Kapitel elf
Das Lächeln auf Denises Lippen verriet Cathy, dass
ihr Erlebnis mit Hodges bereits die Runde gemacht hatte. Mit einer
Schale grauhäutigem Porridge und einer Scheibe Brot vor sich auf
dem Tisch griente sie zufrieden. Ihre verbundene Hand erregte die
Aufmerksamkeit sämtlicher Mädchen um sie herum.
»Wie ist es gelaufen?«
Cathy, eine begabte Erzählerin, schilderte ihnen
die Ereignisse mit dem ihr eigenen Humor, und die Mädchen lachten
Tränen. Auf unterschiedliche Weise wusste jede von ihnen genau, was
es bedeutete, Hodges ausgeliefert zu sein, und sie bewunderten
dieses neue Mädchen dafür, dass sie in der Lage war, die komische
Seite an der Tortur zu sehen und wiederzugeben. Das war ein Zeichen
von Stärke, einer eigenen Stärke, von der sie bis zu diesem
Zeitpunkt nichts geahnt hatte.
Als Lady C. an den Tisch trat, lächelte Cathy ihr
gewinnend zu. »Tut mir leid, aber deine Klinge wurde mir
weggenommen.«
Das Mädchen zuckte die Achseln. »Keine Sorge, wo
die herkam, gibt’s noch jede Menge.« Mit ihrem Tonfall schien sie
andeuten zu wollen, dass sie ein ganzes Waffenarsenal zur Verfügung
hatte, und das machte die anderen nervös.
»Kann ich dein Brot haben?« Was die Waffen betraf,
schien sie den Faden verloren zu haben, und alle seufzten
erleichtert.
»Und was ist jetzt der nächste Schritt, Cathy?«,
fragte Denise wissbegierig.
Cathy stöhnte. »Der nächste Schritt heißt, hier
rauszukommen. Nach dem, was Sally mir erzählt hat, kann Barton mich
offiziell einweisen, obwohl ich gar nicht hier sein sollte. Aber
darauf warte ich nicht. Scheiß auf die alte Wachtel und Hodges. Ich
mach die Biege.«
Bevor sie weiterreden konnten, kam Deidre an ihren
Tisch gestapft und sagte zu Cathy, sie werde oben in ihrem Zimmer
gewünscht.
In aller Unschuld folgte Cathy der Betreuerin in
das Zimmer, und hinter ihr schloss sich die Tür. Hodges erwartete
sie mit wie gewohnt undurchdringlicher Miene. Nur seine Augen
verrieten, wie viel Böses in ihm lauerte. Er lächelte träge, was
ihn gemein und bedrohlich aussehen ließ. Bei dem Gedanken daran,
was er ihr antun würde, spürte Cathy Übelkeit in sich
aufsteigen.
Auf ihrem Bett waren Stricke und Kordeln
drapiert.
Als Hodges auf sie zutrat, setzte Cathy sich zur
Wehr. Er und Deidre waren gleichermaßen erstaunt, welche Kräfte ihr
kleiner Körper aktivierte, als sie sich mit Zähnen und Klauen
verteidigte. Hodges lachte. Genau das wünschte er sich ja: Je mehr
sie sich widersetzte, desto größere Lust empfand er. Dies war das
Beste an seinem Job - den Willen der Mädchen zu brechen und sie
gefügig zu machen. Wahre Befriedigung fand er erst, wenn sie
hilflos und ihm völlig ausgeliefert waren.
Gefesselt auf dem Bett musste Cathy mit ansehen,
wie Deidre auf sein Geheiß das Zimmer verließ.
Hodges grinste auf sie herab. Sein maskenhaftes
Gesicht war von Hass verzerrt. »Ich verlasse dich jetzt«, flüsterte
er, »aber ich komme wieder. Und während ich fort bin, darfst du dir
vorstellen, was mit dir geschehen wird. Aber eins ist sicher, junge
Dame. Nichts, was du dir ausmalst, wird an die Realität
heranreichen.« Er lachte nochmals und verließ das Zimmer.
Als er die Tür hinter sich zuschlug, stemmte Cathy
sich gegen ihre Fesseln und spürte, dass sie sich nur noch enger
zuzogen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten und zu
versuchen, sich zu entspannen. Sie durfte sich nicht von ihm
unterkriegen lassen. Diese Befriedigung würde sie ihm niemals
geben.
Sie durchlebte jetzt das Gefühl, völlig allein und
verlassen zu sein, und gestattete sich ein paar Tränen. Ob es
Tränen der Verzweiflung oder Tränen der Wut waren, hätte sie nicht
sagen können.
Cathys Fesselung war Gesprächsthema bei den
Mädchen. Sie alle waren irgendwann einmal Hodges zum Opfer
gefallen. Besonders entsetzt reagierten sie jedoch, weil Cathy
Connor noch nicht einmal offiziell in die Anstalt eingewiesen
worden war und Hodges schon seine perversen Spielchen treiben
wollte. Das war bisher noch nie vorgekommen. Sie spekulierten
daher, dass die alte Schlampe Barton eventuell in aller Eile die
Formalitäten erledigt und ihm dadurch den nötigen Anstoß gegeben
hatte, mit der Prozedur zu beginnen, die bei ihm »zum Parieren
bringen« hieß.
Die Essenszeit kam und ging.
Kein Zeichen von Cathy.
Die Abendbrotzeit kam und ging.
Noch immer keine Spur von Cathy.
Sally Wilden war mit Denise auf ein Zimmer gelegt
worden, und die beiden Mädchen schauten einander besorgt an. Sie
wussten, dass Cathys Fesseln strammgezurrt waren, sie wussten auch,
dass sie weder zu essen noch zu trinken bekommen würde, und sie
wussten beide, dass eine solche Behandlung tödliche Folgen haben
konnte.
Im Gegensatz zu den Fesselungen in anderen
Erziehungsanstalten waren die von Hodges wahrhaft sadistische
Handlungen. Ihm wurde sogar der Gebrauch von Handschellen
nachgesagt. Er fesselte so stramm, dass die Blutzirkulation
abgeschnitten wurde und die Gliedmaßen schnell abstarben. Ein
Mädchen hatte man nach achtzehnstündigen Qualen dieser Art ins
Krankenhaus bringen müssen. Cathy Connor würden sie doch wohl nicht
die ganze Nacht gefesselt lassen, oder?
Das würde Hodges nicht wagen, trösteten sie
einander.
Den Mumm hätte er gar nicht.
Betty Jones hatte Eamonn in einem kleinen
möblierten Zimmer in der Bethnal Green Road aufgespürt. Die
Behausung gehörte einer jungen Hure namens Sylvia Darling, und
Eamonn hielt sich oft dort auf. Er zahlte ihr ein paar Pfund, damit
er bei ihr unterkriechen konnte und in Sicherheit war. Sylvia
konnte ihrem Gewerbe überall nachgehen, wo es eine Mauer gab, und
so kam ihnen beiden das Arrangement gleichermaßen zugute.
Als es an der Tür klopfte, streckte Eamonn den Kopf
unter der säuerlich riechenden Decke hervor und reagierte mit einem
unwirschen Knurren.
Betty stöhnte und hämmerte noch einmal gegen die
Tür. »Mach auf, Eamonn, verdammt, ich frier mir gleich sonst was
ab.«
Als er die Stimme erkannte, raffte er sich auf und
öffnete in Unterhosen die Tür. »Was denkst du dir, Frau? Mich
mitten in der Nacht zu wecken?«
Betty lachte. »Es heißt doch, dass du vorangekommen
sein sollst im Leben.«
Sie sah sich abschätzig um, und Eamonn zog eine
Zigarette aus der Packung auf dem Nachttisch. Er sagte knapp: »Komm
raus damit, was du willst, und dann verpiss dich wieder, Betty, ich
bin müde.«
Gerade als er sich die Zigarette anstecken wollte,
riss sie ihm die kleine Frau erbost aus dem Mund.
»Wie redest du mit mir, du kleiner Scheißer. Ich
hab dir früher den Arsch abgewischt, und egal für wie abgebrüht du
dich hältst oder wie groß du geworden bist, damit hab ich mir doch
wohl ein bisschen Respekt verdient, oder? So, nun steig in die
Klamotten und mach mir ‘ne Tasse Tee. Dann können wir besprechen,
weswegen ich hergekommen bin.«
Eamonn musste beinahe schmunzeln. Er hatte die alte
Betty
schon immer gern gemocht und erinnerte sich plötzlich daran, wie
oft sie ihm als Kind ein paar Pennies zugesteckt hatte, damit er
sich einen Schokoladenriegel kaufen konnte. Er sagte sich, dass er
sich nichts vergab, wenn er ihr hier in diesen vier Wänden ein
wenig Respekt entgegenbrachte, und daher kam er Bettys Verlangen
nach, während sie seine Zigarette rauchte.
Fünf Minuten später, eine heiße Tasse vor sich,
redete sie los.
»Es geht um die junge Cathy. Ich hab mich reichlich
unbeliebt gemacht mit meiner Schnüffelei, was die vom Sozialamt
wohl mit ihr angestellt haben.«
Zum ersten Mal, seit er die alte Frau ins Zimmer
gelassen hatte, blitzte Interesse in Eamonns Augen auf. »Und? Komm
schon, Betty - wo ist sie? Kann ich sie besuchen, ihr
schreiben?«
Betty betrachtete sein hübsches Jungengesicht, das
vor Eifer strahlte, und hätte fast Mitleid mit ihm empfunden,
obwohl er doch gerade dabei war, sich einen furchterregenden Ruf
als Danny Dixons rechte Hand zu erwerben.
»So einfach geht das leider nicht, mein Lieber. Du
weißt doch, wie die Beamten sind - verschwiegen wie ein Grab sind
die doch. Wir sind nicht mit Cathy verwandt, und daher erzählen sie
uns nichts … Aber ich hab mich mit einem von den Bürohengsten
angefreundet, hab ihm versprochen, ihm einen Gefallen zu tun, wenn
er mir auch einen tut. Er hat mal in Cathys Akte gelinst und
festgestellt, dass sie für langfristige Pflege vorgesehen ist. Er
wollte mir nicht sagen, wo genau das sein wird, aber er hat gesagt,
die Familie, die infrage kommt - die Hendersons - das wären
herzensgute Leute. Was Besseres und alles, so wie ich’s verstanden
hab … Cathy wird bestimmt gut behandelt von denen, Eamonn. Wir
müssen uns keine Sorgen um sie machen, auch wenn sie uns noch so
fehlt. Schätze, sie wird eines Tages hier wieder auftauchen und den
piekfeinen Ton draufhaben. Stell dir bloß vor - Madge Connor ihre
Tochter ist zu ‘ner kleinen Dame geworden!«
Eamonn machte ein finsteres Gesicht. »Bin ich gar
nicht so
drauf aus, nein, vielen Dank. Die haben kein Recht, Cathy hier aus
Bethnal Green wegzureißen. Mein Mädchen ist sie und sollte auch
hier sein bei mir.«
Betty lächelte traurig. »Denk mal nach, Junge. Sie
ist noch keine vierzehn. Da wird man sie wohl kaum einem
berüchtigten Rabauken …« Sie hob beschwichtigend eine Hand und
fügte hastig hinzu: »… und auch keiner alten Hure überlassen. Ich
hab angeboten, sie aufzunehmen, weißt du. Nichts tät ich lieber,
als dem kleinen Mädchen ein Heim geben. Aber davon wollten die
nichts hören. Find dich damit ab, Eamonn - Cathy ist auf Dauer hier
weg. Ich glaub nicht, dass du oder ich sie wiedersehen, bis sie
nicht sechzehn ist und denen sagen kann, wohin sie sich die
Pflegschaft schieben können.«
Sie sah, dass er die Fäuste ballte und wie sich
seine blauen Augen vor Kummer verdüsterten, bevor er sich hastig
abwandte.
Rücksichtsvoll erhob sich Betty. »Also dann, mein
Lieber. Pass auf dich auf. Sieh zu, dass du heil bleibst, denn
früher oder später wird Cathy zurück sein. Darauf kannst du
zählen.«
Sie ging allein zur Tür. Eamonn hockte am Tisch,
den Kopf in die Hände gestützt. Wenn sie nicht gewusst hätte, was
für einen hartgesottenen Bengel sie vor sich hatte, hätte sie
schwören können, dass er weinte.
Cathy war kaum noch bei Sinnen. Ihre
angeschwollenen Handund Fußgelenke waren nach vierundzwanzig
Stunden so wundgescheuert, dass die Schmerzen alle Wahrnehmung
trübten. Ihr Herz schlug nur unregelmäßig, und das schweißnasse
Haar klebte an ihrem Kopf. Miss Henley war entsetzt, und sogar Mr.
Hodges erfasste Besorgnis, obwohl er andererseits durchaus den
Anblick genoss, der sich ihm bot.
Aber vielleicht war er diesmal zu weit gegangen
…
Fesselungen waren Ende des 19. Jahrhunderts in
Irrenanstalten eingeführt worden. Zumindest offiziell, denn gegeben
hatte es sie schon seit ewigen Zeiten. Geisteskranke hatte man nach
Gutdünken behandeln dürfen, ebenso wie Strafgefangene. In Heimen
und Erziehungsanstalten wurden die Fesselungen oft als letzter
Ausweg angesehen, in der Benton School for Girls hingegen brachte
man sie vor so gut wie allen anderen Sanktionen zur Anwendung. In
erster Linie waren sie für Epileptiker gedacht, damit diese nicht
aus dem Bett fielen und sich verletzten. Sie galten als
Hilfsmaßnahme für die Unglückseligen, die des Nachts einen Anfall
bekamen - so hieß es jedenfalls offiziell. Zudem wurden
Anstaltsinsassen gefesselt, bei denen Fluchtgefahr bestand, wenn
man sie unbewacht ließ.
In Cathys Fall diente diese Maßnahme der
Bestrafung.
Sie war so gefesselt, dass sie sich nicht bewegen
konnte und dass ihr die größtmöglichen Schmerzen zugefügt
wurden.
Die Schlingen um ihren Hals, um die Hände und
schließlich noch die Füße waren so gelegt, dass sie sich
unweigerlich strangulierte, wenn sie sich mit Gewalt aus den
Fesseln zu winden versuchte. Wenn er Jungen fesselte, zwang Hodges
seine Opfer, sich auf den Bauch zu legen. Auf diese Weise konnte er
sie leichter nehmen, wenn ihm danach war. Er kannte sich mit
sämtlichen Arten der Fesselung aus und hatte sie im Laufe der Jahre
alle ausprobiert. So hielt er sich denn auch für einen Experten auf
diesem Feld und liebte es, mit Gleichgesinnten endlose Diskussionen
zu diesem Thema zu führen. Wenn er dabei seine Handlungen
nachempfand, überkamen ihn gewöhnlich die hitzigsten Gelüste.
Als er jetzt jedoch auf das leidende Opfer
hinuntersah, in ihre glasigen und schreckgeweiteten Augen, auf ihre
geschwollenen Glieder, meldete sich doch die Angst. Man hatte noch
nicht einmal die formelle Einweisung dieses Mädchens erwirkt. Die
Kleine durfte also gar nicht bei ihnen in der Anstalt sein.
Als er die Stricke zerschnitt, die sich tief in ihr
Fleisch gegraben hatten, vernahm er die hektischen und angstvollen
Atemzüge seiner Kollegin.
»Sie hat es gebraucht. Das hast du selbst
zugegeben.«
Miss Henley traute sich nicht, ihm zu
antworten.
»Ein völlig missratenes Kind ist sie, und das hier
wird ihr eine Lehre sein. Denk an meine Worte.«
Sie beide wussten, dass er Augenwischerei
betrieb.
Während sie die Handgelenke des Mädchens
massierten, beteten sie, dass die Kleine ihnen nicht unter den
Händen sterben würde. Die Konsequenzen von zwei Todesfällen
innerhalb von achtzehn Monaten wären nicht auszudenken. In
grimmigem Schweigen kümmerten sie sich um das Mädchen. Sie wussten
sehr genau, dass sie diesmal mit ihrer Strafaktion zu weit gegangen
waren, aber keiner von beiden brachte den Mut auf, diese Einsicht
laut auszusprechen.
Beide hegten ihre Geheimnisse, beide wussten um die
Eigenheiten des anderen, und beide fürchteten sich schrecklich vor
den möglichen Konsequenzen einer Entlarvung. Es war eine unheilige
Allianz, die sie verband, und sie würden einander niemals
verraten.
Die Mädchen widmeten sich still ihren Aufgaben,
und Mrs. Daggers wusste auch, warum. Kaum fünf Minuten im Haus, und
schon hatte dieses kleine Miststück Connor alles
durcheinandergebracht.
Mrs. Daggers hatte ebenso in Frauengefängnissen wie
in Haftanstalten für Männer gearbeitet, und sie verstand sich
darauf, Anzeichen zu deuten. Weil sie daher ahnte, dass es schon
sehr bald zur Meuterei kommen konnte, versorgte sie die Mädchen mit
Arbeit, verließ das Klassenzimmer und brachte sich in
Sicherheit.
Sie stieg hinauf unters Dach und warf einen Blick
in die Kammer, in die man die Ursache aller Probleme einquartiert
hatte: Cathy Connor.
»Wie geht’s ihr denn?«, fragte Mrs. Daggers mit
gesenkter Stimme.
Miss Henley zuckte hilflos die Achseln. »Okay,
glaube ich.«
Mr. Hodges hörte nicht auf, Cathys Knöchel zu
reiben. In der engen Kammer klangen seine Atemzüge beinahe
röchelnd.
»Wie lange war sie bewusstlos?«
Mit gepresster Stimme antwortete Miss Henley:
»Keine Ahnung.«
Jetzt war sogar Mrs. Daggers schockiert. »Wollen
Sie damit sagen, dass niemand sie beaufsichtigt hat? Sie hätte
sterben können, Sie törichte Frau.«
Mr. Hodges fuhr herum: »Ist sie aber nicht. Und
wenn Sie nichts Konstruktives zu dem Gespräch beizutragen haben,
sollten Sie verdammt nochmal machen, dass Sie wegkommen.« Seine
Ausdrucksweise verriet den Frauen, wie nervös er war, und sie
tauschten angstvolle Blicke aus.
»Eines Tages werden Sie zu weit gehen.«
Der eiskalte Blick des hochgewachsenen Mannes ließ
Mrs. Daggers verstummen, aber sie war zweifellos der Hysterie nahe.
»Wenn das hier je rauskommt …« Ihre Stimme bebte vor Angst.
Mr. Hodges richtete sich zu voller Größe auf und
sagte hochmütig und anmaßend: »… haben sie uns am Arsch. Stimmt.
Und jetzt massieren Sie lieber weiter und beten, dass wir keinen
Arzt von draußen zu Hilfe holen müssen.«
»Die Mädchen sind ungewöhnlich ruhig, und ich gehe
davon aus, dass es Ärger geben könnte. Ich würde raten, zur
Abwechslung mal ein anständiges Abendessen auf den Tisch zu bringen
und eine ablenkende Aktivität anzubieten. Wenn dem Kind hier etwas
geschieht, dann wird es Mord und Totschlag geben - und damit mein
ich nicht, was hier bereits geschehen ist.« Nachdem sie ihre
Meinung kundgetan hatte, machte sich Mrs. Daggers ebenfalls daran,
Cathys Gliedmaßen zu massieren.
Obwohl ihr nichts erwidert wurde, wusste sie, dass
man die Warnung zur Kenntnis genommen und zur späteren Bezugnahme
beiseitegelegt hatte. Sie hatte ihren Teil beigetragen. Jetzt
konnte sie nur abwarten, mit welchen neuen Entwicklungen der Tag
aufwarten würde.
Denise stahl sich aus dem Klassenzimmer und passte
im Flur Miss Brown ab, die ihre Runden machte.
»Bitte, Miss, wie geht’s Cathy Connor?«
Miss Browns normalerweise rosiges Gesicht war
kalkweiß, und einen Moment lang schien sie die unverwechselbare
Gestalt von Denise gar nicht zu erkennen.
»Nicht gut, aber sie wird es überleben«, verriet
sie schließlich. »Ich könnte diesen verfluchten Hodges eigenhändig
erschlagen! Dieser Dummkopf. Ich wünschte, er würde rausgeschmissen
oder in Pension gehen oder sonst was …« Sie verstummte.
Gleich darauf fügte sie traurig hinzu: »Ich dachte
schon, es wäre um sie geschehen, Denise, hab ich wirklich gedacht.
Es ist nur so, auch wenn ich gemeldet hätte, was ich gesehen hab,
sind da doch so viele drin verwickelt, einschließlich der alten
Barton, dass mir keiner glauben würde. Hodges wird doch von allen
im Sozialdienst hofiert, als wäre er der liebe Herrgott persönlich.
Aber ich kann dir eins sagen: Wenn das Mädchen gestorben wäre,
hätte ich’s in die Zeitungen gebracht. Vielleicht hätte ich dann
hier nie wieder Arbeit bekommen, aber riskiert hätte ich es.«
Denise nickte, um der älteren Frau zu bedeuten,
dass sie deren Dilemma verstand. Hier war ihr Heim, und hier hatte
sie auch ihren Arbeitsplatz. Sie zählte zu der wachsenden Schar von
Frauen, die so viele Jahre in staatlichen Institutionen gearbeitet
hatten, dass sie inzwischen selbst zu Institutionen geworden waren.
Außerhalb der Mauern der Benton School for Girls war Miss Brown
verloren. Dieser Ort war ihr Leben, und ihren geringen Einfluss
nutzte sie, den ihr anvertrauten Mädchen das Leben leichter zu
machen. Denise wusste, dass eine Miss Brown oder Miss Jones mehr
wert war als tausend Hodges, aber leider waren sie so selten.
Menschenfreundliche Betreuer blieben immer die
Ausnahme von der Regel.
Da sie von früh auf immer wieder die Heime hatte
wechseln
müssen, kannte sich Denise mit dem Betreuungspersonal bestens
aus.
»Sie ist also okay?«, fragte sie betont ruppig, um
ihre Ergriffenheit zu verbergen.
Miss Brown nickte. Sie packte das Mädchen an den
Schultern und sagte eindringlich: »Pass auf, dass die anderen nicht
ausrasten. Das würde nur Probleme schaffen und kein einziges lösen.
Schaltet auf stur und bleibt ganz ruhig. Das macht den Ärschen am
meisten Angst.«
Denis schmunzelte unwillkürlich und nickte.
Die Zwillinge Doreen und Maureen stellten ebenso
verblüfft wie begeistert fest, dass sie zu servieren hatten, was
den Benton-Mädchen wie ein Festessen vorkommen musste: Tomatensuppe
und Schinkensandwiches, gefolgt von Biskuitrolle und
Vanillepudding.
Diese Information wurde jedoch von den anderen
Mädchen ganz anders aufgenommen. Auf Anordnung von Denise
boykottierten sie die Kantine und saßen versteinert und hungrig im
Aufenthaltsraum.
Als Hodges und Henley davon hörten, erschraken sie
sehr. Das war schlimmer als eine Meuterei und bedeutete, dass die
Mädchen dasitzen und abwarten würden, welches Resultat ihre außer
Kontrolle geratene Strafaktion hatte. Um sie nicht noch mehr zu
provozieren, erlaubten sie den Mädchen, über Nacht im
Aufenthaltsraum zu bleiben. Dort schwatzten sie miteinander und
warteten geduldig auf Neuigkeiten von ihrer Freundin.
Danny Dixon war sehr angetan von seinem Schützling
und wollte ihm das mitteilen. Man hatte Eamonn herbeigeholt, und
nervös stand der jetzt im Angesicht des Mannes, der ihm den Lohn
zahlte. Des Mannes, der das Leben eines jeden hier in der Hand
hatte.
Dixon hatte vor nichts und niemandem Angst. Schon
als
Kind hatte er weder seinen herrischen Vater noch seine
trunksüchtige Mutter gefürchtet. Joanie Dixon war im East End eine
Legende. Mit einem einzigen Schlag konnte sie jeden Mann von den
Beinen holen. Es ging das Gerücht, sogar ihr Mann würde lieber auf
die andere Straßenseite wechseln, als Joanie begegnen, wenn sie
einen Rochus hatte.
Aufgewachsen in einer solchen Umgebung konnte der
junge Dixon gar nichts anderes werden als ein Großer, aber niemand
hatte geahnt, wie groß er werden würde. Abgebrühte Kerle, die für
ihn arbeiteten, die andere für ihn zu Krüppeln machten, die Leute
in Angst und Schrecken versetzten, waren in seiner Gegenwart lieber
auf der Hut.
Dixon wusste, dass die Furcht, die er erregte,
darauf beruhte, dass niemand wusste, wie weit er gehen würde. Seine
Gewalttätigkeit war stets kontrolliert. Er verletzte Menschen nicht
deswegen, weil sie ihn verärgerten, und er steckte auch mal eine
Beleidigung lachend weg, aber es geschah oft genug, dass er
dieselbe Person zu einem anderen Zeitpunkt ohne jeden erkenntlichen
Anlass attackierte. Absolute Unberechenbarkeit war in diesem
Geschäft sein wichtigstes Kapital, und das wusste er sehr wohl.
Also kultivierte er sie und sonnte sich in seinem zweifelhaften
Ruhm.
Er liebte es, den alten Tratschweibern zuzuhören,
wenn sie sich das Maul zerrissen über die harten Burschen im East
End. Es amüsierte ihn besonders, wenn sie voller Hochachtung über
ihn redeten. Dixon hatte den Durchblick. Anders als viele
seinesgleichen wusste er, dass eine Portion Bullshit unbedingt zum
Leben im East End gehörte. Er brüstete sich damit, nichts anderes
zu tun, als das Spiel zu spielen. Er hatte schon sehr früh kapiert,
worauf es im Leben ankam, und meinte, ein großes Geheimnis zu
kennen, das niemand sonst mit ihm teilte.
In vielerlei Hinsicht hatte er Recht.
Der Junge, der vor ihm stand, erinnerte Danny sehr
an sich selbst. Eamonn Docherty Junior, wie er genannt wurde,
führte
sein Leben mit dem erklärten Ziel, Geld anzuhäufen und wieder
auszugeben.
Er wollte nur das Beste, und er wollte es so
schnell wie möglich. Zudem war er bereit, alles Erdenkliche zu tun,
um dieses Ziel zu erreichen. Anders als die meisten schweren Jungs,
die Dixon um sich scharte, würde dieser Bursche vor nichts
haltmachen. Grenzen und Skrupel kannte er nicht.
Das bewunderte Dixon, obwohl er sehr wohl wusste,
dass Eamonn eben wegen dieser Eigenschaften eines Tages zur Gefahr
werden würde.
Eines Tages würde er das beanspruchen, was ihm
gehörte. Eine simple Lebenserfahrung. Aber erst wenn dieser Tag
gekommen war, würde er sich damit auseinandersetzen. Bis dahin
würde er den Jungen für sich nutzen und ihm ein Mentor sein.
Dixon glaubte an das alte Sprichwort: Gleich und
gleich gesellt sich gern. In diesem Fall war er sich ziemlich
sicher, dass er keinen wirklich Ebenbürtigen vor sich hatte, aber
doch einen, der ihm durchaus gewachsen war.
Zehn Minuten später ging Eamonn, um zweihundert
Pfund reicher, zur Tür hinaus. Was er getan hatte, um das Geld zu
verdienen, konnte er nicht genau sagen, außer dass er einen Mann
fast totgeschlagen hatte.
Doch die Prügelaktion war bereits vor geraumer
Weile in Auftrag gegeben und im Voraus bezahlt worden.
Eine Zeit lang sollte ihm noch verborgen bleiben,
dass dieses unerwartete Geschenk nichts anderes war als eine
geschickte Werbeaktion für ihn und Dixon selbst.
Natürlich würde es sich wie immer herumsprechen,
dass er jemanden hatte zusammenschlagen lassen, aber über die
zweihundert Pfund würde noch lange und überall debattiert werden,
in jedem Pub, Club und Wirtshaus.
Sogar seine eigenen Leute würden darüber
diskutieren.
Eine kluge geschäftspolitische Entscheidung.
Eine Lektion für viele.
Dixon konnte ruhiger schlafen, und Eamonn Docherty
durfte das Prestige genießen, das er Dixons Freigebigkeit
verdankte.
Mary Barton war zutiefst besorgt. Nach einem
kurzen Blick auf das Mädchen im Bett fuhr sie Hodges zornig
an.
»Holen Sie den Arzt, Sie selten dämliches
Mannsbild!«
Als er aus dem Zimmer wankte, sah sie ihre Freundin
und Kollegin an und verdrehte die Augen.
Miss Henley schüttelte bekümmert den Kopf. »Niemand
war bei ihr. Ich hatte gedacht, er würde es nach ein paar Stunden
genug sein lassen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass er sie die ganze
Nacht über hier liegen lassen würde.«
Das war gelogen, und sie wussten es beide. Es
gehörte alles zu dem Spiel, das sie spielten. Beide gaben
gleichermaßen vor, alles für völlig normal zu halten, was sie
taten. Keine von ihnen gestand freiheraus, dass sie die Kinder, die
unter ihrer Obhut standen, geradezu abscheulich behandelten.
Keine würde je einräumen, dass die Gelder, die sie
überall abschöpften, von Heizung und Verpflegung bis zur Kleidung,
jemals für etwas anderes verwendet wurden als zum Wohl der Schule
und der Kinder. Es war ein grausames und zynisches Spiel, das sie
trieben, und sie verstanden sich ausgezeichnet darauf.
»So ein Mist, was sollen wir bloß sagen?« Miss
Henleys Stimme klang ängstlich.
Mrs. Barton zuckte die Achseln, als sei dies ein
ganz normaler Tag in einem normalen Heim. »Wieso? Die Wahrheit
natürlich. Eines der anderen Mädchen hat ihr das hier angetan, und
wir haben sie so aufgefunden. Was sollen wir sonst sagen?«
Aus dem Hintergrund erklang Browns Stimme: »Wir
könnten doch auch sagen, dass unser Heimleiter, der sadistische
alte Dreckskerl, sie gefesselt und beinahe umgebracht hat. Mitten
in der Nacht ist er dann noch aufgetaucht, um sein Werk zu
betrachten. Garantiert hat er das getan, meine Damen. Und ich
wette, er hat es auch genossen! Besonders, weil sie noch klar
denken konnte und bewusst erlebte, was er mit ihr tat. Und ahnte,
was er sonst noch alles mit ihr anstellen könnte … Oder wir könnten
auch erklären, dass sie gar nicht hier sein sollte, weil sie
nämlich nichts Ungesetzliches getan hat - sondern dass Sie, Mrs.
Barton, nur einen Blick auf sie geworfen und sofort entschieden
haben, dass sie eingesperrt werden muss. Ich meine, allein deswegen
ist sie doch wirklich hier, oder?«
Die beiden älteren Frauen sahen June Brown
verblüfft an.
»Haben Sie den Verstand verloren, Brown?« Mrs.
Bartons Stimme bebte vor Entrüstung.
Die gewichtige Frau, die vor ihnen stand, zuckte
die Achseln. »Keine Sorge, ich werde meine Klappe halten, aber ich
kann Sie beide nur warnen: Hier muss vieles anders werden. Ich und
Jonesy haben es satt. Unser Job ist es, über die Mädchen zu wachen,
und die Heimleitung hat sich da verdammt rauszuhalten. Ein schönes
Pärchen sind Sie beide! Eine vertrocknete Bohnenstange und eine
übergeschnappte Lesbe. Und was Hodges betrifft … der ist ein
perverses Dreckschwein! Dass Sie alle nachts noch schlafen können,
ist mir ein verdammtes Rätsel.«
Auf Mrs. Henleys rot angelaufenem Gesicht glänzten
Schweißperlen. »Sie müssen gerade den Mund aufmachen. Was ist denn
mit …«
June Brown unterbrach sie. »Ich und Jonesy sind
schon seit Jahren zusammen, Lady. Und wir stellen keinen kleinen
Mädchen nach. Was ist denn mit Ihnen und Denise … glauben Sie denn,
wir wissen es nicht? Die erzählt alles haarklein, damit die anderen
was zu lachen haben, und Sie glauben, niemand weiß es? Sind Sie
tatsächlich so dumm? Die Mädchen sprechen über alles, und wenn sie
entlassen werden, nehmen sie es mit, in ihren Herzen und in ihren
Köpfen. Eines Tages wird alles herauskommen, und ich kann’s gar
nicht abwarten, dass Ihnen allen die Scheiße um die Ohren
fliegt.«
Sie marschierte aus dem Zimmer, eine durch und
durch anständige
Frau, die wegen ihrer sexuellen Neigung gezwungen war, ein Leben
in Schande und Erniedrigung in einer Institution zu fristen, in der
ihre sogenannte Andersartigkeit im Vergleich zu den Verfehlungen
der verantwortlichen Leute als mehr oder weniger normal gelten
konnte.
Wie sie einmal zu ihrer langjährigen Freundin
Gillian Jones bemerkt hatte: »Der Preis, den wir für unsere
Freundschaft zahlen mussten, ist viel zu hoch. Wenn wir abartig
sein sollen, was zum Teufel ist dann mit der perversen
Bande?«
Das Leben konnte sehr ungerecht sein, wie die
beiden Misses aus eigener Erfahrung wussten.
Wenn sie auspackten, dann stünde ihr Wort gegen die
Aussagen all der anderen, und niemand würde ihnen Glauben schenken.
Das stand so fest wie das Amen in der Kirche.
Nach einer starken Tasse Kaffee, die sie mit einem
Schuss Scotch veredelt hatte, ließ Miss Brown den Arzt ein und
spielte ihre Rolle in dem Spiel, wie es von ihr erwartet wurde. Das
heißt: Sie log wie gedruckt.