29
Die Nacht war nicht mehr fern und um diese Jahreszeit würde die Dunkelheit fast schlagartig über das Valley fallen. Der Himmel über den östlichen Berggipfeln stand schon in Flammen und tiefe Schatten stiegen von den Hängen und wallten wie eine dunkle, lautlose Flut aus den Wäldern.
Kendira wusste, wo sie nach Dante zu suchen hatte. Sie stieg den Pfad zum Rockcastle Hill empor, der einstigen Hinrichtungsstätte für lebend gefangene Nightraider. Der nur mit Gras und einigen niedrigen Büschen bewachsene und mit felsigem Gestein durchzogene Hügel erhob sich hinter dem Westtor und dem abgeflämmten Vorfeld aus dem bewaldeten Hang. An seinem höchsten Punkt reckte sich ein rostiges, weithin sichtbares Stangengitter in den Himmel, vor dem die Hinrichtungen erfolgt waren. Danach hatte man die Leichen der Hingerichteten zur Abschreckung am Gitter hängen lassen, damit sich Aasgeier und andere wilde Tiere über sie hermachen konnten.
Dante saß unterhalb des schaurigen Gitters. Neben ihm im Gras lag die Schaufel, die er mitgebracht hatte.
Kendira setzte sich neben ihn ins Gras.
Eine ganze Weile saßen sie schweigend Seite an Seite und blickte hinunter auf die Lichtburg. Jeder wusste, was und woran der andere dachte. Und es war nicht die Tatsache, dass ganz Liberty 9 seit Mittag fest in ihrer Hand war und sie alle wichtigen Vorbereitungen getroffen hatten. Es war auch nicht der Flug mit dem Lichtschiff nach Tomamato Island in wenigen Stunden und ihr vager Plan, nach der Landung in den Atommeiler einzudringen und die todgeweihten Freunde von dort zu retten.
Es war Jaydan, dem ihre Gedanken galten.
Dem Servanten und Dantes bestem Freund, der für sie alle den Weg in die Freiheit gefunden und mit seinem Leben dafür bezahlt hatte. Wenigstens war er schon tot gewesen, als man ihn hier auf das Gitter gebunden hatte. Dante hatte seine sterblichen Überreste begraben. Er hatte dafür kein großes Grab ausheben müssen. Viel war es nicht gewesen, was die Tiere von seinem Freund übrig gelassen hatten.
»Das Leben ist ungerecht«, brach Dante schließlich das Schwei-gen. »Nicht ich, sondern Jaydan hätte jetzt hier sitzen müssen. Er hat den Eingang in das Höhlensystem gefunden und später auch noch den Gang, der oben im Totenwald herauskommt. Ohne ihn wäre all das nicht möglich gewesen.«
»Ich weiß nicht, ob das Leben ungerecht ist oder wir bloß eine falsche Vorstellung davon haben, wie es eigentlich sein und mit uns umgehen müsste«, sagte Kendira. »Und ich wünschte wie du, dass Jaydan jetzt bei uns sein könnte. Aber eines tröstet mich ein wenig, nämlich dass er …«
»… der öffentlichen Hinrichtung entkommen ist und im Wissen gestorben ist, den Weg in die Freiheit doch noch gefunden zu haben«, führte er den Satz für sie weiter.
»Ja.«
Er lachte freudlos auf. »Ein schwacher Trost.«
»Wir werden ihm immer dankbar sein und ihn nie vergessen. Sein Andenken zu wahren, ist alles, was wir jetzt noch für ihn tun können. Und dass wir mit unserer so teuer erkämpften Freiheit das Richtige anfangen.«
»Hailey hat uns dafür ein Beispiel gegeben, als sie nicht nur Scalper Skid, sondern gleich auch noch Sherwood und Whitelock umgelegt hat«, sagte Dante grimmig.
»Das kannst du nicht im Ernst meinen!« Der mörderische Hass und die Kaltblütigkeit, mit der Hailey die drei Männer erschossen hatte, hatte Kendira zutiefst erschreckt. »Das war Lynchjustiz und wir hatten uns vorher doch alle dagegen ausgesprochen!«
»Ja, schon«, räumte er ein, »aber verdient hatten sie es.«
»Dass sie auch Whitelock in blindwütiger Rachsucht einfach so erschossen hat, hätte bittere Folgen für unser Vorhaben heute Nacht haben können! Wir können von Glück sagen, dass sich auch Bishop mit dem Funksystem auskennt und er vorhin zusammen mit der obligatorischen Abendmeldung auch die zwölf Namen durchgeben konnte.«
»Dennoch, verstehen kann ich Hailey schon. Whitelock war so bösartig und gnadenlos wie kein anderer! Er hätte uns tatsächlich auf den Stuhl binden und alle anderen erschießen lassen. Gegen ihn war Templeton fast schon ein guter Mensch.«
»Wenigstens war er sich seiner Verbrechen und Schuld bewusst«, pflichtete sie ihm bei. »Er hat darunter gelitten und bereut, was er alles getan hat, nur damit seine kranke Enkelin Mary-Anne regelmäßig ihre Medizin bekommt und am Leben bleibt. Offenbar ist selbst in den Hisecis solche Medizin knapp und nur besonders Privilegierten zugänglich.«
»Diese Medizin hat er aber mit dem Leben von vielen Electoren hier im Tal erkauft. In der Zeit, in der er Primas gewesen ist, müssten auf dieser Atominsel Hunderte ihr Leben gelassen haben – ganz abgesehen von den Servanten, die hier seit Jahrzehnten wie Sklaven gehalten wurden.«
»Er hat dafür bezahlt.«
Für Kendira war das Kapitel Templeton damit abgeschlossen. Und was die anderen Oberen und die Guardians betraf, so würde Hyperion sie nach ihrem katastrophalen Versagen kaum gnädig in ihre heimischen Hiseci zurückkehren lassen – immer vorausgesetzt, sie überlebten die Wildnis der Bergketten und die gesetzlose Dunkelwelt.
Dante nickte. »Wie Scalper Skid für seinen Verrat. Dass Hailey ihn auf der Stelle erschossen hat, war richtig. Selbst Jedediah hat das gesagt. Und die Bones haben es ebenso akzeptiert, auch dass ihre Beute zur Strafe für ihren Seitenwechsel beschnitten wurde.«
Der wilde Haufen grässlich tätowierter Glatzen war schon vor Stunden abgezogen, schwer beladen mit reichlich Proviant und anderem Beutegut, aber ohne eines der schweren Maschinengewehre. Jeder vom Bones-Clan hatte an Waffen nur ein modernes Gewehr und zwei volle Magazine erhalten. Rib Cage Bobby, der sofort die Position des neuen Clan-Chefs für sich in Anspruch genommen hatte, hatte zwar lauthals protestiert, um vor seinen Kameraden das Gesicht zu wahren. Aber angesichts der in Windeseile aufgestellten schwer bewaffneten Miliz aus einstigen Servanten und der Wut aller auf die verräterischen Bones hatte er es dann sehr eilig gehabt, mit seinen Männern aus dem Valley zu verschwinden.
»Wir hatten mehr Glück als Verstand«, sagte Kendira. »Wenn ich bedenke, dass unser aller Schicksal zweimal haarscharf auf der Kippe stand …« Sie führte den Satz nicht zu Ende und schüttelte den Kopf. »Nicht auszudenken, was mit uns geschehen wäre, wenn Templeton nicht Sherwood im Wald ausgeschaltet und mir noch auf dem Sterbebett die Sache mit dem Blowup anvertraut hätte.«
Er lachte auf. »Und wenn du nicht diese unglaubliche Kaltblütigkeit gehabt hättest, diesen Bluff zu wagen! Das hat uns alle gerettet!«
Sie errötete unter seinem bewundernden Blick und winkte verlegen ab. »Wir hatten doch nichts mehr zu verlieren, Dante. Und wenn man schon so gut wie tot ist, braucht es nicht viel Mut, um so einen Bluff zu versuchen.«
»Schon, aber wie du ihn vor den Glatzen durchgezogen hast, das macht dir so schnell keiner nach!«
Sie zuckte die Achseln. »Wie gesagt, wir hatten mehr Glück als Verstand.« Sie seufzte. »Hoffentlich bleibt uns das Glück auch diese Nacht noch treu.«
Er nickte, dann lachte er trocken auf.
»Was ist?«, fragte sie.
Dante zögerte kurz, dann sagte er: »Ich muss dir was gestehen, Kendira.«
»Was denn?«
»Seit hier alles unter unserer Kontrolle ist und ich weiß, dass wir das Tal auch gegen Angriffe von außen gut verteidigen können, regt sich in mir manchmal der Wunsch, wir hätten die zwölf Freiwilligen für den Flug heute Nacht nicht zusammenbekommen«, gestand er ihr. »Oder irgendetwas anderes wäre passiert, das es unmöglich macht, auch Duke und die anderen zu befreien. Ich schäme mich dafür, aber ich kann nichts dagegen machen, dass ich mir wünsche, wir müssten nicht in das Lichtschiff steigen und noch einmal unser Leben riskieren, sondern könnten hierbleiben.«
»Wenn man sich dafür schämen muss, dann befindest du dich in bester Gesellschaft.«
Überrascht sah er sie an. »Du hast diesen heimlichen Wunsch auch?«
Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Wundert dich das? Auch ich brenne nicht darauf, mich in dieses tollkühne Unternehmen zu stürzen. Ich tue es, weil ich Duke und Colinda und all die anderen nicht im Stich lassen kann und weil … na ja, weil es einfach jemand tun muss!«, sagte sie mit gequälter Miene. »Aber wenn ich wirklich eine Wahl hätte und mit dieser Entscheidung auch leben könnte, würde ich hierbleiben. Und ich wette, den anderen geht es nicht anders.«
Dante blickte einige Sekunden lang mit nachdenklicher Miene hinunter auf das Tal. »Irgendwie ist es schon komisch«, sagte er schließlich versonnen, »wie sich der Blickpunkt plötzlich ändern kann.«
»Der Blickpunkt worauf?«
»Auf das hier und was es darstellt«, sagte er und machte eine weit ausgreifende Geste, die das ganze Tal meinte. »Es war zwölf Jahre lang meine geliebte Heimat.«
Kendira nickte.
»Aber als man mich bei den Selectionen nicht zum Elector berief, sondern zu einem Leben als Servant verurteilte, von da an habe ich es gehasst, hier eingeschlossen zu sein. Doch jetzt …« Er hielt kurz inne und ließ seinen Blick über das weite, fruchtbare Liberty Valley schweifen. »… jetzt sehe ich das Tal, das mir viele Jahre lang verhasst gewesen war, auf einmal wieder mit anderen Augen, eben als ein wunderschönes Stück Land und als Heimat.«
»Es ist nun mal die einzige Heimat, die wir kennen«, sagte Kendira wehmütig und dachte kurz daran, was Templeton ihr noch anvertraut hatte, nämlich dass sie alle keine Eltern hatten – zumindest nicht im gewöhnlichen Sinne. Jeder von ihnen war das Ergebnis einer künstlichen Befruchtung im Labor, und jeder war von einer bezahlten Ersatzmutter ausgetragen worden, der man das Kind gleich nach der Geburt weggenommen hatte. »Und wir werden lernen müssen, sie neu zu lieben.«
»Du hast auch vor, hierher zurückzukommen, wenn … wenn alles vorbei ist?«, fragte er verblüfft und sah sie dabei mit leuchtenden Augen an. Die Frage, wie sie je von der Küste zurück in dieses Tal der Sierra Nevada kommen sollten, verdrängte er dabei.
»Haben wir denn eine andere Wahl? Selbst wenn wir für Hyperion nicht Todfeinde und vogelfrei wären, würden wir nie im Leben die nötigen Papiere erhalten, die man braucht, um in eine Hiseci überhaupt eingelassen zu werden, geschweige denn dort leben und irgendwie unseren Lebensunterhalt verdienen zu können. Und in einer dieser Trümmerstädte der Dunkelwelt in Dreck, Gewalt und Elend zu hausen, ist nicht das, was ich mir unter einem Leben in Freiheit vorstelle.«
»Ich auch nicht«, stimmte er ihr zu. »Hier dagegen wartet ein fruchtbares und schon gut entwickeltes Tal mit einer verschworenen Gemeinschaft. Und wenn einem das als neuer Anfang nicht genug ist, könnte man sich hier gut ausrüsten und auf der anderen Seite der Berge nach einem Ort suchen, an dem es sich zu leben lohnt.« In seiner Stimme schwang eine Frage mit, die er nicht auszusprechen wagte. Sie lag auch in seinem Blick, der sehnsüchtig auf ihr ruhte.
»Ja, das könnte man«, antwortete Kendira leise. »Aber genug davon, Dante. Ich möchte mich nicht in Träumen verlieren, wo wir doch erst einmal ganz anderes zu bewältigen haben. Wir sollten wieder zu den anderen zurückkehren und uns um unsere Ausrüstung und all das kümmern, was bis zum Eintreffen des Lichtschiffs noch zu erledigen ist. Außerdem wird es gleich dunkel.«
Er seufzte. »Du hast ja recht.« Er griff mit einer Hand nach der Schaufel neben sich im Gras, sprang auf die Füße und streckte ihr seine andere Hand entgegen. »Komm, ich helf dir hoch.«
Sie brauchte keine Hilfe, um aus dem Gras aufzustehen, was er auch sehr wohl wusste. Aber dennoch ergriff sie seine Hand und ließ sich von ihm aufhelfen. Der Weg hinunter war breit und ohne Stellen, wo man aufpassen musste, wohin man seinen Fuß setzte. Doch ihre Hände lösten sich erst voneinander, als sie den Hügel hinabgestiegen waren und im letzten, verlöschenden Licht des Tages durch das Tor gingen. Für wenige Augenblicke erfüllte sie eine wunderbare Wärme und ein tiefer Frieden.
Carson stand auf dem Dach des Schwarzen Würfels und sah zu ihnen herunter. Er lächelte ihnen zu, wenn auch recht verkniffen. Und als Nekia auf sie zukam und Kendiras Aufmerksamkeit auf sich lenkte, da verschwand das erzwungene Lächeln von seinem Gesicht, und ein flammender Blick traf Dante, bevor Carson sich abrupt abwandte.