34

Kendira blickte in den grauen, wolkenverhangenen Himmel und wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte oder ob ihre Angst vor der Horde stinkender, zerlumpter Gestalten jetzt nur von einer anderen Gefahr abgelöst wurde.

Sie sah hoch über sich riesige graugefiederte Flugwesen, die sich kaum von der graufleckigen Wolkendecke abhoben. Aus drei Himmelsrichtungen stießen sie auf das verlassene Fabrikgelände herab. Es waren mindestens ein Dutzend graue Drachen.

Einige vollführten im Anflug teilweise scharfe, spiralförmige Manöver. Andere schossen in scheinbar halsbrecherischem Sturzflug heran. Dabei spien sie laut fauchend Feuerstöße aus, die sich als Feuerschweife selbstständig machten und mit langer, wehender Rauchfahne zur Erde herabfielen. Die Spannweite ihrer grauen Flügel war enorm, sie betrug mindestens zwölf Meter. Aber selbst das kam nicht hin, je genauer sie hinsah. Die Spannweite musste noch viel größer sein!

Doch schon im nächsten Moment stutzte sie. Etwas stimmte nicht mit diesen Flugwesen, sie waren zu … zu unnatürlich. Die Flügel dieser Riesenvögel, die offenbar graue Drachen genannt wurden, bewegten sich überhaupt nicht, sondern blieben bei allen Flugmanövern völlig starr! Mal ganz davon abgesehen, dass es auf dieser Welt überhaupt keine Drachen gab!

Kendira kniff die Augen zusammen, fixierte einen der Drachen für mehrere Augenblicke und konnte nun trotz der schlechten Lichtverhältnisse Einzelheiten erkennen. Was da auf sie herabstürzte, waren keine Riesenvögel, sondern starre Fluggeräte. Und deren Piloten hingen in der Mitte unter den graufleckigen Flügeln an Querstangen.

Und bei den Feuerschweifen handelte es sich auch nicht um feurigen Drachenatem, sondern um Magnesiumfackeln, die nun überall rund um die Grube auf dem sandigen Boden aufschlugen. Sie erhellten das freie Gelände, das noch in den dunklen Schatten der umliegenden Gebäude lag, mit ihrem grellroten, sprühenden Funkenschein. Doch nicht einer dieser laut zischenden Magnesiumstäbe war in unmittelbarer und damit brandgefährlicher Nähe des Helikopterwracks gelandet.

Kaum hatte Kendira erkannt, was da aus dem grauen Morgenhimmel von drei Seiten herabstürzte, als einige dieser an den Stangen hängenden Gestalten eine abrupte Handbewegung machten und im selben Moment sich hohes Sirren und Pfeifen in das Zischen der Magnesiumfackeln mischte.

Dem folgten ein, zwei Sekunden später gellende Schreie.

Einer der beiden Männer, die noch wie gelähmt bei Kendira stehen geblieben waren, schrie auf und fasste sich an den Hals. Eine sternförmig gezackte Metallscheibe ragte dort aus der aufgefetzten Kehle. Aus der Wunde schoss eine Fontäne von Blut. Er taumelte rückwärts, stürzte röchelnd in den Sand und blieb dann leblos liegen.

Auch die andere Elendsgestalt neben ihr wurde von einem derartigen Geschoss getroffen. Es war jedoch kein Stern, sondern ähnelte mehr einem messerartigen, handlangen Dorn oder einer Lanzenspitze. Es schlug zwischen seinen Augen ein und fällte ihn so unvermittelt wie eine scharfe Axt einen jungen Baum.

Noch drei weitere aus der mordlüsternen Horde wurden von diesen Wurfscheiben und Wurfklingen tödlich getroffen. Zu ihnen gehörte auch der Mann, der Dante seinen Dreizack in die Brust rammen wollte, sowie ein anderer, der zu spät aus dem Wrack flüchtete.

Der tödliche Angriff aus der Luft war so schnell vorbei, wie er über die zerlumpten Männer hereingebrochen war. Wer nicht schnell genug die Flucht ergriffen hatte, lag nun tot im Sand. Aber keines der Wurfgeschosse hatte Kendira oder einen ihrer Gefährten getroffen.

Fassungslos stand Kendira zwischen den beiden Leichen und sah zu, wie die grauen Drachen rund um das Wrack herum landeten. Sie sah voller Staunen, wie die Männer ihre Fluggeräte knapp über dem Boden scharf nach oben drückten – und im nächsten Moment sicher auf festem Grund standen. Rasch klinkten sie sich aus dem Gurtharness, an dem sie unter der stangenförmigen Trägerkonstruktion ihrer Fluggeräte gehangen hatten.

Jetzt sah sie, dass die Fremden als Augenschutz Goggles trugen. Die großen, runden Gläser saßen mit den schwarzen Eisenringen ihrer Einfassungen in einem breiten, grau gefärbten Lederband, das um ihren Kopf lief.

Kendira löste sich aus ihrer Erstarrung und lief zu Dante hinüber, der gerade wankend und noch sichtlich benommen auf die Beine kam. Aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass einige Schritte links von ihnen Nekia und Hailey aus dem Wrack taumelten – gefolgt von Carson, Fling, Flake und Marco. Marcos Kutte war von der linken Schulter bis zur Hüfte hinunter aufgerissen. Irgendein spitzes Stück Metall hatte sein Gewand aufgeschlitzt – und ihm dabei eine lange Schnittwunde zugefügt. Diese zog sich über sein Schulterblatt bis fast zur Hüfte hinunter und blutete ordentlich. Er verzog das Gesicht vor Schmerz, hielt sich aber sicher auf den eigenen Beinen.

Es war ein Wunder, dass sie alle, bis auf Alisha und Indigo, den Absturz überlebt hatten und sogar ohne ernsthafte Verletzungen davongekommen waren – Joetta ausgenommen. Die Zwillinge schleppten sie mit sich ins Freie. Wie leblos hing Joetta zwischen ihnen. Ihr linkes Bein baumelte unnatürlich verdreht herab und sie blutete aus einer klaffenden Kopfwunde.

»Weißt du, was das zu bedeuten hat?«, stieß Dante hustend hervor. Er stand noch recht wacklig auf den eigenen Beinen und stützte sich auf ihre Schulter.

»Nein, nur dass diese unheimlichen Fremden uns vor diesen blutrünstigen Lumpengestalten gerettet haben«, sagte Kendira und merkte, dass langsam wieder Gefühl in ihren rechten Arm zurückkehrte.

»Was aber noch lange nicht bedeutet, dass wir in Sicherheit sind«, murmelte Dante argwöhnisch, als er drei Drachenflieger auf sie zukommen sah. Von den anderen kümmerten sich einige unverzüglich um die Fluggeräte, die sich im Handumdrehen zusammenklappen ließen, und vier von ihnen bezogen rund um die Grube Posten, während der Rest der Gruppe sich das Wrack vornahm.

Einer von den Wachen oben am Grubenrand sprach in ein klobiges Sprechfunkgerät, das so groß wie ein Ziegelstein war und eine ausziehbare, fast armlange Antenne besaß. Doch was er durchgab, war bei ihnen unten nicht zu verstehen.

Fling und Flake brachten Joetta zu Kendira und Dante und legten sie vorsichtig auf den Sandhügel. »Sie hat sich das Bein gebrochen, und zwar mehrfach. Außerdem hat sie eine üble Platzwunde am Kopf«, raunte Flake ihnen rasch zu.

»Aber Indigo hat es erwischt«, sagte Nekia mit zittriger Stimme. Der Schock saß ihr noch sichtlich in den Gliedern.

»Und Alisha«, fügte Zeno hinzu. »Dass sie in Panik ihren Sicherheitsgurt gelöst hat und aufgesprungen ist, hat sie buchstäblich den Kopf gekostet!«

Hailey sagte kein Wort. Sie hatte eine aufgeplatzte Unterlippe, und ihr Blick wirkte starr, als wäre sie innerlich noch wie betäubt. Überhaupt sah ihr Gesicht wie eine graue, mit Blut verschmierte Maske aus. Sie sank neben Joetta auf den flachen Sandhügel und schlug die Hände vors Gesicht. Sie weinte. Ihre Schultern zuckten, doch es kam kein Ton über ihre Lippen.

Nekia setzte sich zu ihr und legte ihren Arm um sie.

Carson schob sich an Kendiras Seite. »Dem Himmel sei Dank, dass auch du heil davongekommen bist!« Er tätschelte etwas linkisch ihren Arm. Dann wurde seine Miene finster. »Aber diese Burschen, die da gerade vom Himmel gefallen sind, sehen mir nicht weniger gefährlich aus als diese stinkende Meute, die zuerst über uns hergefallen ist!« Dabei zog er seinen Revolver aus der Kutte.

»Lass das Ding bloß stecken!«, zischte Dante ihm hastig zu.

»Wieso?«

»Hast du nicht gesehen, wie sie mit diesen tödlichen Wurfdingern umgehen! Du denkst doch nicht, wir hätten gegen so treffsichere Schützen eine Chance, oder?«

»Ich glaube auch gar nicht, dass sie uns ans Leben wollen«, fügte Kendira leise hinzu. »Sonst lägen jetzt auch wir hier schon tot im Sand.«

»Stimmt wohl«, erwiderte Carson grimmig und schob die Waffe wieder zurück in die Tasche. Seine Hand blieb jedoch unter der Kutte auf dem Revolver liegen.

Liberty 9 - Todeszone
titlepage.xhtml
cover.html
978-3-641-08750-0_ePub.html
978-3-641-08750-0_ePub-1.html
978-3-641-08750-0_ePub-2.html
978-3-641-08750-0_ePub-3.html
978-3-641-08750-0_ePub-4.html
978-3-641-08750-0_ePub-5.html
978-3-641-08750-0_ePub-6.html
978-3-641-08750-0_ePub-7.html
978-3-641-08750-0_ePub-8.html
978-3-641-08750-0_ePub-9.html
978-3-641-08750-0_ePub-10.html
978-3-641-08750-0_ePub-11.html
978-3-641-08750-0_ePub-12.html
978-3-641-08750-0_ePub-13.html
978-3-641-08750-0_ePub-14.html
978-3-641-08750-0_ePub-15.html
978-3-641-08750-0_ePub-16.html
978-3-641-08750-0_ePub-17.html
978-3-641-08750-0_ePub-18.html
978-3-641-08750-0_ePub-19.html
978-3-641-08750-0_ePub-20.html
978-3-641-08750-0_ePub-21.html
978-3-641-08750-0_ePub-22.html
978-3-641-08750-0_ePub-23.html
978-3-641-08750-0_ePub-24.html
978-3-641-08750-0_ePub-25.html
978-3-641-08750-0_ePub-26.html
978-3-641-08750-0_ePub-27.html
978-3-641-08750-0_ePub-28.html
978-3-641-08750-0_ePub-29.html
978-3-641-08750-0_ePub-30.html
978-3-641-08750-0_ePub-31.html
978-3-641-08750-0_ePub-32.html
978-3-641-08750-0_ePub-33.html
978-3-641-08750-0_ePub-34.html
978-3-641-08750-0_ePub-35.html
978-3-641-08750-0_ePub-36.html
978-3-641-08750-0_ePub-37.html
978-3-641-08750-0_ePub-38.html
978-3-641-08750-0_ePub-39.html
978-3-641-08750-0_ePub-40.html
978-3-641-08750-0_ePub-41.html
978-3-641-08750-0_ePub-42.html
978-3-641-08750-0_ePub-43.html
978-3-641-08750-0_ePub-44.html
978-3-641-08750-0_ePub-45.html
978-3-641-08750-0_ePub-46.html
978-3-641-08750-0_ePub-47.html
978-3-641-08750-0_ePub-48.html
978-3-641-08750-0_ePub-49.html
978-3-641-08750-0_ePub-50.html
978-3-641-08750-0_ePub-51.html
978-3-641-08750-0_ePub-52.html
978-3-641-08750-0_ePub-53.html
978-3-641-08750-0_ePub-54.html
978-3-641-08750-0_ePub-55.html
978-3-641-08750-0_ePub-56.html
978-3-641-08750-0_ePub-57.html
978-3-641-08750-0_ePub-58.html
978-3-641-08750-0_ePub-59.html
978-3-641-08750-0_ePub-60.html
978-3-641-08750-0_ePub-61.html
978-3-641-08750-0_ePub-62.html
978-3-641-08750-0_ePub-63.html
978-3-641-08750-0_ePub-64.html
978-3-641-08750-0_ePub-65.html
978-3-641-08750-0_ePub-66.html
978-3-641-08750-0_ePub-67.html
978-3-641-08750-0_ePub-68.html
978-3-641-08750-0_ePub-69.html
978-3-641-08750-0_ePub-70.html
978-3-641-08750-0_ePub-71.html
978-3-641-08750-0_ePub-72.html
978-3-641-08750-0_ePub-73.html