Kapitel dreiundzwanzig
Eamonns Augen waren blutunterlaufen und
rotgerändert. Im Waschraum warf er einen Blick in den Spiegel und
schnitt eine Grimasse. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund und
wusste, dass er mindestens genauso schlimm aus dem Hals roch. Er
zog einen Kaugummi hervor und kaute einen Augenblick darauf herum.
Der erfrischende Pfefferminzgeschmack regte den Speichelfluss an.
Er bespritzte das Gesicht unter dem Kaltwasserhahn und versuchte
wach zu werden. Gleichzeitig setzten dumpf pochende Kopfschmerzen
ein.
Nie wieder.
Bei dem Gedanken musste er grinsen. Es war dasselbe
gewesen wie immer. Er betrank sich, betrank sich sinnlos, immer
wenn er mit Petey einen draufmachte, und die letzte Nacht war keine
Ausnahme gewesen.
Nach ein paar Drinks und dem Essen im Restaurant
Stakis am Broadway waren sie weitergezogen in eine Topless-Bar ein
paar Blocks östlich. Die Mädchen waren hässlich, die Drinks flossen
reichlich, und wann geschlossen wurde, war Verhandlungssache. Er
hatte den Verführungskünsten einer Rothaarigen mit Brüsten wie
Betonklötzen widerstanden und war schließlich besinnungslos auf
seinem Sessel zusammengesunken.
Als die Putzkolonne vor zehn Minuten angerückt war,
hatte er die Augen aufgeschlagen. Petey lag auf dem Boden neben
einer Schwarzen mit blondem Haar, ohne Brüste und mit Hasenzähnen.
Er blieb seinem Typ eben treu.
Nachdem er sich einigermaßen hergerichtet hatte,
ging
Eamonn in den Club zurück. Es stank nach Zigarettenqualm,
Testosteron und Mundgeruch. Petey schlief selig und sah dabei mit
seinem entspannt lächelnden Gesicht wie das irische Landei aus, das
er ja auch war. Eamonn bemerkte angeekelt, dass die Frau sich nass
gemacht hatte. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass seine
Brieftasche noch da war, verließ er die Bar und trat hinaus ins
grelle Morgenlicht, das seinen Augen wehtat.
Er ging nach rechts um die Ecke und huschte in ein
Schnellrestaurant am Broadway, um einen Kaffee zu trinken und einen
Happen zu frühstücken, bevor er sich ein Taxi nahm. Um halb sechs
Uhr morgens waren bereits allerhand Leute unterwegs. Er bestellte
einen großen Kaffee und ein Plunderstück, außerdem Spiegeleier,
gewendet, und Pfannkuchen. Er brauchte dringend etwas Festes im
Magen, der vom vielen Alkohol revoltierte.
Während er aß, dachte er an Maria, seinen Job und
Deirdra. Aber das dauerte nur, bis eine scharfe kleine Mieze in
kurzem Rock, mit verwischtem Lidschatten und einem bunten Kaftan
hereinkam. Schon nach fünf Minuten hatte er sie zum Frühstück
eingeladen und hörte sich ihre kurze Lebensgeschichte an.
Zumindest die sorgfältig zensierte Version.
Er wusste gleich, dass sie auf den Strich ging. Man
sah es ihr bereits an, obwohl sie doch erst achtzehn war. Es stand
in ihren Augen, die bei aller staunenden Offenheit doch argwöhnisch
und unergründlich wirkten, als wüssten sie etwas, was sonst niemand
wusste. Wenn Petey sie zu Gesicht bekam, würde er für sie leicht
einen Einsatzort finden, und dann verdienten sie alle. Er
eingeschlossen.
Was seine Tätigkeiten betraf, kannte Eamonn keine
Skrupel und hatte schon vor langer Zeit die Absicht aufgegeben, ein
normales Leben zu führen. Damit war einfach kein Geld zu
machen.
John Castellano war die ganze Nacht wach gewesen
und hatte mit einer Knarre und einem Paar Handschellen vor dem Haus
seines Rivalen an der Lower East Side gewartet. Außerdem spürte er
brennende Wut in den Eingeweiden, die ihn jeden Moment zu zerreißen
drohte.
Immer wenn er sich seine Frau mit diesem Mann
vorstellte, überkam ihn pure Mordlust. Maria sei nichts
vorzuwerfen, hatte ihm ihr Vater gesagt. Sie sei verhext worden von
diesem Iren, dieses naive katholische Mädchen, erzogen, den
Menschen zu vertrauen und in ihnen nur das Gute zu sehen. Jetzt
hatte dieser Mann ihren Schatz, das reine Geschöpf, besudelt. Sie
war zu weltfremd gewesen, um zu durchschauen, was mit ihr geschah.
Docherty hatte sie obendrein umgarnt, ihm einen Wohnungsschlüssel
zu überlassen.
Der Schwiegervater war überrascht gewesen, dass der
Ehemann seiner Tochter tatsächlich alles zu schlucken schien, was
er ihm auftischte, und John war diese Überraschung auch irgendwie
aufgefallen. Er wusste insgeheim, bei wem die Schuld wirklich lag,
aber er liebte seine Maria, und es war so viel leichter, diesen
irischen Hundesohn zu verfluchen!
Ingrimmig knirschte John mit den Zähnen. Er hatte
gehofft, sein Opfer auf Anhieb zu finden, aber Docherty war gar
nicht so leicht zu erwischen.
Nun, John war ein Mann mit Geduld. Er konnte
warten. Er würde seine Beute aufspüren, und wenn es seine letzte
Tat sein sollte. Er steckte sich eine Zigarette an, machte es sich
in seinem Auto bequem und beobachtete den Eingang zum Apartmenthaus
seines Feindes. Er würde den Iren umpusten und dabei laut lachen.
Dieser Gedanke besserte sofort seine Laune.
Cara Bowman war eigentlich siebzehn, noch keine
achtzehn, und schon fast ein Jahr lang auf den Strich gegangen. Sie
war aus einer kleinen Stadt in Oklahoma ausgerissen und im Big
Apple mit dreißig Dollar und einem Koffer mit unmöglichen Klamotten
angekommen. Kaum acht Stunden, nachdem sie aus dem Bus gestiegen
war, hatte sie ihren ersten Freier bedient.
Aufgenommen von einem schwarzen Zuhälter namens
Alphonse hatte sie sehr bald zu spüren bekommen, wie hässlich das
Leben in New York sein konnte, wenn man kein Geld, keine Familie
und keine hilfreichen Freunde hatte.
Die Bekanntschaft mit diesem Eamonn würde all das
ändern. Er hatte ihr einen Job versprochen - einen guten Job, bei
dem sie ihr Geld auf angenehme Weise verdienen würde und der ihr
ermöglichte, eine akzeptable Wohnung zu mieten. Sie war noch immer
unverbraucht und tatkräftig genug, um sich ein Leben in New York
aufzubauen. Sie würde Geld sparen, sich weiterbilden, versuchen,
etwas aus sich zu machen.
Nach Hause zurückkehren konnte sie ganz sicher
nicht.
Im Gespräch mit dem Mann neben ihr öffnete sie sich
vertrauensvoll. Brachte ihn zum Lachen. Es kam ihr eher wie ein
Date mit ihm vor, und das gefiel ihr. Er sprach respektvoll mit ihr
und hörte sich an, was sie zu sagen hatte. Das Beste war jedoch,
dass er sie nicht einziges Mal berührte. Die meisten Männer mussten
sie betatschen, und wenn es nur ihr Gesicht war, ihr Arm oder ihr
Bein.
Dieser Mann war anders. Trotz seines zerknautschten
Anzugs, des Bartschattens um sein markantes Kinn und der
rotgeränderten Augen erkannte sie in ihm jemanden, der Klasse
hatte. Seine goldene Uhr, sein sorgfältig geschnittenes Haar und
seine handgemachten Schuhe sagten ihr alles, was sie wissen
musste.
Ihr war durchaus klar, dass er ihr einen Job als
Hure bot, aber zumindest würde sie dann mit Stil anschaffen.
Hübsche Kleider, eine hübsche Wohnung, ein hübsches Leben. Es klang
paradiesisch.
Als sie das Restaurant verließen und in ein Taxi
stiegen, regte sich bei ihr zum ersten Mal seit Monaten die
Hoffnung, das Leben habe ihr vielleicht doch noch etwas zu bieten.
Sie schob die Hand in seine und merkte, wie er sich ganz kurz
verkrampfte. Als sie ihn ansah, bemerkte sie etwas Gequältes,
Mattes und Angespanntes in seinem Gesicht, das ihr Mitleid
erweckte.
»Sind Sie okay?« Ihr breiter Akzent ließ die Frage
unaufdringlich klingen.
Er lächelte sie bekümmert an. »Du bist ein sehr
liebes Mädchen.« Und dann wurde ihm blitzartig klar: Mit ihrer
zierlichen Gestalt und dem blonden Haar erinnerte sie ihn an Cathy.
Sie besaß zudem denselben misstrauisch wachen Blick, vermittelte
dieselbe kämpferische Haltung. Er schloss die Augen und strich ihr
übers Haar. Sie fühlte sich sogar genauso an wie Cathy. Seine
Cathy.
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, und er
bemerkte den Geruch der Straße: Fastfood, billiges Parfüm und
Zigarettenrauch. Sie roch wie eine Nutte. Dieser Gedanke machte ihn
unruhig.
Wie mochte es Cathy gehen? War sie drüben auf der
anderen Seite des Atlantiks in derselben Lage? Bedienten sich
fremde Männer ihres Körpers und taten damit, was ihnen gefiel, nur
um einer kurzen Befriedigung willen? Es schauderte ihn.
Als sie an seinem Apartmenthaus an der Third Avenue
vorfuhren, tat es Eamonn bereits leid, das Mädchen zu sich nach
Hause eingeladen zu haben. Sie erinnerte ihn daran, was er verloren
hatte, was er benutzt hatte und missbraucht. Sie erinnerte ihn an
sein vorheriges Leben in London, und allmählich war sie ihm
deswegen zuwider.
Er zahlte das Taxi und sah auf der anderen
Straßenseite ein Schimmern von Metall im Sonnenlicht, als eine
Waffe durch das geöffnete Seitenfester des Buick Cabrio geschoben
wurde, der am Feuerhydranten parkte.
Als das Mündungsfeuer aufblitzte, zog Eamonn das
Mädchen an sich.
Es war in Sekundenbruchteilen vorüber. Der Wagen
raste mit kreischenden Reifen vom Bordstein davon, das Taxi
verschwand hinter der Straßenecke, und Cara Bowman lag mit
weggeschossenem Hinterkopf in Eamonns Armen.
Maria beobachtete ihren Mann, der eine Tasse
Kaffee trank und sich abermals eine Zigarette anzündete.
»Was ist los mit dir?«, fragte sie gehässig. »Du
bleibst die ganze Nacht weg, kommst heute Morgen wieder wie ein
waidwunder Bär, und ich krieg kein vernünftiges Wort aus dir raus.
Du verdirbst mir echt die Laune.«
Ihre raue Stimme klang schriller als gewöhnlich.
Ohne Make-up war ihr Gesicht ganz und gar nicht makellos. Das
grelle Licht machte die geplatzten Äderchen auf ihren Wangen und
die gelbliche Blässe ihres sizilianischen Teints deutlich sichtbar.
John sah seine Frau, wie sie wirklich war. Ihr Schandmaul, ihre
Launenhaftigkeit, ihre Selbstsucht, all das wurde ihm zum ersten
Mal bewusst, als er sie jetzt ansah.
»Halt dein dreckiges Maul, Maria.«
Bei diesen Worten erstarrte ihr Gesicht vor
Entsetzen. »Was hast du gerade gesagt?«, zischte sie.
Ihr Mann schloss die Augen und antwortete unwirsch
und bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich sagte, halt
dein dreckiges Maul. Ständig muss ich mir dein Geschwätz anhören.
Als wärst du eine öde Langspielplatte. Jetzt halt das Maul, Maria,
bevor ich dir wirklich Grund zum Jammern gebe.«
Unter schweren Lidern sah John Castellano sie an.
Maria nahm ihn plötzlich so wahr, wie eine andere Frau ihn
vielleicht hätte sehen können. Wenn er die Richtige geheiratet
hätte, wäre er möglicherweise ein guter Ehemann geworden. Und ein
guter Vater.
Sie konnte nicht an sich halten. »Leck mich doch,
du Arschloch!«, keifte sie. »Wenn mein Vater wüsste, dass du so mit
mir …«
Seine Hand traf sie unterm Auge, ein ungezielter
Schlag, der jedoch so heftig war, dass sie vom Stuhl fiel. Als sie
rücklings auf dem Boden lag, sah er, dass sie unter ihrem
Morgenmantel nackt war, und zum ersten Mal weckte ihre Nacktheit
kein Begehren in ihm.
Sie ekelte ihn an.
»Scheiß auf dich, Miststück, und scheiß auch auf
deinen gottverdammten Vater. Ich weiß, was du getrieben hast - er
selbst hat es mir ja erzählt. Hat mir von dem Iren erzählt, der
einen Schlüssel zu meinem eigenen gottverdammten Apartment hat. Und
dazu einen steifen Schwanz, den er in das Drecksluder steckt, das
sich meine Ehefrau schimpft. Scheiß auf euch alle - scheiß auch auf
deine Mutter, dass sie dich zu der verwöhnten Nutte gemacht hat,
die du bist!«
Ihren Morgenmantel raffend, erhob sich Maria mühsam
vom Fußboden. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst. Sie
steckte in bösen Schwierigkeiten, und ihr Vater, den sie gewöhnlich
so manipulierte, dass sie alles bekam, was sie wollte, war nicht
unbeteiligt daran.
John bemerkte ihren veränderten Gesichtsausdruck
und sagte höhnisch: »Scheiße, was für eine bist du bloß? Es gibt
jede Menge Nutten auf der Welt, die mehr Selbstachtung haben als
du. Ich hab dich geheiratet, und deswegen gehörst du jetzt mir, ob
es dir gefällt oder nicht. Du willst deinen Irenlümmel ficken, hä?
Den hab ich heute Morgen umgelegt. Erschossen hab ich den
Hundesohn. Jetzt weißt du, was du angerichtet hast. Endlich hast du
bekommen, was du heraufbeschworen hast. Und jetzt hör mir zu,
Maria, hör mir gut zu. Hier wird alles ganz anders werden. Ich werd
den Gürtel schwingen, wenn ich auch nur ahne, dass du einen anderen
Mann angesehen hast. Verflucht, ich bin Italiener, ein echter Mann,
Baby, und das solltest du nie vergessen!«
Maria starrte auf den Mann, mit dem sie vor nur
acht Monaten so pompös Hochzeit gefeiert hatte, und spürte ätzenden
Hass in sich aufsteigen.
»Niemals hast du Eamonn umgebracht, niemals!«, rief
sie erregt aus. »Du bist nicht Manns genug, um überhaupt jemanden
umzubringen. Mein Vater hat mich dir geschenkt - wir wohnen in
seinem Apartment, wir leben von seinem Geld. Wir gehören
ihm. Und wenn Eamonn und ich zu ihm gehen, dann wird er mir Eamonn
geben, so wie er mir alles, was ich wollte, gegeben hat, und das
mein Leben lang.«
John ging hinüber zu seiner Frau, die am
Eichenschrank in der Küche stand. Er schlug mit der Faust zu, aber
diesmal legte er sein ganzes Gewicht in den Schlag. Maria schrie,
als die Schläge auf sie niederprasselten. Sie hatte Todesangst. Als
er sie schließlich zu Boden warf und vergewaltigte, schluchzte sie
in verzweifeltem Entsetzen.
Er drängte und stieß erbarmungslos in sie hinein
und schrie sie dabei an: »Wie gefällt dir das, hä? Besser als der
Irenschwanz, ja? Schwanzsüchtig bist du, das hätte ich mir gleich
denken können. Keine Hundertdollarnutte versteht sich besser aufs
Bumsen als du, Baby.«
Als er spürte, dass es ihm kam, ließ er von ihr ab
und spritzte ihr seine Ladung über Gesicht und Haare. »Den Saft,
mit dem ich Kinder zeugen könnte, verschwende ich doch nicht
zwischen deinen Beinen, Dreckstück. Du bist nichts als eine Nutte.
Eine billige, dreckige Nutte.«
Bevor er aufstand, spuckte er ihr noch ins Gesicht.
Er sah hinunter auf seine Frau, einen Moment lang höchst befriedigt
über seinen Gewaltausbruch. Zumindest hatte er sie eingeschüchtert.
Und er hatte ihr fürs Erste die Aufmüpfigkeit ausgetrieben.
Er zurrte den Gürtel seiner Hose fest und brüllte:
»Wenn ich heute Abend nach Hause komme, steht das Essen auf dem
Tisch. Ich will, dass du hübsch angezogen bist, und ich will, dass
hier alles glänzt. Jetzt sieht’s ja aus wie im
Schweinestall.«
Maria lag auf dem Boden, eine Hand auf dem Gesicht.
Sie regte sich nicht, bis sie die Wohnungstür zufallen hörte. Ihr
Gesicht brannte von den Schlägen, und ihre Augen schwollen immer
weiter zu. Blut, mit Rotz gemischt, rann ihr über die Lippen.
Nachdem sie sich aufgerappelt hatte, schleppte sie
sich zum Telefon. Die große Panoramascheibe bot einen
atemberaubenden
Blick über Manhattan, aber die teuren weißen Möbelstücke im Raum
wirkten im Morgenlicht schmuddelig grau.
Maria ließ sich auf den dunkelbraunen
Flauschteppich sinken, hob den Telefonhörer ab und wählte die
Nummer ihres Vaters. Paul, den die hysterische Stimme seiner
Tochter aus dem Schlaf riss, schloss nochmal die Augen und
seufzte.
Petey war bei Eamonn in der Wohnung und erlebte
erstaunt, dass der andere Mann völlig die Fassung verloren hatte
und wie ein kleines Kind wegen einer jungen Hinterwäldlernutte aus
dem gottverlassenen Oklahoma schluchzte. Eamonn hatte darauf
bestanden, die Beerdigung des Mädchens zu bezahlen. Die Polizisten,
die bereits von den Mahoneys großzügig entlohnt wurden, hatten den
Schauplatz mit noch mehr Dollars in den Taschen und ohne weitere
Fragen zum Tod des unbekannten Mädchens verlassen. Die offizielle
Darstellung lautete jetzt, dass Schüsse aus einem vorbeifahrenden
Auto abgegeben worden waren, um einen Straßenraub einzuleiten.
Dabei sei das Mädchen versehentlich erschossen worden. So würde es
irgendwo im Lokalteil der New York Times gemeldet werden und
am nächsten Tag bereits wieder vergessen sein.
Petey servierte Eamonn Kaffee mit einem großzügigen
Schuss Whiskey. »Okay, du wärst beinahe getroffen worden«, sagte
er. »Wir müssen also herausfinden, wer hinter dir her ist, und
zuerst zuschlagen. Ist doch kein Ding.«
Eamonn blickte in Peteys Mondgesicht und schüttelte
den Kopf. »Sie war doch noch ein Kind, Petey. Ist es dir denn
völlig egal, dass sie sterben musste?«
Der andere Mann zuckte die Achseln. »Ehrlich
gesagt, ja. Mann, sie war ‘ne Nutte. Bei jedem neuen Freier hat sie
ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu
machen.«
Eamonn sah seinen Freund an, und weil er dessen
Worte gerne glauben wollte, nickte er zustimmend. Aber er allein
wusste,
dass er die Kleine als Schutzschild vor sich gezerrt hatte, damit
sie die für ihn bestimmte Kugel abfing. Aber das würde er niemals
jemandem eingestehen.
Peteys Stimme durchbrach seine Gedanken. »Wir
müssen rauskriegen, wer der Schütze war, okay? Das ist jetzt am
wichtigsten, denn du bist immer noch in Gefahr. Irgendwelche
Vermutungen? Bist du jemandem auf die Füße getreten? Hast du
irgendwelche Drohungen bekommen?«
Eamonn strich sich durch den dunklen Haarschopf und
schüttelte den Kopf. »Es kommen nur zwei Leute infrage: Marias
Vater, Paul Santorini, und ihr Mann, John Castellano. Das sind die
Einzigen, die mir nach dem Leben trachten könnten.«
Petey pfiff leise durch die Zähne. »Die Italiener
also, hm? Ich sollte die Geschichte Jack erzählen, ist vielleicht
besser so. Du kennst ihn ja. Er wird versuchen, es für dich zu
regeln. Für uns alle. Du weißt ja, wie diese Itaker sind - nehmen
alles gleich persönlich.«
Eamonn musste zustimmen, und langsam wurde ihm
klar, wie tief er in der Tinte saß.
Jack Mahoney würde toben.
Jack tobte bereits. Um Viertel vor sieben hatte er
einen Anruf von Paul Santorinis Nummer zwei bekommen, und der hatte
ihn informiert, was los war. Und jetzt sah es so aus, als würde er
einen seiner besten Männer verlieren, und zwar wegen eines
Weibsstücks. Was ihn mehr wurmte als alles andere. Dass Eamonn
eines Tages seine Tochter heiraten sollte, spielte keine Rolle:
Männer waren Männer, und eine Frau, die erwartete, dass ihr Mann
ihr treu blieb, war eine Närrin. Aber seine Töchter waren allesamt
Närrinnen, denn dafür hatte er selbst gesorgt. Wenn Santorini seine
Mädchen vernünftig erzogen hätte, wäre das alles gar nicht
passiert.
Das sprach er jedoch nicht aus. Er wusste sehr
wohl, dass man
die Italiener besser nicht herausforderte. Das konnte schnell zum
Krieg führen.
Jetzt waren sein Bruder und dieser irische
Heißsporn Eamonn auf dem Weg zu ihm, und er musste versuchen, sich
einen Reim auf den Vorfall zu machen. All das kam zum denkbar
schlechtesten Zeitpunkt, denn die Jungs vom FBI schnüffelten herum,
und die Steuerfahndung saß ihnen auch im Nacken. Jetzt musste er
sich mit den Italienern und mit der verfluchten Regierung
abplagen. Hinzu kam, dass sich sein Magengeschwür mit Macht
meldete.
John Castellano wollte vor dem Club am Broadway
gerade in sein Auto steigen, als er seinen Schwiegervater auf sich
zukommen sah.
Er wusste augenblicklich, dass ihm Ärger drohte.
Das Gesicht seines Schwiegervaters war wie versteinert, seine Augen
hinter dunklen Brillengläsern verborgen. Immer ein schlechtes
Zeichen. Johns Gruß erwiderte er nicht, und da bekam es John
schrecklich mit der Angst zu tun.
Als Pauls Handrücken mit Wucht sein Gesicht traf,
wollte John sich noch zur Wehr setzen, aber der ältere Mann war
stärker und hatte ein Zeichen zu setzen. Vor allen Umstehenden
schlug er wild auf seinen Schwiegersohn ein.
Die Rausschmeißer des Clubs sahen mit unbewegten
Mienen zu. Passanten blieben neugierig stehen. Eine Menschenmenge
bildete sich, als Paul Santorini seinen Schwiegersohn zu Tode
prügelte.
Auch als sein Opfer schon am Boden lag und um Gnade
flehte, prügelte Paul hemmungslos weiter. Mit Schlagringen an den
Fäusten hämmerte er auf das Gesicht des anderen Mannes, bis es
absolut nicht mehr zu erkennen war. Schließlich ließ er sich von
seinem Fahrer ein Stück Bleirohr geben und brachte die Sache zu
Ende.
Schwer atmend ordnete er seine Frisur, strich
seinen Anzug
glatt und ging ein wenig schwankend zu einer Stretchlimousine, die
am Bordstein parkte. Kaum war er eingestiegen, verschwand der Wagen
mit hoher Geschwindigkeit.
Die Menge zerstreute sich, als die Polizei eintraf.
Wie gewöhnlich hatte niemand etwas gesehen.
Die Rausschmeißer zuckten die Achseln und machten
sich wieder an die Arbeit. Der Mann, der dort blutüberströmt auf
dem Bauch lag, hatte ab jetzt nichts mehr mit ihnen zu tun. Es
interessierte nicht, dass John Castellano ihnen bis zu diesem
Moment die Gehälter gezahlt, sich nach ihren Familienangehörigen
erkundigt und Witze mit ihnen gerissen hatte.
Er war fertig, der König war tot.
Lang lebe der neue König, wer immer es sein
mochte.
Jack Mahoneys Miene sagte alles, als er den Anruf
von seinem Informanten auf der Straße entgegennahm. Dann legte er
den Hörer auf und seufzte entnervt.
»Castellano ist tot, vor einer Stunde auf dem
Broadway von seinem Schwiegervater eigenhändig erschlagen. Ich kann
es immer noch nicht fassen, dass du so bescheuert warst, die
Tochter eines Mafia-Capos zu bumsen! Dir reichen die Massen von
willigen Weibern in New York nicht, nein, du musst dir eine
Mafiaprinzessin aussuchen!«
Petey hätte beinahe laut losgelacht, aber schon
sein leises Prusten brachte ihm den geballten Zorn seines Bruders
ein.
»Du findest das witzig, hä? Du findest es amüsant?
Du willst es mit Paul Santorini aufnehmen, ist es das? Meinetwegen
darfst du gerne versuchen, wegen dieser Sache zu verhandeln,
kleiner Bruder. Brauchst es verdammt nur zu sagen. Wenn unser
gemeinsamer Freund hier noch eine Weile leben soll, gibt es eine
Menge zu tun. Das kannst du mir glauben. Santorini hat das Gesicht
verloren, ihr zwei Idioten. Jetzt hat er auch noch die Beherrschung
verloren, und das heißt, der Zorn Gottes fährt auf euch nieder.
Ahnt ihr überhaupt, wie ernst dieser ganze Schlamassel ist?«
Eamonn, der sich wie ein vom Direktor abgekanzelter
Schuljunge vorkam, stand auf. »Ich werde zu ihm hingehen und
versuchen, ihn …«
Jack Mahoney stützte das Gesicht in die Hände und
lachte bitter. »Da höre sich einer diesen verdammten Iren an!
Eamonn, wenn du ihm auch nur unter die Augen kommst, bist du ein
toter Mann. Ich will dir eins sagen: Hoffentlich war die Schnalle
das alles wert, wirklich, denn da müssten aus ihrer Fotze schon
Diamanten kullern, bevor ich mein Leben für so eine aufs Spiel
setzen würde.«
Die drei Männer sahen einander schweigend an.
Schließlich durchbrach Petey die Stille.
»Wir warten, bis er sich bei uns meldet. Mehr
können wir nicht tun. Jack hat Recht. Wenn du zu ihm gehst, Eamonn,
reizt du ihn nur noch mehr. Ich hatte den ganzen Tag lang Männer
auf der Straße, die rauskriegen sollten, was abgeht, aber das ist
schwierig. Die Italiener halten sich bedeckt. Warten wir ab, was
Santorini als Nächstes macht, und sehen dann weiter.«
Fünf Minuten später klingelte das Telefon, und sie
wurden anonym informiert, dass auf ihren Club in Harlem ein
Brandanschlag verübt worden war.
Der Ball war ins Rollen gebracht.
Weniger als eine Stunde später wurde ihnen durch
einen weiteren Anruf verkündet, dass sechzehn ihrer Lastwagen
fahruntüchtig im Depot in Queens standen und die Fahrer allesamt
nach Hause geschickt worden waren. Daraufhin verließen die drei
Männer Jacks Haus und machten sich auf den Weg zum Depot am
Flussufer. Wenn sie umgebracht würden, dann sollte es zumindest
weitab von Familie und Freunden geschehen.
Jack schäumte vor Wut auf die Italiener, aber auch
auf Eamonn. »Die ganze Scheiße wegen einem verdammten Fick!«, waren
die Worte, die sie wieder und wieder zu hören bekamen. Allmählich
schlug sich Petey auf die Seite seines Bruders. Die ganze Scheiße
nur wegen einer Frau, das war doch wohl übertrieben
- zumal es noch nicht mal eine irische und auch keine schwarze
Muschi war.
Paul Santorini beruhigte sich allmählich. Im
Ravenite Club trank er einige Grappa und wartete darauf, dass sein
Opfer endlich aufgespürt war. Er wusste, dass er unter seinen
Kumpanen bereits zum Gespött geworden war, obwohl sie niemals
gewagt hätten, es sich innerhalb der vier Wände seines Clubs
anmerken zu lassen. Er wusste auch, dass man ihm bereits eine
schwache Hand nachsagte: Die ganz speziellen Aktivitäten seiner
Tochter waren überall in Little Italy Tagesgespräch gewesen. Wie er
jetzt erst erfuhr, hatte sie sich schon lange nicht um ihren Ruf
geschert und sogar ihre Männerbekanntschaften in diesen Club
ausgeführt.
Allein deswegen hätte er sie am liebsten
erwürgt.
Er wusste, was draußen geredet wurde, und auf
gewisse Weise stimmte er damit überein. Aber, guter Gott, Maria war
jetzt Witwe, und er würde dafür sorgen, dass sie für ihre Hurerei
Buße tat. Paul hatte vor, sie in die strikte Obhut seines Cousins
Carlos zu geben, eines Familienvaters und Mobmitglieds von minderem
Rang. Er würde sie bei sich in Las Vegas aufnehmen - zum
entsprechenden Preis. Paul wollte sie nie mehr wiedersehen. Das
würde er durchhalten, und wenn es die letzte Tat seines Lebens sein
sollte.
Sein Don hatte ein Treffen noch am selben Abend bei
sich zu Hause verlangt. Paul wusste, dass er Ärger zu erwarten
hatte, und war deswegen noch angespannter.
Die Mafia war seine erweiterte Familie, sein Don
deren Oberhaupt. Eines wusste er genau: Wenn er ein Interesse
hatte, sich dessen Wohlwollen und, wichtiger noch, das eigene Leben
zu erhalten, musste er den Schwanz einziehen und dem Mann exakt das
sagen, was er hören wollte. Er hatte nämlich eine Kardinalregel
verletzt und eine persönliche Rechnung auf offener Straße vor
Augenzeugen beglichen.
Das würde sein Don so schnell nicht
verzeihen.
Paul schloss die Augen und sah seine Maria als
kleines Mädchen vor sich, mit ihren wunderschönen Augen und dem
schimmernden Haar. Sie war zu einer sinnlichen Frau herangewachsen,
zu einer Hure von Frau, und jetzt musste er die Konsequenzen dafür
tragen, dass er sie so abgöttisch liebte.
Paul Santorinis Don hieß Pietro DeMarco. Er war
von kleiner Gestalt, siebzig Jahre alt und hielt sich fit, indem er
in einem Kraftraum trainierte, den er in seinem Büro an der Eighth
Avenue eingerichtet hatte. Er kleidete sich wie ein Bauer, trug
stets eine Schiebermütze und einen Schal. Auf der Straße benahm er
sich wie ein Trottel, redete mit jedermann und bauschte alle
möglichen Kleinigkeiten zu großen Problemen auf.
Damit schützte er sich vor jedem Verdacht.
Anders als die jungen Männer kleidete er sich nicht
wie ein Komparse aus »Der Pate«. Er wusste, wie wichtig es war, im
Hintergrund zu blieben. Das hatte ihn fünfzig Jahre in Amerika
überleben lassen und entscheidend dazu beigetragen, dass er vor
zwanzig Jahren zum Don gewählt worden war. Das FBI hatte immer
wieder versucht, ihm kriminelle Aktivitäten nachzuweisen, und hatte
ebenso oft sämtliche Anschuldigungen fallenlassen müssen.
Jetzt war Don Pietro übel gelaunt.
Einer seiner bevorzugten Capos hatte sich ein so
schwerwiegendes Fehlverhalten zuschulden kommen lassen, dass er ihn
zum Gespräch hatte einbestellen müssen. Um ihn sich zur Brust zu
nehmen. Allein das machte den Don ungnädig.
Er hatte Paul Santorini immer geachtet, hatte ihn
sogar gemocht. Er kannte all das Gerede über Santorinis Tochter.
Als Mann, der nur Söhne hatte, verstand er durchaus, warum ein
Vater eine Tochter zu sehr lieben konnte.
Es lag in der menschlichen Natur.
Aber diese Tochter war, wenn die Geschichten
stimmten, keine ehrbare Frau.
Jetzt bahnten sich Probleme mit den Iren an, und
eben das wünschte der Don nicht. Mit ihnen war nicht zu spaßen, und
gegenwärtig trieben sie Geld für einen unverständlichen Krieg in
ihrer Heimat ein. Sogar die britische Armee dort drüben hatte
Schwierigkeiten, sie im Zaum zu halten. Diese Iren waren geborene
Kämpfer, und Don Pietro wollte es nicht wegen einer Frau zur
Auseinandersetzung mit ihnen kommen lassen.
Der Frieden zwischen den verschiedenen
Nationalitäten hatte sich zum Wohle aller ausgewirkt. Jetzt bestand
Gefahr, dass es zum offenen Krieg kam, und wenn der sich in den
Straßen von New York ausbreitete, konnte es passieren, dass
Chinesen und andere Immigranten beschlossen, dabei
mitzumischen.
Paul hätte zu ihm kommen müssen, wie es
normalerweise gehandhabt wurde. Stattdessen warteten jetzt alle
darauf, ob die Welt, wie man sie bisher kannte, in ihren
Grundfesten erschüttert worden war. Insgesamt eine höchst unschöne
und dazu lästige Situation.
Don Pietro fühlte seinen Puls, wie er es seit
einigen Jahren gewohnheitsmäßig tat. Er hatte damals Herzprobleme
befürchtet, aber wie sich herausstellte, handelte es sich nur um
Verdauungsstörungen. Die Angst vor einer Herzattacke war er jedoch
nie ganz losgeworden. Er atmete tief durch und wartete auf Pauls
Ankunft. Don Pietro wusste, dass er bald kommen würde. Einen
direkten Befehl zu missachten war mehr, als er sich getraut
hätte.
Er hatte in Paul seinen Nachfolger gesehen; jetzt
würde er sich woanders umschauen müssen. Die Männer würden hiervon
hören, und ihr Respekt würde schwinden.
Es sei denn, er griff zu gewissen Maßnahmen, um dem
zuvorzukommen.