Kapitel achtzehn
Caroline machte ein bühnenreifes Gesicht, als sie
Cathy Connor die Tür öffnete. Sie kannten einander vom Sehen. Und
sie wussten sehr wohl Bescheid, dass die eine wie die andere sich
mit Eamonn eingelassen hatte. Eine Zigarette zwischen den Lippen
und abfällig grinsend, wartete Caroline in der Tür und musterte die
gut gekleidete junge Frau, die vor ihr stand.
»Wir kaufen nichts.«
Cathy lächelte mit schmalen Lippen. Sie war
erstaunt, wie sehr sich das Mädchen verändert hatte. Caroline
Harvey war immer eine Art Vorbild für sie gewesen. Ihre großen
veilchenblauen Augen, ihre modische Kleidung und ihr mächtiger
Vorbau waren der jüngeren Cathy früher als Merkmale einer
kultivierten Frau erschienen. Jetzt aber sah sie aus wie eine
Nutte, was sie wohl auch war.
»Geh mir aus dem Weg, ich will zu Eamonn.«
Caroline blieb, wo sie war, hielt sich an ihrer
Filterzigarette fest und stank nach billigem Parfüm. »Das hier ist
meine Bude, und du kommst nicht rein!«
Ihre Stimme verriet, dass sie zu einer Prügelei
bereit war, und Cathy fürchtete sich ein wenig, verspürte aber bei
weitem nicht so große Angst, wie sie noch vor ein paar Monaten
gehabt hätte. Jeder wusste, dass mit Caroline nicht zu spaßen war,
aber nach dem, was sie inzwischen durchgemacht hatte, ließ sich
Cathy nicht so leicht einschüchtern. Sie schob ihre Widersacherin
beiseite und ging in die Wohnung.
Auf dem Korridor drehte sie sich um und sagte mit
gesenkter
Stimme: »Schlag es dir aus dem Kopf, Lady, oder ich prügel die
Scheiße aus dir raus.«
Caroline war verblüfft über die Ausdrucksweise des
Mädchens. Cathy Connor hatte weit und breit als nettes Mädchen
gegolten, vielleicht mit einem zu losen Mundwerk, aber ansonsten
ganz in Ordnung. Seit kurzem stöberten jedoch die Bullen im ganzen
East End nach ihr, und schon hatte sie an Ansehen gewonnen. Keiner
riss aus ohne Mumm in den Knochen, und es sah so aus, als hätte die
junge Cathy Connor in den letzten paar Monaten eine gehörige
Portion Traute dazugewonnen.
Die beiden Mädchen versuchten, einander
niederzustarren.
Caroline staunte darüber, wie sehr sich ihre
Rivalin verändert hatte. Eamonn hatte zwar ab und zu von Cathy
gesprochen, aber Caroline hatte sich keine Gedanken gemacht. Jetzt
hatte sie plötzlich eine selbstbewusste junge Frau vor sich, und
das irritierte sie.
In den vergangenen sechs Monaten mit Eamonn war es
bergab gegangen mit ihr, das wusste sie, und gleichzeitig wurde die
gottverdammte Cathy Connor langsam zur Liebesgöttin im
Taschenformat.
Cathy marschierte in den Wohnraum, und Caroline
folgte ihr wortlos. Eamonn lag schlafend auf dem Bett. Sein
hübsches Gesicht war kaum mehr wiederzuerkennen. Cathy schaute sich
ungläubig im Zimmer um, nahm den Schmutz wahr und schüttelte
angeekelt den Kopf. Die ganze Wohnung stank. Caroline wusste genau,
was sie dachte, und das tat weh. Sie wollte von diesem Mädchen
nicht beurteilt werden und konnte es nicht ertragen, dass hinter
ihre Fassade geschaut wurde.
Unter Schmerzen öffnete Eamonn die Augen, rappelte
sich auf dem zerknautschten Bett mühsam hoch und starrte Cathy an,
als hätte er sie noch nie im Leben gesehen.
»Hallo, Eamonn, wie ich sehe, hast du’s ja zu was
gebracht.«
Ihre Stimme klang sarkastisch und zugleich
bedeutungsschwer. Eamonn hatte sich noch nie so mies gefühlt. In
dieser
Verfassung vorgefunden zu werden, wo er sich doch immer
vorgestellt hatte, dass ihr langersehntes Wiedersehen zum
romantischen Traumereignis werden würde, bei dem eine
sechzehnjährige Cathy vor Erwartungsfreude zitterte … Jetzt war
alles so furchtbar schiefgegangen, und er fühlte sich
betrogen.
»Hallo, Cathy. Wie ist es dir ergangen?«
Er merkte selbst, wie lahm das klang. Und ihm wurde
bewusst, dass er ungewaschen war und übel zugerichtet und dass die
ganze Wohnung stank. Das alles war mehr, als sein Stolz verwinden
konnte, und er reagierte beleidigt und abweisend.
Caroline stand abseits und blieb stumm. Sie wusste
sehr wohl, wie schäbig sie neben der schick angezogenen jungen
Besucherin wirkte. Ihre Haare mussten dringend gewaschen werden,
ihr Make-up stammte noch vom Abend zuvor, und ihr Morgenmantel
hatte reichlich Flecken. Sie war achtzehn, fühlte sich aber zwanzig
Jahre älter und nahm es Eamonn und Cathy übel, dass sie ihr dieses
Gefühl vermittelten.
»Ich bin in der Küche«, nuschelte sie und ging, um
sich weitere Vergleiche zu ersparen.
Cathy sah Eamonn herausfordernd an, machte aber
keine Anstalten, ihm näher zu kommen.
»Hast du dich nicht gefragt, was mir passiert sein
könnte?«
Man hörte heraus, wie verletzt sie war, aber sie
klang auch so entschieden, als hätte sie sich genau überlegt, wie
sie mit dieser Situation umgehen sollte. Eamonn stellte fest, dass
Cathy ihm zum ersten Mal, solange er zurückdenken konnte, überlegen
war.
Er fand, dass sie noch nie so gut ausgesehen hatte.
Noch nie war sie so gut gekleidet gewesen, noch nie so selbstsicher
aufgetreten. Mit vierzehn war sie bereits eine erwachsene Frau.
Dafür hatte Desrae gesorgt.
Sorgfältig den Rock glattstreichend, setzte sich
Cathy schließlich auf den ramponierten Korbstuhl am Bett und
betrachtete den Jungen, den sie schon ihr ganzes junges Leben lang
liebte.
Sein Gesicht war von Schlägen entstellt. Das dichte schwarze Haar
klebte, von Blut und Schweiß durchtränkt, auf seinem Kopf, und
alles in allem glich er einem geprügelten Hund.
»Du siehst ja furchtbar aus«, sagte sie und
versuchte es mit einem Scherz: »Wer ist dir denn diesmal auf die
Füße getreten?«
In seinem verletzten Stolz und frustriert, weil er
nicht den großen Zampano spielen konnte, explodierte Eamonn und
schrie sie wütend an: »Was meinst du damit? Du schneist hier rein,
aufgetakelt wie eine Edelhure, und besitzt die Frechheit, mir
Fragen zu stellen. Monatelang kein scheiß Lebenszeichen von dir,
und dann stehst du mit einem Mal vor mir und erwartest, dass ich
dich mit lautem Jubel begrüße wie unsere Königin höchstpersönlich!
Die Reise hast du leider umsonst gemacht, Süße. Ich hab mich
nämlich hier mit Caroline eingerichtet.«
Cathy lächelte, aber ihr Blick trübte sich, als ihr
die Ungerechtigkeit seiner Worte klarwurde. »Ich bin ganz und gar
nicht gekommen, um dich zu holen, Kumpel. Ich wollte dich nur mal
besuchen und sehen, wie es dir geht, mehr nicht. Nicht mehr, nicht
weniger. Ich hab jetzt jemanden, und der ist sehr gut zu
mir.«
Sie dachte dabei natürlich an ihren Freund Desrae,
aber das brauchte Eamonn nicht zu wissen. So perplex und gekränkt
sah er aus, dass Cathy fast gelacht hätte, obwohl seine
hasserfüllte Tirade ihr fast das Herz zerrissen hätte.
»Und was soll das für ein Kerl sein? Einer mit
weißem Stock und Hund, kann ich mir vorstellen«, sagte Eamonn
hämisch. Aus der Flasche, die auf dem Nachttisch stand, schenkte er
sich einen Whisky ein und leerte das Glas mit einem Zug.
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, hä?«, schlug
Cathy zurück. »Wie geht’s denn deinem Vater? Lässt er sich noch
immer von seiner kleinen Ehefrau aushalten - oder hat er ihr Geld
schon verprasst und sich aus dem Staub gemacht?«
Sie sah, wie sich sein Gesicht bei der Anspielung
verkrampfte.
»Du riskierst ja plötzlich eine verdammt dicke
Lippe.«
Cathy grinste. »Das kann ich mir auch leisten. Ich
hab jemanden gefunden, der sehr gut für mich sorgt. Er ist
wunderbar, und du würdest ihn bestimmt mögen - auf jeden Fall aber
respektieren.« Sie blickte herausfordernd auf seine jüngsten
Blessuren.
Sprachlos erwiderte Eamonn ihren Blick, über alle
Maßen beschämt und gekränkt. Mit der allerschlimmsten Beleidigung,
die er sich denken konnte, wollte er sie verletzen. Auch im Rausch
hemmungsloser Wut wäre er ihr gegenüber niemals gewalttätig
geworden. Nicht Cathy gegenüber. Niemals.
»Kann ja höchstens deine Art sein, die ihm
gefällt«, sagte Eamonn bedächtig. »Als Fick warst du jedenfalls die
schlimmste Niete, die ich je erlebt hab.«
Cathy schloss unwillkürlich die Augen, aber öffnete
sie in Sekundenschnelle wieder, nahm ihre Handtasche, stand vom
Stuhl auf und sagte leise: »Du jedenfalls warst der erste Fick, den
ich hatte. Erinnerst du dich noch daran, Eamonn? Ich tu’s!«
Die Erinnerung an sein schändliches Verhalten
überkam ihn. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen.
»Aber ich hab dir verziehen - Gott weiß, wieso«,
fuhr sie fort. »Die ganze Zeit, die ich in dieser elenden Schule
war …« Sie konnte nicht weitersprechen. Tränen schossen ihr in die
Augen, als sie zur Tür ging.
»Cathy, geh nicht!«, rief er hinter ihr her.
»Entschuldige, Cathy …«
Caroline, die in der Küche alles mit angehört
hatte, schloss wegen der Gefühle, die Eamonns Stimme verriet,
enttäuscht und traurig die Augen. Sie wusste, dass er auch in einer
Million Jahre nicht dasselbe für sie empfinden würde.
Cathy warf einen Blick zurück und schüttelte den
Kopf.
»Ich bleibe nicht. Mir reicht, was ich gesehen
habe, danke. Du hast mich nicht einmal gefragt, was ich in den
letzten sieben Monaten erlebt habe. Wie ich mich durchgeschlagen
habe, wie
ich aus dieser verfluchten Gefängnisschule rausgekommen bin, in
die sie mich geschickt haben. Du hast dich nicht nach mir
erkundigt, denn seit wir kleine Kinder waren, hat es immer nur dich
gegeben. Nur um dich ging es, allein du warst
wichtig. Aber jetzt tu mir einen letzten Gefallen, Eamonn, such dir
einen Job und leb dein Leben. Kümmer dich um Caroline da drinnen …«
Sie nickte in Richtung Küche. »Die ist nämlich die Einzige, die
sich noch mit dir abgibt. Du bist ein selbstsüchtiger und
eingebildeter Mistkerl, und, bei Gott, ich wünschte, ich hätte das
schon vor Jahren gemerkt. Du hast deinen Dad verachtet, aber ich
will dir eins sagen - ein Mann von seinem Format wirst du im Leben
nicht werden.«
Sie ging zur Eingangstür. Er war verwirrt, dass sie
von einer Schule gesprochen hatte, obgleich er doch wusste, dass
sie es bei Pflegeeltern gut gehabt hatte. Er hielt sie jedoch nicht
zurück, um nachzufragen, sondern pöbelte: »Los doch, verpiss dich,
kleines Luder! Raus mit dir. Wer braucht dich schon? Du warst doch
diejenige, die mich nötig gebraucht hat, Kleine. Ihr alle braucht
mich.« Er hatte sich mittlerweile vom Bett aufgerappelt, und
Caroline eilte ins Zimmer, um ihn zurückzuhalten. Er stieß sie
brutal von sich.
Cathy sah die beiden an und schüttelte den Kopf.
»Sieh dich nur an, Eamonn. Sieh dich nur mal an von oben bis unten.
Und zwar genau. Du bist der reine Abschaum. Leider ist mir das erst
heute klargeworden.«
Sie öffnete die Tür und kehrte ihm den Rücken. Noch
im Treppenhaus hörte sie seine obszönen Verwünschungen und zog die
Schultern hoch, als müsse sie vor ihnen in Deckung gehen.
Im Tageslicht der Straße atmete sie tief durch und
ging hoch erhobenen Kopfes davon, wenn auch die unterdrückten
Tränen der Demütigung ihr in den Augen brannten. Sie hielt ein Taxi
an und fuhr zurück nach Soho, zu Desrae und einem Leben, das ihr
Frieden bot, wenn schon nicht das große Glück. Sie hatte getan,
was sie hatte tun wollen, und jetzt musste sie von einem neuen
Ausgangspunkt weitermachen.
Auch wenn es ihr fast das Herz gebrochen hatte,
Eamonn dort zurückzulassen.
Eamonn hatte jetzt schon fast eine halbe Stunde
lang gehadert, gewütet und getobt, und Caroline war es allmählich
leid. Der Anblick der jungen Cathy mit ihrem seidigen Haar und den
hübschen Kleidern hatte ihr die Augen dafür geöffnet, wie sehr sie
selbst sich schon seit langem gehenließ.
Eamonn hatte sie nach seinem Gutdünken zu formen
versucht, hatte sie zu einem Abklatsch von Madge und all den
anderen Dockschwalben machen wollen, bei denen er aufgewachsen war.
Wie sein Vater brauchte auch er eine Frau, die ihm alles gab. Noch
brauchte er zwar kein Geld, aber er brauchte bedingungslose
Unterwerfung. Eine Frau musste kuschen und ihm zu Willen sein.
Musste in ihm den Gebieter sehen. Auf dem Stuhl, auf dem Cathy
gesessen hatte, hörte sich Caroline jetzt an, wie er die gesamte
weibliche Menschheit zum Teufel wünschte. Es schauderte sie.
Sie legte eine Hand auf den Bauch. Wenn sie sich
nicht irrte, wuchs darin ein Baby, und sie wusste, dass sie
deswegen in der Falle saß.
Bis heute, da sie erlebt hatte, wie Cathy Eamonn
rückhaltlos die Meinung gesagt hatte, war Caroline überzeugt
gewesen, alles zu haben, was sie sich wünschen konnte. Sie hatte
Eamonn, den harten Burschen, den Arbeiter. Sie hatte zusammen mit
ihm ein Heim, und es war ein Baby unterwegs. Jetzt aber wusste sie
nur noch, dass sie einen gestörten Jungen mit vielen Problemen
hatte, der einen Hang zur Brutalität besaß und beinahe krankhaft
eifersüchtig war.
Zusammengesunken auf dem Stuhl fragte sie sich, wie
sie in diese Lage hatte geraten können. Sie blickte in den Spiegel
auf der Kommode, sah ihr Abbild und schüttelte den Kopf. Sie sah
grässlich aus. Die morgendliche Übelkeit ließ sie leichblass
erscheinen, und sie musste sich dringend die Haare waschen. Ja,
Eamonn hatte sie mit nach unten gezogen, und inzwischen war er ganz
unten gelandet. Am absoluten Tiefpunkt angelangt. Er hatte sogar
dort, wo er arbeitete, das Nest beschmutzt. Dixon hatte ihn
erbarmungslos zusammengeschlagen, und jetzt wartete Caroline nur
darauf, dass er wieder seiner Arbeit als Eintreiber nachging, damit
endlich Geld in die Haushaltskasse floss.
Caroline wurde ihrer Mutter immer ähnlicher.
Nichts machte ihr mehr Angst als diese Vorstellung.
Ihre Mutter hielt zu Jack, weil sie sich etwas anderes nicht
traute. Er hatte seine Geliebte und seinen Arbeitgeber umgebracht.
Danach war seiner Ehefrau keine andere Wahl geblieben, als auf ihn
zu warten. Hätte sie sich mit einem anderen eingelassen, hätte ihr
Mann dafür gesorgt, dass sie lebenslänglich zum Krüppel wurde. Er
besaß immer noch Helfershelfer, die das für ihn erledigt
hätten.
Caroline stand auf und sammelte ihre Sachen
zusammen. Sie würde heimgehen zu ihrer Mutter und von dort aus
versuchen, alles wieder auf die Reihe zu bekommen. Eamonn brauchte
eine Weile, um zu begreifen, was sie vorhatte. Anfangs dachte er
noch, dass sie endlich putzen wollte. Aber als sie ihre Tasche
packte, brüllte er sie an.
»Du kannst sofort damit aufhören! Ich hab nicht den
geringsten Bock auf solchen hysterischen Scheiß, Alte! Hol mir
einen Drink und mach mir was zu essen, und zwar dalli!«
Caroline beachtete ihn nicht und fuhr damit fort,
ihre Sachen zu packen.
Eamonn schob sich an die Bettkante.
»Ist mein Ernst, Caroline. Ich sag dir eins, bring
mich heute nicht zur Weißglut, sonst mach ich Hackfleisch aus dir,
das kannst du mir glauben. Also fall mir nicht mehr auf den Wecker,
Frau, sondern tu, was ich dir gesagt hab. Ich mach keine
Witze.«
Sie legte ihren Morgenmantel ab und zog einen
Pullover über den Kopf. Als sie ihn über ihren geschwollenen
Brüsten glattstrich, sagte sie: »Du kannst mich, Eamonn. Ich bin
hier weg.«
Ihre Stimme klang laut und entschieden. Er sah sie
entgeistert an. »Was hast du gerade gesagt?« Er kniff die Augen
zusammen, als könne er dadurch besser hören.
»Du hast schon verstanden«, erwiderte sie unbeirrt.
Sie schien sich plötzlich in einen anderen Menschen verwandelt zu
haben. »Mir reicht es. Ich geh heim zu meiner Mom.«
Eamonn schüttelte den Kopf. »Das wirst du nicht
tun, Lady. Du wirst schön hierbleiben.«
Sie bedachte ihn mit einem hochmütigen Lächeln.
»Ich bin nicht dein Besitz, Docherty. Das war ich noch nie. Geh los
und stell deiner kleinen Mieze nach. Hab sowieso den Eindruck, dass
sie dich mehr interessiert als ich. Statt meine Zeit hier zu
verschwenden, verschwinde ich. Es gibt jede Menge Männer da
draußen, und ich glaub, ich nehm mir ein Beispiel an Cathy Connor
und such mir einen davon aus.«
Sie wollte ihn so kränken, wie er sie gekränkt
hatte. Die Faust traf ihr Gesicht mit solcher Wucht, dass sie
durchs Zimmer taumelte. Sie sah Sterne und verlor fast das
Bewusstsein.
Hingestreckt auf dem Bett hob sie den Kopf. Obwohl
ihr das Blut aus dem Mund lief, lächelte sie. »Du hältst mich nicht
auf. Ich hau ab, Kumpel.«
Fassungslos sah Eamonn das Mädchen an. Ihre Lippe
war aufgeplatzt und sah innen aus wie ein Stück rohe Leber. Überall
war Blut: im Bett, auf ihrem Gesicht und ihrer Kleidung. Und
trotzdem beharrte sie darauf, ihn verlassen zu wollen.
Er versetzte ihr einen Schlag an den Kopf und traf
ihr Ohr. Sein schwerer Siegelring riss das Fleisch auf. Noch mehr
Blut. Eine Menge Blut.
Dann schlug er sie, schlug sie hart und
erbarmungslos, legte seine ganze Kraft in jeden der Schläge, genoss
es, wie ihr Körper unter seinen Fäusten nachgab. Es war allein ihre
Schuld, dass
er sein einzig geliebtes Mädchen verloren hatte. Wäre sie nicht da
gewesen und hätte sich vor Cathy aufgeplustert, hätte er sie
überreden können. Er wusste genau, dass er sie rumgekriegt hätte.
Cathy musste sich bestimmt ausgerechnet haben, dass er ohne
weibliche Gesellschaft nicht ausgekommen wäre, während sie fort
war, aber sich ausrechnen und mit eigenen Augen ansehen, das waren
zwei verschiedene Dinge. Es war allein Carolines Schuld, dass Cathy
ausgerastet war und diese schrecklichen Sachen gesagt hatte. Und
jetzt hatte er sie verloren, hatte seine Cathy verloren, und das
nur wegen dieser elenden Schlampe …
Er schlug noch immer auf Caroline ein, als die Tür
eingetreten wurde und zwei Männer hereinstürzten, die ihn von ihr
wegzerrten.
»Verdammte Scheiße, Mann, du hast sie
umgebracht!«
Die Stimme seines Nachbarn überschlug sich fast vor
Bestürzung und Furcht. Eamonn betrachtete die blutige Masse auf dem
Bett und sah sich dann völlig verstört um.
Seine Fäuste waren blutverschmiert und übersät von
kleinen Knochensplittern. Caroline Harvey war nicht mehr zu
erkennen. Ihre Hände lagen gefaltet auf dem Bauch. Im Todeskampf
hatte sie nicht sich selbst geholfen, sondern versucht, ihr
ungeborenes Baby zu schützen.
Die beiden Männer erfassten erst jetzt, was
geschehen war, und einer von ihnen musste sich übergeben. Sein
Würgen war das einzige Geräusch im Zimmer.
Es holte Eamonn abrupt in die Wirklichkeit zurück,
und er vergrub den Kopf in den Händen. »Was hab ich getan? Mein
Gott, was hab ich nur getan?«, flüsterte er.
Jimmy Salter drängte Eamonn an den Ausguss und
wusch ihm die Hände. Dann zerrte er ihn aus dem Zimmer und trug dem
anderen Mann auf, es abzuschließen. Er legte sein Jackett um
Eamonns Schultern und sagte zu seinem Freund Barry Callard: »Ich
bring ihn zu Dixon. Keinen Ton davon, was hier
geschehen ist. Die Leute werden denken, sie haben sich nur mal
wieder gestritten.«
Barry Callard war bis ins Mark erschüttert. Er
nickte nur und ging hinauf in die Wohnung. Vor Augen hatte er
nichts als das Gesicht von Caroline Harvey, das gar nicht mehr da
war.
Dieser Anblick sollte ihn für den Rest seines
Lebens heimsuchen.
Cathy ging in ein Kaffeehaus in der Brewer Street
und bestellte sich eine große Kanne Kaffee und Kuchen. Sie setzte
sich ans Fenster und schaute den Passanten nach. Sie schienen es
ausnahmslos eilig zu haben und wussten anscheinend genau, wohin sie
wollten. Es war ein herrlicher Apriltag, und obwohl die Sonne noch
immer schien, war es kühl.
Sie trank ihren Kaffee und überlegte, was sie jetzt
mit ihrem Leben anfangen sollte.
Eamonn hatte so sehr ihre Gedanken bestimmt, mehr
noch als ihre Mutter, denn er war schon immer der wichtigste Mensch
in ihrem Leben gewesen. Wenn sie an die arme Madge dachte, die in
Holloway hinter Gittern saß, und sich vor Augen führte, dass sie
sich weit mehr Sorgen um Eamonn gemacht hatte, spürte sie
Gewissensbisse. Aber er war schließlich mal ihr Ein und Alles
gewesen.
Ihn mit Caroline in dieser gruseligen Wohnung zu
sehen, das Gesicht malträtiert und die Kleidung dreckig, hatte ihr
die Augen geöffnet. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, ihn zu
brauchen - ohne ihn gar nicht richtig lebendig zu sein. Sie war
davon ausgegangen, dass es ihm genauso gegangen war. Er war so
lange ihr Lebensinhalt gewesen, und jetzt sah sie ihn, wie ihre
Mutter ihn gesehen hatte, wie Betty ihn gesehen hatte und wie sein
eigener Vater ihn gesehen hatte.
Sie dachte an die Lügen, die sie ihm aufgetischt
hatte, und war froh, dass er jetzt annehmen musste, sie habe einen
anderen gefunden. Einen anderen, der sich um sie kümmerte, der sie
wollte und brauchte. Tragisch war nur, dass sie bezweifelte,
jemals so einen Menschen zu finden. Die Fähigkeit, einen Mann zu
lieben und ihm zu vertrauen, hatte sie für immer verloren. Eamonn
war der einzige Mann, mit dem sie es getan hatte, und im Augenblick
hatte sie das Gefühl, er werde auch der letzte sein. Für keinen
Mann würde sie je eine Caroline spielen.
Ein Schatten fiel über sie, und ganz in Gedanken
sagte sie: »Noch einen Kaffee, bitte«, weil sie annahm, die
Kellnerin sei gekommen.
»Schon gut, Kleines, ich hab bereits
bestellt.«
Cathy hob den Kopf und sah in Desraes Gesicht. Er
war wie ein Normalo gekleidet, Bundhosen mit Bügelfalten und ein
schwarzes Polohemd. Sein Haar war hinten gebunden, und er hatte
kaum Make-up aufgetragen. An einem Samstagabend so angezogen? Das
verriet ihr, wie sehr er sich um sie sorgte.
»Ich hab allen meinen Kunden abgesagt«, sagte er.
»Dachte, wir gönnen uns einen netten Abend, ganz unter uns Mädels.
Was hältst du davon?« Während er sprach, griff eine Frau am
Nebentisch nach ihrer Handtasche und ihrem Mantel. Mit wütenden
Blicken in ihre Richtung zog sie auf die andere Seite des
Kaffeehauses um.
Desrae musterte sie, lächelte und sagt laut: »Gott
sei Dank, dass die Fregatte weg ist. Ihr Geruch war ja
schauderhaft.«
Sich die Tränen aus den Augen wischend, schenkte
Cathy ihm ein Lächeln, obwohl sie hätte schwören können, dass sie
keins mehr übrig hatte. »Ach, Desrae, so schwer kann das Leben ja
nicht sein, solange ich dich habe.«
»Joey kommt heute Abend später noch vorbei, und
dann gibt es wieder was zu lachen«, tröstete er sie. »Das Leben ist
das, was du draus machst, Mädchen, vergiss das nie. Es ist genau
das, was du, ich oder die alte Schachtel da am anderen Tisch mit
dem Gesicht wie ein plattgeklopfter Hintern daraus machen -
capisci? Wie der Italiener so schön zu sagen pflegt.«
Cathy lachte wieder, aber leise und verzagt. »Ich
hab ihn geliebt, Desrae. Ich hab ihn doch so sehr geliebt.«
»Es werden dir noch einige mehr über den Weg
laufen, bevor du den Richtigen gefunden hast und ans Heiraten
denkst. Merk dir meine Worte, Liebes«, sagte er sanft. »Bei deinem
Aussehen und deiner lieben Art hast du die freie Auswahl.«
Cathy sah ihm in die Augen und sagte voller Ernst:
»Für mich ist keiner dabei, Desrae. Niemals wieder.«
Ihre Stimme klang so überzeugt und so ernst, dass
er einen Moment lang vergaß, ein junges Mädchen vor sich zu haben.
Sie sprach mit der resignierten Abgeklärtheit einer uralten
Frau.
Eamonn Senior war ziemlich betrunken und kapierte
einfach nicht, was man ihm erzählte. Jimmy Salter wollte ihm
weismachen, dass sein Sohn sich noch mehr Probleme eingehandelt
hatte.
»Probleme? Gottverdammte Probleme? Der Junge heißt
mit Vornamen Probleme«, sagte er leichthin und rülpste. »Jetzt mach
dich davon und lass mich zufrieden.«
Jimmy Salter wäre am liebsten vor Wut in den Luft
gegangen. Danny Dixon hatte ihm aufgetragen, den älteren Mann zu
ihm zu bringen, und den Auftrag musste er ausführen. Er wollte
nicht in die Sache verwickelt werden, und jetzt war er es. Jetzt
steckte er bis zum Hals drin.
Er reckte seinen Ballonkopf dem großen Iren
entgegen und zischte: »Dein Junge hat Caroline Harvey umgebracht.
Jetzt will Danny Dixon dich sprechen, und du wirst mitkommen. Er
hat mir aufgetragen, dich hinzubringen, und genau das hab ich
vor.«
Irgendwie begriff Eamonn, dass diese Probleme ernst
waren, so ernst, dass sogar der liebe Gott im Himmel sich den Kopf
zerbrochen hätte. Er schnappte sich seine Jacke, folgte dem Mann
und kletterte in dessen Lieferwagen. Mit Genugtuung sah Jimmy
Salter, dass der Schock den Mann ernüchtert hatte.
»Er hat also die kleine Caroline umgebracht?«
Jimmy nickte. »Zu Brei hat er sie geschlagen! War
gar nicht mehr wiederzuerkennen.«
Eamonn schüttelte den Kopf, fassungslos über das,
was er hören musste. »War doch so ein süßes Ding, warum sollte er
ihr das antun?«
Jimmy fuhr stumm weiter. Auf eine solche Frage gab
es keine Antwort.
»Himmelkreuzdonnerwetter! Ist der Bengel denn
völlig durchgeknallt? Bist du sicher, dass er’s getan hat, dass er
ihr nicht nur ‘ne Lektion erteilen wollte und ein bisschen zu grob
geworden ist?«
Jimmy fuhr an den Straßenrand und sah den Mann
neben sich an. »Ich musste ihn von dem armen Ding wegzerren. Er
hatte sie bereits so zusammengeschlagen, dass nur noch blutiger
Brei übrig war. Und würdest du mich jetzt bitte in Ruhe lassen,
damit ich dich zu Dixon bringen kann. Ich will möglichst bald zum
Tee nach Hause. Nicht dass ich sonderlich Appetit hätte, wo ich
doch weiß, dass die kleine Hure ein Stockwerk unter meiner Küche
liegt, und zwar als Leiche.«
Für den Rest der Fahrt blieb Eamonn stumm.
Inzwischen war er stocknüchtern.
Danny Dixon saß in der Zwickmühle.
Eamonn hatte die Tochter eines Mannes umgebracht,
der im ganzen East End als manischer Irrer bekannt war. Sogar von
Broadmoor aus besaß Harvey großen Einfluss. Durch Besuche und
Briefe hielt er seine Kontakte aufrecht. Es hieß, er sei ein
fleißiger Briefschreiber, und er hielt sich zugute, ein Mann zu
sein, mit dem zu rechnen war.
Wenn Danny dem Jungen half, würde Harvey davon
erfahren, und eine Menge anderer Leute würden sich deswegen
ebenfalls gegen ihn wenden. Ein Mann konnte andere Männer ermorden,
durfte sie zum Krüppel machen oder in die Luft
sprengen. Doch wenn derselbe Mann einer Frau etwas zuleide tat
oder gar einem Kind, dann hatte er die öffentliche Meinung
einhellig gegen sich.
Was ihn selbst betraf, nahm Danny an, dass Caroline
wahrscheinlich provoziert hatte, was mit ihr geschehen war. Das
traf auf die meisten Frauen ihrer Art zu. Sie hatte ihren Namen und
den Ruf ihres Vaters benutzt, um zu bekommen, was sie wollte. Sie
war nichts als eine Schlampe gewesen, wie viele der Mädels im East
End. Er zog die Frauen aus seiner Jugendzeit vor, die gute Mädchen
gewesen waren, die ein anständiges Leben geführt hatten und nicht
mit jedem Hans und Franz in die Kiste gesprungen waren, nur weil
die einen harten Schwanz hatten und ein bisschen Kohle in der
Tasche.
Aber die Zeiten hatten sich geändert. Mit der Moral
hatten sich auch die sonstigen Sitten gelockert. Wenn sie Eamonns
Ehefrau gewesen wäre, hätte er Respekt vor ihr gehabt. Aber so war
sie eben nur dessen Tussi gewesen, und für so eine hatte Danny
keinen Funken Mitleid.
So klar war die Sache für ihn. Er würde den Jungen
jetzt in die Hände seines Vaters geben und ihm ein paar Pfund
zustecken. Dann würde er ihm raten abzuhauen, und zwar so schnell
und so weit wie möglich, bevor Harvey seine Netze auswarf.
Unvorstellbar, dass dieser Wahnsinnige den Mord an seiner Tochter
nicht rächen würde.
Absolut unvorstellbar.
Father Seamus Jensen hatte Eamonn die Beichte
abgenommen und trank jetzt einen doppelten Irish Whiskey, während
er dem Vater des Jungen mit seiner Leier von ihrer gemeinsamen
Heimat zuhörte und den Kontakten, die sie dort hatten. Der Priester
wollte gar nicht gerne daran erinnert werden, dass er aus einer
weit verzweigten Familie von Ganoven und Aufrührern stammte. Wollte
eigentlich nicht daran erinnert werden, dass sie Cousins
mütterlicherseits waren, und mochte ganz sicher
nicht hören, wie oft sie als junge Männer zusammen gezecht
hatten.
Seamus Jensen war in den Priesterstand getreten,
weil man ihn dazu gezwungen hatte. Sein Vater war ein bekannter
IRA-Mann gewesen und hatte, bevor er im Mountjoy Jail von den
Engländern hingerichtet worden war, noch dafür gesorgt, dass sein
jüngster Sohn einen anderen Weg einschlug als er. Er war der Kirche
beigetreten und hatte nach ein paar Monaten Gott jeden Tag aufs
Neue für die Chance gedankt, ihm dienen zu dürfen. Er bediente sich
durchaus auch selbst, aber verlor darüber so gut wie kein
Wort.
Jetzt war er Ende siebzig und hatte viel Freude an
seinem Leben. Er hatte seinen Whiskey, seine Haushälterin - eine
vortreffliche Frau, die Presskopf so vorzüglich bereiten konnte,
als stammte sie aus Cork - und in seinem Pfarrhaus ein Dach über
dem Kopf. Zudem wurde er respektiert und geachtet, was das
Wichtigste war.
Er wollte keinen irischen Abschaum in seinem Haus.
Er zog es vor, seine Landsleute als Dichter und Sänger zu sehen und
als schwer arbeitende Männer, denen Unrecht getan wurde. Die
Dochertys hingegen und ihresgleichen waren wie ein Krebsgeschwür im
Staatswesen. Und doch war ihm klar, dass er ihnen helfen
musste.
Der Junge hatte zwar ein armes junges Mädchen
umgebracht, aber Father Seamus bedachte sehr wohl, dass es Männer
wie Docherty waren, die wieder und wieder seinen Klingelbeutel
füllten und dabei ihre Lieder über die schönen Töchter Irlands
sangen und die alten Kriege gegen die Briten, aber gleichzeitig
Sorge trugen, dass die Soldaten Irlands Stiefel an den Füßen hatten
und Waffen in der Hand. Es würde da draußen bald zu lautstarken
Krawallen kommen, und es waren Blödmänner wie Docherty, die dafür
sorgten, dass Geld dafür da war.
»Ich muss ein paar Anrufe machen. Schenkt euch was
zu trinken
ein, und ich will mal sehen, was sich tun lässt, okay?«, sagte
Father Seamus.
Eamonn Junior nickte und sagte feierlich: »Möge der
Himmel mit Euch sein, Father Jensen.«
Seamus verdrehte die Augen und sagte leicht
gereizt: »Das kann warten, noch wandle ich auf der vermaledeiten
Erde!«
Eamonn stieß einen Seufzer der Erleichterung aus,
als der Mann den Raum verließ. So wie er selbst würde auch der
Priester seinem Sohn helfen. Und doch hätte er am liebsten laut
gerufen: Warum?
Warum musste er seinem Sohn nach alledem, was der
getan hatte, jetzt helfen?
Ihm fiel dazu nur ein, dass es so schön hieß: Blut
ist dicker als Wasser.