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Das Erste, was Kendira an Dusty Tumbleweed auffiel, waren zwei giftgrüne Cowboystiefel, in deren rissiges Leder schwarze Skorpione mit rot glühenden Augen und zum Angriff erhobenem Giftstachel eingearbeitet waren. An den Fersen der Stiefel hingen silberne Sporen, die mit schmalen Lederbändern befestigt waren. Schwarze, hautenge Röhrenhosen ragten aus den Stiefelschäften auf und ließen schon auf den ersten Blick vermuten, dass es sich bei dem Runner um eine langbeinige, hochaufgeschossene und hagere Gestalt handelte. Die Röhrenhosen wurden in der Hüfte von einem breiten Gürtel gehalten, der beidseitig der Schnalle mit Patronen gespickt war. Aber eine Waffe war nicht an ihm zu entdecken.
Trotz der sommerlichen Wärme, die selbst mit Einbruch der Nacht wenig von ihrer drückenden Schwüle verloren hatte, trug Dusty Tumbleweed eine schwarze, scheinbar dick wattierte Lederweste über einem angeschmuddelten weißen Rüschenhemd – und darüber noch einen fersenlangen, weiten Staubmantel aus einem schwarzen Stoff, der einen matten Glanz abgab, als wäre er gewachst. Dazu kamen eine schwarze Melone, die ihm schräg in den Nacken gekippt auf dem Kopf saß, und eine Drahtbrille mit runden, grün getönten Gläsern auf einem schmalen Nasenrücken.
Aber all das war noch längst nicht das Sonderbarste an ihm, sondern das war die Flut glatter weißblonder Haare, die unter der schwarzen Melone hervorquoll und ihm wie ein Schleier bis auf die Schultern fiel, zusammen mit den ebenfalls weißblonden, dünnen Brauen und dem höchst verstörenden Rosablau seiner Augen, die über den Rand der grünen Brillengläser zu ihnen aufblickten.
Dusty Tumbleweed war ein Albino!
»Vermutlich muss man schon reichlich verrückt sein, um Runner zu seinem Beruf zu machen«, murmelte Zeno hinter ihr.
Kendira nickte wortlos.
Dusty Tumbleweed, der um die dreißig sein mochte, hatte vor sich auf dem Tisch eine kleine offene Metallschachtel liegen, die mit losem Tabak gefüllt war, und drehte sich gerade eine Zigarette.
»Das verdammte Giftzeug wird dich eines Tages noch umbringen, Dusty«, sagte Akahito zur Begrüßung. Man kannte sich offenbar so gut, um von vornherein auf Förmlichkeiten zu verzichten.
»Schätze mal, das ist das mit Abstand Gesündeste an meinem Lebensstil«, antwortete der Runner gleichmütig, fuhr mit einem Streichholz über seine Stiefelsohle und zündete die Selbstgedrehte an. Das abgebrannte Streichholz schnippte er achtlos über das Geländer nach unten. »Außerdem: Was wäre denn unsere schöne neue Welt ohne ein kleines Laster? Schätze mal, gar nicht auszuhalten.«
Akahito zuckte die Achseln. »Deine Sache, womit du dich umbringst.«
Der Runner verzog den schmalen Mund zu einem dünnen Lächeln. »Schätze mal, damit liegst du hundertprozentig richtig«, sagte er in seiner leicht näselnden und gedehnten Sprechweise und musterte die Libertianer und ihre Bewaffnung. Dabei gingen seine Brauen leicht in die Höhe.
»Halten wir uns nicht länger mit Höflichkeiten auf, Dusty«, sagte Akahito und gebrauchte nun spöttisch die Redewendung, die der Runner so oft benutzte: »Schätze mal, du weißt, worum es geht. Bringen wir also das Geschäftliche hinter uns.«
Tumbleweed nickte. »Du sprichst mir aus der Seele, Akahito. Es gibt doch wirklich nichts Klügeres, als auf dem Höhepunkt einer anregenden Unterhaltung einen Punkt zu machen. Dann bleiben die kostbaren Perlen des Gesprächs besser in Erinnerung«, sagte er mit ernster Miene und streckte die Hand aus.
»Zweifellos, zumal wenn es um eine satte Summe goldener Hyperion-Credits geht«, erwiderte Akahito und warf ihm einen Beutel klirrender Münzen zu. »Tausend, wie abgemacht.«
Kendira dachte daran, dass sie die Hyperion-Credits, die der Runner als Lohn für sein Risiko gefordert hatte, beim Tai-Pan gegen reichlich Waffen, Munition, Handgranaten und mehrere Pakete Sprengstoff eingetauscht hatten. Sie konnten all das und die eingeforderten »Gastgeschenke« gut verschmerzen, denn sie hätten nicht mal ein Viertel von dem, was sie den Jachis überlassen hatten, zusätzlich mitschleppen können.
Geschickt fing Dusty Tumbleweed den Beutel auf und wog ihn kurz in der Hand.
»Willst du nicht nachzählen?«, fragte Akahito.
Wieder erschien das dünne Lächeln auf dem bleichen Gesicht des Albinos. »Willst du, dass ich dich und den Tai-Pan beleidige?«, fragte er zurück.
Akahito gab einen knurrigen Laut von sich, doch seine Miene drückte Genugtuung aus.
Dusty Tumbleweed zog dann aber doch die Verschlusskordel auf, jedoch nicht, weil er es sich plötzlich anders überlegt hatte, sondern um eine der achteckigen Goldmünzen herauszuholen. Er stieß einen kurzen, scharfen Pfiff aus.
Der Halbwüchsige, der vorhin neben Beefy am Bierfass gestanden hatte, tauchte augenblicklich auf der Empore auf, als hätte er damit gerechnet, jeden Moment gerufen zu werden. Seine Gesichtszüge verrieten auf den ersten Blick, dass er einer der jüngeren Söhne des Wirts war.
»Das kommt in mein Fach«, trug der Runner ihm auf und warf ihm den Geldbeutel zu. Dann schnippte er ihm das einzelne Hyperion-Goldstück zu. »Und dafür bringst du mir fünf Schachteln Land of Glory, fünf Heftchen Angeldust und fünf Beutel mit je zwanzig Silbercredits. Der Rest ist für dich, Curtis.«
Die Augen des Jungen leuchteten freudig auf. »Kommt sofort, Dusty!«, versicherte er und schoss wie der Blitz davon.
Akahito bedachte Dusty Tumbleweed mit einem missbilligenden Blick. »Geht es nicht ohne diese verfluchten Drogen, mit denen sich das Gesindel auch noch den letzten Rest Hirn aus dem Schädel schnupfen oder spritzen wird?«
»Schätze mal, dass ich bei den Gangs im Shadowland schlechte Karten hätte, wenn ich statt Angeldust oder Land of Glory als Wegzoll einen Beutel mit Trockenobst anbieten würde«, erwiderte Dusty Tumbleweed und erhob sich zu voller Länge.
Akahito seufzte. »Okay, ich will dir nicht in deinen Job reinreden. Du tust, was du tun musst, Dusty.«
Der Runner zuckte die Achseln. »Keine große Alternative, wenn man am Leben bleiben will.«
»Sieh zu, dass du die junge Truppe hier sicher zu Major Marquez bringst«, sagte Akahito gedämpft.
»Habe bestimmt nicht vor, aus dem Auftrag eine Reise ins Land der Boneyards zu machen. Aber solange die Dunkelwelt so ist, wie sie nun mal ist, wird jede Tour durch das Shadowland eine Art von russischem Roulette sein«, erwiderte der Runner trocken.
Akahito verzog das Gesicht. »Deine muntere, hoffnungsvolle Art ist immer wieder ermutigend.«
Der Halbwüchsige Curtis kehrte zu ihnen auf die Empore zurück. Er brachte fünf kleine und mit zerknitterter Silberfolie umwickelte Päckchen, die etwa die Größe einer Streichholzschachtel hatten, fünf Silberfolienheftchen und fünf kleine Leinenbeutel mit Silbermünzen.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sich von Akahito und Liang zu verabschieden. Akahito ließ nicht zu, dass dabei viele Worte gemacht wurden. »Seht lieber zu, dass ihr euch rasch auf den Weg macht!«, schnitt er ihnen das Wort ab, als sie sich für ihre Rettung nach dem Crash und alles andere bedanken wollten.
Liang ließ es sich jedoch nicht nehmen, ihnen noch ein paar stärkende Worte mit auf den Weg zu geben. »Ich hoffe, ihr könnt bei Major Marquez etwas erreichen und eure Freunde auf der Insel doch noch heraushauen. Der Zeitpunkt ist jedenfalls günstig, das habt ihr ja auch von unserem Tai-Pan gehört.«
»Lass sie endlich gehen!«, drängte Akahito, packte ihn am Arm und zog ihn mit sich fort.
»Viel Glück!«, rief Liang ihnen noch zu.
»Ja, schätze mal, sie werden es brauchen!«, knurrte Akahito und stiefelte mit Liang die Treppe hinunter.
Dusty Tumbleweed blickte einen Augenblick stumm in die Runde der neun Libertianer, die in einem Halbkreis vor ihm standen und sich alle Mühe gaben, sich ihre Anspannung und Beklommenheit nicht anmerken zu lassen. Nur Hailey hatte ein wirklich ausdrucksloses Gesicht. Sie schaute an ihm vorbei in die Tiefe des Raums, als gäbe es da etwas viel Interessanteres zu beobachten.
Kendira erwartete, dass der Runner nun kurz mit ihnen reden, sie nach ihren Namen fragen und sie über das informieren würde, was vor ihnen lag. Doch nichts davon war der Fall. Stattdessen sagte er nur: »Mein Name ist Dusty und ich bin euer Runner. Schätze mal, ihr wisst, worauf ihr euch eingelassen habt. Haltet euch still und tut genau das, was ich euch sage – dann haben wir alle eine ganz passable Chance, mit heiler Haut durch das Shadowland zu kommen! Also dann, gehen wir es an!« Und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und stiefelte mit wehendem Umhang und leise klirrenden Sporen voran.
»Sagt mal, hat einer von euch da draußen irgendwo ein Pferd angebunden gesehen?«, fragte Carson leise.
Niemand lachte.