen, kaum noch wahrnehmbaren Atmen herab. Und nach jedem Atemzug dauerte es einige Sekunden länger, bevor seine Lungen sich wieder regten und sich noch einmal mit Luft zu füllen versuchten.

»Das war es wohl«, murmelte Kendira, legte die leere Spritze auf den Nachttisch und erhob sich.

Teether Joe war sofort auf den Beinen, den Joint zwischen den Lippen und den Revolver auf sie gerichtet. »Hey, schön langsam, okay? Oder willst du dem Alten nachher in der Grube Gesellschaft leisten?«

»Ich muss auf die Toilette.« Sie deutete auf die Tür in seinem Rücken. »Und wenn du nicht willst, dass ich dir vor die Füße pisse, dann lässt du mich ins Bad!«

»Immer mit der Ruhe, Kiddo! Erst mal muss ich mich da drin umsehen!« Rückwärts und ohne sie aus den Augen zu lassen, ging er zur Tür, die in Templetons privates Badezimmer führte. Als er sah, dass der Raum über keine zweite Tür und nur über ein schmales Kippfenster verfügte, das viel zu klein für einen Fluchtversuch war, trat er von der Tür zurück. »Okay, rein mit dir und lass es laufen!« Er lachte hämisch.

Kendira knallte die Badtür hinter sich zu. Nicht weniger laut klappte sie auch den Toilettendeckel hoch. Dann drehte sie sich zum Hängeschrank um, der über dem Waschbecken hing, und klappte leise die Spiegeltür auf. Im Innern waren die drei handbreiten Glasplatten mit allerlei kleinen Flaschen, Dosen, Tuben, Rasierutensilien, Nagelscheren, und ähnlichen Dingen vollgestellt. Angesichts der wenigen Zeit, die ihr blieb, war es eine ganze Menge, was sie schnell und doch lautlos aus dem Schrank räumen musste.

Sie riss ein großes Badetuch vom Halter über der Wanne, breitete es im Waschbecken aus und legte nun alles aus dem Schrank dort auf das Tuch, das die Geräusche dämpfte.

Gerade hatte sie auch die drei Glasplatten herausgenommen und schnell hinter sich den Abzug der Toilette betätigt, als Teether Joe gegen die Tür klopfte.

»Hey, wird das ’ne Dauersitzung oder was?«

»Hör auf, mich zu nerven!«, rief sie zurück, während ihr das Herz vor Angst bis zum Hals schlug. Wenn er jetzt ins Bad kam, war alles verloren! »Was kann ich dafür, wenn ich die Schiss habe! Oder willst du mir vielleicht das Klopapier reichen?«

Er lachte meckernd wie eine Ziege. »Was seid ihr doch für Weicheier! Keine Woche würdet ihr es draußen in der Wildnis packen!« Seine Stimme entfernte sich dabei wieder von der Tür.

Rasch drückte Kendira mit der flachen Hand gegen die Hinterwand des Schranks, wie Templeton es ihr aufgetragen hatte. Die dünne Holzplatte gab unter dem Druck sofort nach und ließ sich nun nach links hinter die Wandverkleidung schieben. Dahinter kam Templetons Versteck zum Vorschein. Drei tiefe Fächer. Sie waren leer – bis auf die graue Metallbox. Sie war etwas größer als eine Hand, aber sehr flach, gerade mal zwei Fingerbreit hoch.

Ihre Finger zitterten, als sie die Box aus dem Versteck nahm und Templetons Anweisungen folgte.

Dann zog sie ein weiteres Mal die Wasserspülung und ließ die Metallbox unter ihrer Kutte verschwinden.

Sie hielt sich nicht damit auf, alles wieder in den Wandschrank zu räumen. Stattdessen packte sie die Enden des Badetuchs, hob es vorsichtig mit allem an, was sie dort abgelegt hatte, setzte alles in der Badewanne ab und deckte das Sammelsurium ab, indem sie die Enden darüberschlug.

Als Teether Joe Augenblicke später unvermittelt die Tür aufriss, stand sie über dem Becken und hatte gerade den Wasserhahn aufgedreht, um sich die Hände zu waschen.

»Was willst du, gaffen? Und wenn du mir den Hintern abwischen wolltest, dafür kommst du zu spät!«

»Dir wird der Hintern noch auf Grundeis gehen, wart’s nur ab!«, knurrte Teether Joe. »Und jetzt beweg dich. Ich will auch mitbekommen, was der Chef drüben mit Hyperion aushandelt. Übrigens, der Alte hat den Löffel abgegeben. Muss wohl passiert sein, als du das Porzellan warmgesessen hast!«

Flüchtig trocknete Kendira sich die Hände ab. Auch sie hatte es nun eilig, wieder über den Korridor zu den anderen zu kommen. Beim Verlassen des Schlafzimmers warf sie noch einen schnellen Blick auf Templeton. Sein Gesicht hatte im Tod einen friedlichen Ausdruck angenommen.

»Templeton ist tot«, teilte sie ihren Freunden mit.

»Ist nicht schade um ihn!«, kam es sofort von Hailey.

»Halt deinen unverschämten Mund!«, fuhr Prinzipal Whitelock sie an, der bei Scalper Skid am großen Schaltpult stand. Er musste gerade erst eingetroffen sein.

»Sollen sie doch reden, was sie wollen, Whitelock. Sie werden bald alle für ihre Rebellion gegen Hyperion bezahlen«, sagte Sherwood mit einem bösartigen Lächeln.

Whitelock pflichtete ihm bei, machte jedoch eine verkniffene Miene. Er wandte sich Scalper Skid zu. »Hören Sie, bevor ich mit der Leitstelle in Presidio spreche und Ihre Bedingungen durchgebe …«

»… sollten Sie Sherwood und allen anderen hier im Raum besser mal erst die Sache mit der Blowup-Funktion erklären! Weil nämlich sonst alles hier in einer gigantischen Detonation in die Luft fliegt – die Lichtburg und uns eingeschlossen!«, fiel Kendira ihm ins Wort.

Schlagartig wurde es still im Raum.

Kendiras Gefährten blickten verständnislos zu ihr herüber.

Whitelock dagegen klappte förmlich der Unterkiefer herab, als die Bezeichnung »Blowup-Funktion« fiel. »Woher weißt du davon? Davon haben nur ich und der Primas Kenntnis!«, stieß er hervor. »Das kannst du nur von Templeton haben! Dieser verfluchte Verräter!«

»Wovon redet ihr?«, bellte Scalper Skid alarmiert. »Was ist diese Blowup-Funktion?«

»Eine Sicherheitsmaßnahme für extreme Notfälle. Ähnlich wie das Lockdown der Kaserne, nur mit einer viel verheerenderen Wirkung. Unter allen wichtigen Gebäuden haben die Erbauer große Sprengstoffpakete deponiert, die über Funk gezündet werden können«, teilte Whitelock ihnen mit. »Wenn das geschieht, fliegt hier das ganze Gelände zwischen Westtor und dem Obsthain gleichzeitig in die Luft, und zurück bleibt nur ein gigantischer rauchender Trümmerhaufen.«

»Auch die Lichtburg?«, fragte Sherwood erschrocken.

Whitelock nickte. »Die Lichtburg, das Gym, die Kaserne, der Schwarze Würfel, die Tube – einfach alles! Damit soll verhindert werden, dass in einer extremen, absolut aussichtslosen Notsituation Liberty 9 mit allen … nun ja, detaillierten Unterlagen in die Hände einer Hyperion feindlich gesonnenen Macht fällt.«

»Wahnsinn!«, entfuhr es jemandem.

Dante sah Kendira über den Tisch hinweg eindringlich an. Er schien etwas zu ahnen, denn in seinem Blick lag eine stumme Frage.

Sie nickte kaum merklich, während ihre Hand in der Tasche nach dem Schalter tastete.

Dante wurde blass.

»Kann uns das gefährlich werden?«, fragte Scalper Skid beunruhigt.

Prinzipal Whitelock lächelte überheblich und schüttelte den Kopf. »Unmöglich! Nur der Primas kennt den siebenstelligen Code, den man erst in die Funkbox eingeben muss, um den Zündmechanismus mit seiner Verzögerung von neunzig Sekunden in Gang zu setzen. Zum Glück hat Commander Ferguson durch seine heroische Tat verhindert, dass dieser Hund noch mehr Schaden anrichten konnte. Es weiß auch keiner, wo er die Box versteckt hält. Da er jetzt tot ist, werden wir natürlich danach suchen müssen.«

»Nicht nötig!«, sagte Kendira, zog die Hand aus der Tasche ihrer Kutte und warf die graue Metallbox auf den Konferenztisch. Mit rot blinkendem Alarmleuchten schlitterte sie über die glatt polierte Platte zu Whitelock und Scalper Skid hinüber. »Hier ist sie! … Und die Zeit läuft!«

Liberty 9 - Todeszone
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