Prolog
LONDON, 1995
»Meinen Sie, dass sie durchkommt?«
Tiefe Sorgenfalten zerfurchten das frühzeitig
gealterte Gesicht des Polizisten. Auf seinem kahlen Schädel
schimmerte ein leichter Schweißfilm.
Der junge Arzt zuckte die Achseln. »Ich bin mir
nicht sicher, ob es in ihrem Sinne wäre. Allein ihr Gesicht haben
wir mit über zweihundert Stichen nähen müssen. Ihre Nase war
vollständig zertrümmert, und wir mussten an der Stelle operieren,
wo man ihr den Schädel eingeschlagen hat. Sie müsste tot sein, denn
eigentlich kann jemand, der so misshandelt wurde, gar nicht
überleben. Und doch atmet sie, ihr Zustand ist stabil, ihre
Vitalfunktionen sind gut, und die Knochen beginnen zu heilen.
Solange sie jedoch nicht aus dem Koma erwacht - natürlich gesetzt
den Fall, dass dies jemals geschieht -, können wir nicht
feststellen, ob sie bleibende Hirnschäden davongetragen hat oder
nicht. Wer auch immer ihr das angetan hat … Nennen wir’s beim
Namen: Sie wurde in Streifen geschnitten - eine Brust praktisch
abgetrennt. Es kann nur ein Wahnsinniger gewesen sein, der ihr das
angetan hat. Mir ist so was noch nicht zu Gesicht gekommen.«
Er sah hinunter auf die Patientin, auf die Nähte,
die kreuz und quer über ihr übel zugerichtetes, angeschwollenes
Gesicht verliefen, das sich wie eine furchterregende Maske vom
weißen Kopfkissen des Krankenhausbettes abhob. Mit einer Frau hatte
dieses Wesen keine Ähnlichkeit mehr, vielmehr schien es einem
Horrorfilm entsprungen.
Das Surren der Apparate an ihrem Bett durchbrach
die Stille, und der junge Arzt seufzte leise, beinahe
unhörbar.
»Wissen Sie, wer das getan hat?«
Der Polizist nickte. »Sagen wir mal, ich kann mir
recht gut denken, warum man sie zusammengeschlagen hat, und das ist
doch ein Anfang, oder? Zu beweisen, dass der Dreckskerl ein Motiv
hatte, wird ein hartes Stück Arbeit. Und ihn festzunageln, das wird
noch schwieriger sein.«
Er riss sich vom Anblick der Frau los und sah dem
Arzt in die Augen. »Sie war eine sehr schöne Frau, ja, das war sie,
meine Cathy. Nicht auf den ersten Blick, aber sie hatte Klasse.
Hatte so was an sich. Wissen Sie, was ich meine?« In der Stille der
Intensivstation klang sein Cockney-Akzent besonders schroff.
Der Arzt lächelte schwach. »Sie kennen sie
also?«
Jetzt lächelte der Polizist, traurig und
wehmütig. Seine Miene entspannte sich, und für einen kurzen Moment
sah der Arzt einen ehemals attraktiven Mann mit markanten
Gesichtszügen vor sich.
»Ja, kann man wohl sagen. Jeder im Westend kannte
Cathy, auf die eine oder andere Art. Unsere Wege kreuzten sich vor
über zwanzig Jahren, kurz bevor sie nach Soho kam. Sie hat einen
langen Weg hinter sich gebracht seit damals, einen sehr
langen.«
Er hielt inne, als habe er vergessen, dass der
Arzt noch immer da war. »Ja, einen verdammt langen Weg. Gott sei
ihr gnädig.«
Zärtlich streichelte er ihren dünnen Arm. »Ihr
gehört das Dukes - Sie wissen schon, die große Revuebar in Soho. Wo
die Großen und die Guten sich zusammen mit den Nicht-so-Großen und
Nicht-so-Guten tummeln. Aber bei alledem ist es doch ein
anständiges Lokal. Die Touristen lieben es, besonders die
deutschen. Männer in Frauenkleidern sind die große Attraktion. Es
ist das La Cage von Soho, und die kleine Lady hier war die
Seele des Geschäfts. Cathy hatte nur das Problem, dass sie die
Vergangenheit nicht hinter sich lassen konnte. Die blieb ihr immer
auf den Fersen, und das ist jetzt das Resultat.«
Der Arzt hörte den Mann schlucken, wusste, dass
er gegen die Tränen ankämpfte. Also sah er weiterhin nur die Frau
an.
»Schlecht war sie nicht, meine Cathy. Glauben Sie
mir. Wirklich nicht. Sie wollte sich einfach nicht unterkriegen
lassen. Sie wollte überleben und tat, was nötig war, um es zu
schaffen. Es ging immer nur ums Überleben. Sonst hat sie sich
nichts zuschulden kommen lassen.«
Der Arzt fasste die Schulter des Polizisten und
sagte aufmunternd: »Also, hoffen wir, dass sie das hier überlebt,
hm?« Aber in seiner Stimme schwang nicht viel Hoffnung mit.
Insgeheim bezweifelte er sogar, dass die Frau je wieder die Augen
öffnen oder gar jemanden erkennen würde. Um ihrer selbst willen
hoffte er sogar, dass es nicht geschah, denn die Schläge hatten sie
so zugerichtet, dass außer ihrer Haarfarbe nichts mehr da war,
woran man hätte erkennen können, wie sie einmal ausgesehen
hatte.
»Im Grunde hatte sie nie eine Chance«, sagte der
Polizist leise. »In Soho sterben die Frauen normalerweise an
Alkohol oder Drogen. Oft endet es aber auch wie hier, misshandelt
und geschlagen in einem Krankenhauszimmer, allein.« Er hielt einen
Augenblick inne, bemüht, seine Fassung zu gewinnen, bevor er den
Arzt direkt ansah. »Ich habe sie auf meine Weise geliebt, und zwar
seit dem ersten Tag, an dem ich sie sah, allein und verängstigt,
noch ein Kind. Ich habe sie geliebt.«
Dann ging er aus dem Zimmer wie ein alter Mann,
langsam und gramgebeugt.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die
Patientin zu sich kam und sogar sprach, setzte sich eine junge
Polizistin an deren Bett, um jedes Wort zu notieren. Bewaffnete
Posten wachten rund um die Uhr draußen vor der Tür.
»War das Ihr Boss?« Der Arzt sprach leise, als
sei der Tod gegenwärtig.
Die junge Rothaarige grinste verschmitzt, höchst
erfreut, dass der attraktive junge Mediziner mit den dunklen Augen
Notiz von ihr nahm.
»Mein Boss, genau. Das war Chief Inspector
Richard Gates, Leiter der Sittenpolizei.«
NEW YORK
Der Mann schaute aus seinem Bürofenster und
reagierte einmal nicht elektrisiert auf den Anblick der Skyline.
Normalerweise weckte diese Aussicht eine bis in den Unterleib
spürbare Erregung, die euphorische Genugtuung, dass er, Eamonn
Docherty, Straßenrowdy aus London, es zum angesehenen Geschäftsmann
gebracht hatte, der in einem Büro von der Größe eines Tennisplatzes
residierte und an einem Tisch saß, der aussah, als würde er ins
Victoria und Albert Museum gehören und nicht ins zweiundachtzigste
Stockwerk des Plaza Tower, einer seiner zahlreichen
Immobilien.
Zum zehnten Mal an diesem Morgen nahm er das
Telefon zur Hand und tippte die Nummer ein. Der Wählton schrillte
laut in seinem Ohr, als würde er im Feinkostgeschäft um die Ecke
anrufen und nicht in London. Er legte auf, als der Anrufbeantworter
ansprang und eine Frauenstimme ihren aufgezeichneten Ansagetext
begann.
»Scheiße, wo ist sie denn bloß?«
Die Worte waren an niemanden gerichtet, und seine
Stimme hallte laut in der Stille des Büros. Er stand auf, ging
hinüber zur gläsernen Wand und sah hinaus, ohne etwas wahrzunehmen.
Dann schloss er die Augen und rief sich ins Gedächtnis, wie er als
junger Mann den ersten Blick auf Amerika geworfen hatte.
Sein Vater, Eamonn Docherty Senior, war betrunken
und schnarchte neben ihm auf dem Boot, als sie den Hudson
erreichten und vor sich die Freiheitsstatue in ihrer ganzen Pracht
aufragen sahen. Anders als ihre Vorfahren erwartete sie kein Ellis
Island. Sie waren illegal auf einem englischen Containerschiff ins
Land gebracht worden. Ein Freund eines Freundes hatte das
arrangiert - wie sein Vater es am liebsten ausdrückte.
Eamonn Junior hatte einen Mord begangen, der ihn
sein Leben lang belastete. Er hatte aus dem East End verschwinden
müssen, und sein Vater hatte dafür gesorgt, dass sie zusammen
fortgehen konnten.
Es war das einzige Mal in seinem Leben, dass sein
Vater ihm aus der Patsche geholfen hatte.
Es dauerte kein Jahr, da verlor er seinen Vater
und blieb auf sich allein gestellt. Mit gerade achtzehn Jahren
musste er das Beste aus seinem Leben in der Neuen Welt machen. Und
so ereignisreich, verdorben und gewalttätig es auch gewesen sein
mochte, es hatte ihn hierher in den Plaza Tower gebracht.
Er hatte dafür gearbeitet, hatte jeden und alles
benutzt, um es so weit zu bringen. Sogar Cathy, seine Cathy, wie er
sie in Gedanken stets nannte. Auf ewig die Seine.
Das Telefon klingelte, und das plötzliche
Geräusch schreckte ihn auf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Sein
Privatanschluss.
Jetzt, da das Telefon läutete, scheute er sich,
den Hörer abzunehmen, fürchtete er sich vor dem, was er hören
würde.
Denn insgeheim wusste er sehr genau, was er
hören würde.
Die Stimme am anderen Ende war unverkennbar, eine
leicht raue Frauenstimme, wie sie allein Transvestiten kultivieren
können: weiblicher als die von Elizabeth Taylor, männlicher als
seine eigene.
»Mein Gott, Eamonn, sie stirbt! Cathy stirbt!
Bitte komm! Bitte. Ich weiß nicht, was ich machen soll … Sie haben
sie zerfleischt. Vor lauter Nähten kann man ihr Gesicht kaum mehr
erkennen! O mein Gott, lieber Gott, hilf, dass ihr jemand …«
Eamonn vergrub den Kopf in den sorgfältig
manikürten Händen und weinte. Er hatte gedacht, auf die Nachricht
vorbereitet
gewesen zu sein, aber das war er nicht. Er war ganz und gar nicht
darauf vorbereitet.
Er hatte etwas in Gang gebracht, und jetzt wusste
er nicht, wie er es beenden sollte.