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Die Straße mit ihrer aufgeplatzten Asphaltdecke führte durch ein dicht bevölkertes Ruinenviertel und endete hinter einer lang gezogenen Biegung plötzlich vor einer Kette aus mindestens zehn, zwölf Meter hohen Trümmerhalden. Die Gebäude, die hier zu beiden Seiten einer vierspurigen Verkehrsader eingestürzt waren, hatten die Straße über die Länge eines ganzen Häuserblocks unter sich begraben.
Die Zerstörung durch das Erdbeben war an dieser Stelle so verheerend gewesen, dass nicht einmal ein Stück Hauswand, geschweige denn so etwas wie Ruinen zurückgeblieben waren. Die Schuttberge erstreckten sich gut hundert Meter weit als eine zerklüftete schmutziggraue Masse aus Betonstücken, Steinen, verbogenen Stahlträgern, geborstenen Hölzern, zertrümmertem Sanitärporzellan, aufgerissenen Rohren, Kabelfetzen, Glassplittern und all dem Hausrat, der beim Einsturz von Tausenden Tonnen Stahl, Stein und Beton zermalmt worden war.
In der hereinbrechenden Dunkelheit sah es so aus, als hätte es hier nie etwas anderes als diese steinernen Trümmerberge gegeben. Ein widerwärtiger Gestank hing über dem Gelände. Es war, als atmete der jahrzehntealte Schutt, der zum namenlosen Grab unzähliger Menschen geworden war, noch immer Verwesung aus.
Ein schmaler, aber überraschend ebener Hohlweg, den die umliegenden Bewohner von Mexican Heights im Laufe der Jahre in den Schutt getreten und freigeräumt hatten, wand sich wie eine Passstraße über die Trümmerkette. Er war gerade breit genug, dass zwei erwachsene Personen sich auf dem Weg begegnen konnten, ohne dass einer von ihnen dem anderen ausweichen musste.
Erst jetzt, als sie mit Akahito und Liang zu Fuß durch diese trostlose Landschaft zogen, wurden ihnen das ganze Ausmaß der Verwüstung und die grauenvollen Lebensumstände in der Dunkelwelt richtig bewusst.
Es war schon beklemmend gewesen, alle paar Monate im Audimax die unfassbaren Zerstörungen der Dunkelwelt in Videoclips gezeigt zu bekommen und daran erinnert zu werden, wie gut es ihnen, den Auserwählten und selbst den Servanten, in Liberty 9 ging.
Aber es war eine völlig andere Sache, diese Dunkelwelt hautnah zu erleben, sie um sich herum zu sehen, zu fühlen und zu riechen – und die dunkle, würgende Furcht zu spüren, die sie in ihnen hervorrief und die sie stumm werden ließ.
Jeder hielt seine Waffe krampfhaft umklammert und ließ den Blick unruhig hin und her irren, obwohl Akahito und Liang ihnen versichert hatten, dass sie sich auf dem sicheren Gelände eines befreundeten Territoriums befanden. Und doch ließ sie jedes Geräusch und jede schattenhafte Bewegung zusammenfahren. Dass sich der Schutt rechts und links von ihnen weit über Kopfhöhe als schwarze, rau gezackte Mauern auftürmte, steigerte ihre nervöse Anspannung noch zusätzlich. Wenn es doch wenigstens heller Tag gewesen wäre!
Endlich kamen sie über den höchsten Punkt der Schuttberge und machten sich an den Abstieg. Am Fuß der welligen Trümmerberge schloss sich wieder ein bewohntes Ruinenviertel an, wo zumindest ein Teil der Gebäude der zerstörerischen Gewalt der Erdbeben und der Vernichtungswut des Feuers widerstanden hatte und bewohnbar gemacht worden war.
Der Schein von unruhig flackernden Pechfackeln, offenen Kochfeuern am Straßenrand, brennendem Abfall in alten Öltonnen sowie von Kerzen, Öllichtern und Petroleumlampen, die aus Fensterhöhlen, Bretterverschlägen, Wellblechschuppen und zeltartigen Unterkünften fielen, kroch einige Meter die untere Flanke des Schuttfelds zu ihnen herauf.
Fast hätte Kendira den zerlumpten Jungen nicht bemerkt. Er hockte zu ihrer Linken im Schatten eines aufgerissenen Betonklotzes. Dieser Stumpf eines einstigen Pfeilers ragte mit seinen rostigen und grotesk verbogenen Eisenstäben, die aus dem aufgerissenen Beton hervorstachen, nur einen Steinwurf vom unteren Ende der Halde entfernt aus den Trümmern.
Es war eine blitzschnelle Bewegung, die sie zusammenzucken und zu ihm hinüberblicken ließ. Er schien etwas in ein Loch geworfen zu haben, das vor ihm klaffte. Denn er sprang nun vom Betonklotz, beugte sich hinunter in das Loch, griff nach unten – und hielt im nächsten Moment etwas Langes, Haariges in der Hand.
Es sah wie eine graue Katze aus. Doch als der Junge nun hinter dem Betonklotz hervorkam und der Lichtschein von der Straße ihn erreichte, sah sie, dass er eine fette Ratte an ihrem langen Schwanz in der Hand hielt – aufgespießt von einem Messer.
Der Junge konnte nicht älter als acht oder neun sein und war nur Haut und Knochen. Eine kurze Hose mit faustgroßen Löchern umschlotterte, von einem Strick gehalten, seine spitzen Hüftknochen, und der ausgefranste Rest eines T-Shirts bedeckte noch nicht einmal seine deutlich hervortretenden Rippen.
Mit einem heiseren Laut, der nach Triumph oder zumindest doch Genugtuung klang, zog der magere Junge das Messer aus dem Leib der Ratte, das er nach ihr geworfen hatte, und wischte die blutige Klinge an seiner Hose ab. Und dann lief er, die Faust fest um den Schwanz seiner Beute geschlossen, mit nackten Füßen und einer geradezu traumwandlerischen Sicherheit über das letzte Stück Trümmergelände und verschwand Augenblicke später in einem Durchgang zwischen den ersten beiden Ruinen.
Kendira schauderte und drehte sich nach Dante um, ob auch er diese ebenso ekelhafte wie erschütternde Szene mit dem abgemagerten Jungen mitbekommen hatte. Doch zu ihrer Verblüffung ging Dante nicht mehr hinter ihr, sondern Carson. Dante hatte sich zurückfallen lassen und redete mit Hailey, die jedoch nicht zu antworten schien. Mit merkwürdig starrem Blick und irgendwie hölzernen Bewegungen stieg sie den Hohlweg abwärts.
Carson erwiderte Kendiras Blick mit einem stolzen Grinsen, als hätte er irgendetwas vollbracht, das besondere Anerkennung verdiente. »Ich halte dir den Rücken frei!«, sagte er leise, klopfte mit der rechten Hand auf das Rohr der Bazooka, das er sich über die linke Schulter gelegt hatte, und zwinkerte ihr zu.
»Na, dann kann ja nichts schiefgehen«, murmelte sie und drehte sich rasch wieder um, irgendwie verärgert, obwohl es dafür doch gar keinen Anlass gab.
Ihre erste Überquerung derartiger Trümmerberge lag hinter ihnen. Nun riss sogar die Wolkendecke auf, die den ganzen Tag wie ein schmutziger Lappen über der Trümmerlandschaft gelegen hatte. Der abnehmende Mond erklomm den Nachthimmel und warf sein bleiches Licht über die Dunkelwelt. Hier und da funkelten Sterne durch Wolkenlöcher.
Zügigen Schrittes führte Akahito sie durch das Territorium von Mexican Heights. Liang hatte ihnen erklärt, dass zwar die Mehrzahl der Bewohner mexikanischer Abstammung war, sie aber auch andere ethnische Gruppen in ihrem Machtbereich tolerierten. So verhielt es sich auch in fast allen anderen Territorien. Die einzige Ausnahme bildete der Bezirk von White Crossings. Die Arian Nation duldete in ihren Grenzen keinen einzigen Schwarzen, Latino oder Asiaten. Wer nicht zur weißen »Herrenrasse« gehörte, wie sie sich selbst bezeichneten, war in ihren Augen minderwertig und besaß kein Lebensrecht.
»Aber eine Gemeinsamkeit haben alle Territorien«, hatte Akahito dem dann noch hinzugefügt, »nämlich dass sie alle mehr oder weniger Orte des Elends sind und es ein oberstes Gesetz gibt. Und das heißt: Überleben um jeden Preis!«
Dieses Elend begegnete ihnen auf Schritt und Tritt. Wohin ihr Auge auch blickte, es fiel auf fast nackte Kinder, die im Schmutz der aufgebrochenen Straßen oder in den ausgebrannten Wracks von Bussen spielten, auf zerlumpte, zahnlose Alte mit zerfurchten Gesichtern und stumpfen Augen, die um ein Kochfeuer mit einem verrußten Kessel saßen, in dem irgendeine dünne Suppe blubberte, auf frühzeitig gealterte Männer mit verschlossenen, harten Gesichtern, die allein oder in Gruppen herumstanden und in deren Augen Argwohn, Hunger und ein namenloser Zorn brannten, und immer wieder auch auf Drogendealer, aufgetakelte Prostituierte und geschminkte Strichjungen, die unverhohlen ihre Dienste anboten.
Auf den zentralen Straßen der Ruinenviertel, wo es besonders viele bewohnbare Gebäudereste gab und aus allen Ecken Rauchschwaden aufstiegen, ging es laut und geschäftig zu. Ständig kläfften irgendwo Hunde, Kinder lärmten, und immer wieder drangen aus Fensterhöhlen, hinter denen sich offenbar bewohnte Behausungen befanden, laute Stimmen. Selten war mal ein Lachen oder eine fröhliche Stimme darunter. Bittere Vorwürfe, obszöne Flüche, schrilles Gezeter und das großmäulige Krakeelen von Betrunkenen bestimmten die Tonlage.
Damit erschöpfte sich der Lärm jedoch noch lange nicht. Hier und da keuchte in einem halb erhaltenen Hinterhof oder einer Werkstatt eine Dampfmaschine, es klapperten und quietschten Windräder mit Flügeln aus Wellblech und rumpelten die Handkarren der Straßenhändler über holpriges Pflaster. Gelegentlich ratterte auch ein autoähnliches Gefährt vorbei. Zumeist handelte es sich dabei um fast völlig ausgeweidete Autos, die zu Tretfahrzeugen mit Kettenantrieb umgerüstet worden waren. Manche ähnelten kleineren Versionen des Steamers.
Viele Straßenhändler waren mit doppelläufigen Schrotflinten oder Revolvern bewaffnet. Vor allem diejenigen, die Trinkwassertonnen auf Rädern oder Karren mit Lebensmitteln hinter sich herzogen. Aber auf bewaffnete Männer fiel der Blick eigentlich überall. Waffen, wenn auch zumeist primitiver Art, schien es in der Dunkelwelt mehr als genug zu geben.
Zu ihrer Überraschung begegneten ihnen auf dem Weg durch die Mexican Heights auch einige gut erhaltene alte Autos und Motorräder, deren Motoren mit Methylalkohol oder sogar mit richtigem Benzin angetrieben wurden.
»Solchen Luxus können sich nur Drogenbosse, Zuhälter und ähnliches Gesindel erlauben, das sein Geld mit Alkoholbrennen, Spielhöllen, Raubzügen sowie mit Blut- und Organhandel und anderen dreckigen Geschäften verdient«, erklärte Akahito, als er ihre erstaunten Gesichter bemerkte.
»Blut- und Organhandel?«, fragte Nekia betroffen.
Akahito nickte. »Ein einträgliches Geschäft, das von den Islandern kontrolliert und dementsprechend verbrecherisch betrieben wird. Die meisten, denen hier Blut und Organe entnommen werden, enden gleich nach der Entnahme als Leichen in irgendeiner Grube oder einem Trümmerfeld.«
»Und wo gehen die Blutkonserven und die Organe hin?«, fragte Flake, obwohl die Antwort für alle auf der Hand lag.
»Hinter die hohen Mauern der Hisecis und in die lichten und gut ausgestatteten Krankenhäuser der Privilegierten von Hyperion!«, sagte Akahito grimmig und bog in eine schmale Straße ein, die sie von den dicht bevölkerten Bezirken von Mexican Heights weg und in Richtung der Grenze zum Circle of Nations führte.
»Was hat es mit diesem Circle of Nations auf sich?«, wollte Nekia wissen, während sie sich einer Kreuzung näherten, wo seltsamerweise von allen vier Eckhäusern nur noch die nackten Fassaden stehen geblieben waren. Mondlicht fiel durch die Fensterhöhlen der Mauerskelette.
»Das ist ein Sammelsurium von mehreren kleinen ethnischen Gruppen, die sich zusammengeschlossen haben, weil sie allein keine Chance gehabt hätten, sich zu behaupten«, erklärte Liang. »Die Vorfahren dieser Leute kamen überwiegend aus Indien, Pakistan, Vietnam, Laos, Thailand und anderen Ecken. Mit dem Circle of Nations stehen wir auf ähnlich gutem Fuß wie mit den Anführern hier von Mexi …« Liang brach jäh ab.
Die Kreuzung, die gerade noch im milchig fahlen Licht des höher steigenden Mondes menschenleer vor ihnen gelegen hatte, füllte sich binnen weniger Sekunden mit bedrohlichen Gestalten. Es waren etwa zwanzig junge Männer mit nackten, muskulösen Oberkörpern, die wie mit Öl eingerieben glänzten. Von beiden Seiten traten sie aus den Ruinen hervor und riegelten die Kreuzung ab. In ihren Händen rasselten Eisenketten, blitzten lange Macheten auf und lagen keulenähnliche Prügel, die mit Nägeln und Nieten beschlagen waren.
Drei von ihnen hielten Schrotgewehre mit abgesägten Doppelläufen in den Händen. Sie standen in vorderster Reihe, betont breitbeinig, als wollten sie zum Ausdruck bringen, dass dies ihr Revier war und dass hier ihr Wort über Leben und Tod gebot.