Kapitel dreiundzwanzig
Eamonns Augen waren blutunterlaufen und rotgerändert. Im Waschraum warf er einen Blick in den Spiegel und schnitt eine Grimasse. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund und wusste, dass er mindestens genauso schlimm aus dem Hals roch. Er zog einen Kaugummi hervor und kaute einen Augenblick darauf herum. Der erfrischende Pfefferminzgeschmack regte den Speichelfluss an. Er bespritzte das Gesicht unter dem Kaltwasserhahn und versuchte wach zu werden. Gleichzeitig setzten dumpf pochende Kopfschmerzen ein.
Nie wieder.
Bei dem Gedanken musste er grinsen. Es war dasselbe gewesen wie immer. Er betrank sich, betrank sich sinnlos, immer wenn er mit Petey einen draufmachte, und die letzte Nacht war keine Ausnahme gewesen.
Nach ein paar Drinks und dem Essen im Restaurant Stakis am Broadway waren sie weitergezogen in eine Topless-Bar ein paar Blocks östlich. Die Mädchen waren hässlich, die Drinks flossen reichlich, und wann geschlossen wurde, war Verhandlungssache. Er hatte den Verführungskünsten einer Rothaarigen mit Brüsten wie Betonklötzen widerstanden und war schließlich besinnungslos auf seinem Sessel zusammengesunken.
Als die Putzkolonne vor zehn Minuten angerückt war, hatte er die Augen aufgeschlagen. Petey lag auf dem Boden neben einer Schwarzen mit blondem Haar, ohne Brüste und mit Hasenzähnen. Er blieb seinem Typ eben treu.
Nachdem er sich einigermaßen hergerichtet hatte, ging Eamonn in den Club zurück. Es stank nach Zigarettenqualm, Testosteron und Mundgeruch. Petey schlief selig und sah dabei mit seinem entspannt lächelnden Gesicht wie das irische Landei aus, das er ja auch war. Eamonn bemerkte angeekelt, dass die Frau sich nass gemacht hatte. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass seine Brieftasche noch da war, verließ er die Bar und trat hinaus ins grelle Morgenlicht, das seinen Augen wehtat.
Er ging nach rechts um die Ecke und huschte in ein Schnellrestaurant am Broadway, um einen Kaffee zu trinken und einen Happen zu frühstücken, bevor er sich ein Taxi nahm. Um halb sechs Uhr morgens waren bereits allerhand Leute unterwegs. Er bestellte einen großen Kaffee und ein Plunderstück, außerdem Spiegeleier, gewendet, und Pfannkuchen. Er brauchte dringend etwas Festes im Magen, der vom vielen Alkohol revoltierte.
Während er aß, dachte er an Maria, seinen Job und Deirdra. Aber das dauerte nur, bis eine scharfe kleine Mieze in kurzem Rock, mit verwischtem Lidschatten und einem bunten Kaftan hereinkam. Schon nach fünf Minuten hatte er sie zum Frühstück eingeladen und hörte sich ihre kurze Lebensgeschichte an.
Zumindest die sorgfältig zensierte Version.
Er wusste gleich, dass sie auf den Strich ging. Man sah es ihr bereits an, obwohl sie doch erst achtzehn war. Es stand in ihren Augen, die bei aller staunenden Offenheit doch argwöhnisch und unergründlich wirkten, als wüssten sie etwas, was sonst niemand wusste. Wenn Petey sie zu Gesicht bekam, würde er für sie leicht einen Einsatzort finden, und dann verdienten sie alle. Er eingeschlossen.
Was seine Tätigkeiten betraf, kannte Eamonn keine Skrupel und hatte schon vor langer Zeit die Absicht aufgegeben, ein normales Leben zu führen. Damit war einfach kein Geld zu machen.
 
John Castellano war die ganze Nacht wach gewesen und hatte mit einer Knarre und einem Paar Handschellen vor dem Haus seines Rivalen an der Lower East Side gewartet. Außerdem spürte er brennende Wut in den Eingeweiden, die ihn jeden Moment zu zerreißen drohte.
Immer wenn er sich seine Frau mit diesem Mann vorstellte, überkam ihn pure Mordlust. Maria sei nichts vorzuwerfen, hatte ihm ihr Vater gesagt. Sie sei verhext worden von diesem Iren, dieses naive katholische Mädchen, erzogen, den Menschen zu vertrauen und in ihnen nur das Gute zu sehen. Jetzt hatte dieser Mann ihren Schatz, das reine Geschöpf, besudelt. Sie war zu weltfremd gewesen, um zu durchschauen, was mit ihr geschah. Docherty hatte sie obendrein umgarnt, ihm einen Wohnungsschlüssel zu überlassen.
Der Schwiegervater war überrascht gewesen, dass der Ehemann seiner Tochter tatsächlich alles zu schlucken schien, was er ihm auftischte, und John war diese Überraschung auch irgendwie aufgefallen. Er wusste insgeheim, bei wem die Schuld wirklich lag, aber er liebte seine Maria, und es war so viel leichter, diesen irischen Hundesohn zu verfluchen!
Ingrimmig knirschte John mit den Zähnen. Er hatte gehofft, sein Opfer auf Anhieb zu finden, aber Docherty war gar nicht so leicht zu erwischen.
Nun, John war ein Mann mit Geduld. Er konnte warten. Er würde seine Beute aufspüren, und wenn es seine letzte Tat sein sollte. Er steckte sich eine Zigarette an, machte es sich in seinem Auto bequem und beobachtete den Eingang zum Apartmenthaus seines Feindes. Er würde den Iren umpusten und dabei laut lachen. Dieser Gedanke besserte sofort seine Laune.
 
Cara Bowman war eigentlich siebzehn, noch keine achtzehn, und schon fast ein Jahr lang auf den Strich gegangen. Sie war aus einer kleinen Stadt in Oklahoma ausgerissen und im Big Apple mit dreißig Dollar und einem Koffer mit unmöglichen Klamotten angekommen. Kaum acht Stunden, nachdem sie aus dem Bus gestiegen war, hatte sie ihren ersten Freier bedient.
Aufgenommen von einem schwarzen Zuhälter namens Alphonse hatte sie sehr bald zu spüren bekommen, wie hässlich das Leben in New York sein konnte, wenn man kein Geld, keine Familie und keine hilfreichen Freunde hatte.
Die Bekanntschaft mit diesem Eamonn würde all das ändern. Er hatte ihr einen Job versprochen - einen guten Job, bei dem sie ihr Geld auf angenehme Weise verdienen würde und der ihr ermöglichte, eine akzeptable Wohnung zu mieten. Sie war noch immer unverbraucht und tatkräftig genug, um sich ein Leben in New York aufzubauen. Sie würde Geld sparen, sich weiterbilden, versuchen, etwas aus sich zu machen.
Nach Hause zurückkehren konnte sie ganz sicher nicht.
Im Gespräch mit dem Mann neben ihr öffnete sie sich vertrauensvoll. Brachte ihn zum Lachen. Es kam ihr eher wie ein Date mit ihm vor, und das gefiel ihr. Er sprach respektvoll mit ihr und hörte sich an, was sie zu sagen hatte. Das Beste war jedoch, dass er sie nicht einziges Mal berührte. Die meisten Männer mussten sie betatschen, und wenn es nur ihr Gesicht war, ihr Arm oder ihr Bein.
Dieser Mann war anders. Trotz seines zerknautschten Anzugs, des Bartschattens um sein markantes Kinn und der rotgeränderten Augen erkannte sie in ihm jemanden, der Klasse hatte. Seine goldene Uhr, sein sorgfältig geschnittenes Haar und seine handgemachten Schuhe sagten ihr alles, was sie wissen musste.
Ihr war durchaus klar, dass er ihr einen Job als Hure bot, aber zumindest würde sie dann mit Stil anschaffen. Hübsche Kleider, eine hübsche Wohnung, ein hübsches Leben. Es klang paradiesisch.
Als sie das Restaurant verließen und in ein Taxi stiegen, regte sich bei ihr zum ersten Mal seit Monaten die Hoffnung, das Leben habe ihr vielleicht doch noch etwas zu bieten. Sie schob die Hand in seine und merkte, wie er sich ganz kurz verkrampfte. Als sie ihn ansah, bemerkte sie etwas Gequältes, Mattes und Angespanntes in seinem Gesicht, das ihr Mitleid erweckte.
»Sind Sie okay?« Ihr breiter Akzent ließ die Frage unaufdringlich klingen.
Er lächelte sie bekümmert an. »Du bist ein sehr liebes Mädchen.« Und dann wurde ihm blitzartig klar: Mit ihrer zierlichen Gestalt und dem blonden Haar erinnerte sie ihn an Cathy. Sie besaß zudem denselben misstrauisch wachen Blick, vermittelte dieselbe kämpferische Haltung. Er schloss die Augen und strich ihr übers Haar. Sie fühlte sich sogar genauso an wie Cathy. Seine Cathy.
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, und er bemerkte den Geruch der Straße: Fastfood, billiges Parfüm und Zigarettenrauch. Sie roch wie eine Nutte. Dieser Gedanke machte ihn unruhig.
Wie mochte es Cathy gehen? War sie drüben auf der anderen Seite des Atlantiks in derselben Lage? Bedienten sich fremde Männer ihres Körpers und taten damit, was ihnen gefiel, nur um einer kurzen Befriedigung willen? Es schauderte ihn.
Als sie an seinem Apartmenthaus an der Third Avenue vorfuhren, tat es Eamonn bereits leid, das Mädchen zu sich nach Hause eingeladen zu haben. Sie erinnerte ihn daran, was er verloren hatte, was er benutzt hatte und missbraucht. Sie erinnerte ihn an sein vorheriges Leben in London, und allmählich war sie ihm deswegen zuwider.
Er zahlte das Taxi und sah auf der anderen Straßenseite ein Schimmern von Metall im Sonnenlicht, als eine Waffe durch das geöffnete Seitenfester des Buick Cabrio geschoben wurde, der am Feuerhydranten parkte.
Als das Mündungsfeuer aufblitzte, zog Eamonn das Mädchen an sich.
Es war in Sekundenbruchteilen vorüber. Der Wagen raste mit kreischenden Reifen vom Bordstein davon, das Taxi verschwand hinter der Straßenecke, und Cara Bowman lag mit weggeschossenem Hinterkopf in Eamonns Armen.
Maria beobachtete ihren Mann, der eine Tasse Kaffee trank und sich abermals eine Zigarette anzündete.
»Was ist los mit dir?«, fragte sie gehässig. »Du bleibst die ganze Nacht weg, kommst heute Morgen wieder wie ein waidwunder Bär, und ich krieg kein vernünftiges Wort aus dir raus. Du verdirbst mir echt die Laune.«
Ihre raue Stimme klang schriller als gewöhnlich. Ohne Make-up war ihr Gesicht ganz und gar nicht makellos. Das grelle Licht machte die geplatzten Äderchen auf ihren Wangen und die gelbliche Blässe ihres sizilianischen Teints deutlich sichtbar. John sah seine Frau, wie sie wirklich war. Ihr Schandmaul, ihre Launenhaftigkeit, ihre Selbstsucht, all das wurde ihm zum ersten Mal bewusst, als er sie jetzt ansah.
»Halt dein dreckiges Maul, Maria.«
Bei diesen Worten erstarrte ihr Gesicht vor Entsetzen. »Was hast du gerade gesagt?«, zischte sie.
Ihr Mann schloss die Augen und antwortete unwirsch und bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich sagte, halt dein dreckiges Maul. Ständig muss ich mir dein Geschwätz anhören. Als wärst du eine öde Langspielplatte. Jetzt halt das Maul, Maria, bevor ich dir wirklich Grund zum Jammern gebe.«
Unter schweren Lidern sah John Castellano sie an. Maria nahm ihn plötzlich so wahr, wie eine andere Frau ihn vielleicht hätte sehen können. Wenn er die Richtige geheiratet hätte, wäre er möglicherweise ein guter Ehemann geworden. Und ein guter Vater.
Sie konnte nicht an sich halten. »Leck mich doch, du Arschloch!«, keifte sie. »Wenn mein Vater wüsste, dass du so mit mir …«
Seine Hand traf sie unterm Auge, ein ungezielter Schlag, der jedoch so heftig war, dass sie vom Stuhl fiel. Als sie rücklings auf dem Boden lag, sah er, dass sie unter ihrem Morgenmantel nackt war, und zum ersten Mal weckte ihre Nacktheit kein Begehren in ihm.
Sie ekelte ihn an.
»Scheiß auf dich, Miststück, und scheiß auch auf deinen gottverdammten Vater. Ich weiß, was du getrieben hast - er selbst hat es mir ja erzählt. Hat mir von dem Iren erzählt, der einen Schlüssel zu meinem eigenen gottverdammten Apartment hat. Und dazu einen steifen Schwanz, den er in das Drecksluder steckt, das sich meine Ehefrau schimpft. Scheiß auf euch alle - scheiß auch auf deine Mutter, dass sie dich zu der verwöhnten Nutte gemacht hat, die du bist!«
Ihren Morgenmantel raffend, erhob sich Maria mühsam vom Fußboden. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst. Sie steckte in bösen Schwierigkeiten, und ihr Vater, den sie gewöhnlich so manipulierte, dass sie alles bekam, was sie wollte, war nicht unbeteiligt daran.
John bemerkte ihren veränderten Gesichtsausdruck und sagte höhnisch: »Scheiße, was für eine bist du bloß? Es gibt jede Menge Nutten auf der Welt, die mehr Selbstachtung haben als du. Ich hab dich geheiratet, und deswegen gehörst du jetzt mir, ob es dir gefällt oder nicht. Du willst deinen Irenlümmel ficken, hä? Den hab ich heute Morgen umgelegt. Erschossen hab ich den Hundesohn. Jetzt weißt du, was du angerichtet hast. Endlich hast du bekommen, was du heraufbeschworen hast. Und jetzt hör mir zu, Maria, hör mir gut zu. Hier wird alles ganz anders werden. Ich werd den Gürtel schwingen, wenn ich auch nur ahne, dass du einen anderen Mann angesehen hast. Verflucht, ich bin Italiener, ein echter Mann, Baby, und das solltest du nie vergessen!«
Maria starrte auf den Mann, mit dem sie vor nur acht Monaten so pompös Hochzeit gefeiert hatte, und spürte ätzenden Hass in sich aufsteigen.
»Niemals hast du Eamonn umgebracht, niemals!«, rief sie erregt aus. »Du bist nicht Manns genug, um überhaupt jemanden umzubringen. Mein Vater hat mich dir geschenkt - wir wohnen in seinem Apartment, wir leben von seinem Geld. Wir gehören ihm. Und wenn Eamonn und ich zu ihm gehen, dann wird er mir Eamonn geben, so wie er mir alles, was ich wollte, gegeben hat, und das mein Leben lang.«
John ging hinüber zu seiner Frau, die am Eichenschrank in der Küche stand. Er schlug mit der Faust zu, aber diesmal legte er sein ganzes Gewicht in den Schlag. Maria schrie, als die Schläge auf sie niederprasselten. Sie hatte Todesangst. Als er sie schließlich zu Boden warf und vergewaltigte, schluchzte sie in verzweifeltem Entsetzen.
Er drängte und stieß erbarmungslos in sie hinein und schrie sie dabei an: »Wie gefällt dir das, hä? Besser als der Irenschwanz, ja? Schwanzsüchtig bist du, das hätte ich mir gleich denken können. Keine Hundertdollarnutte versteht sich besser aufs Bumsen als du, Baby.«
Als er spürte, dass es ihm kam, ließ er von ihr ab und spritzte ihr seine Ladung über Gesicht und Haare. »Den Saft, mit dem ich Kinder zeugen könnte, verschwende ich doch nicht zwischen deinen Beinen, Dreckstück. Du bist nichts als eine Nutte. Eine billige, dreckige Nutte.«
Bevor er aufstand, spuckte er ihr noch ins Gesicht. Er sah hinunter auf seine Frau, einen Moment lang höchst befriedigt über seinen Gewaltausbruch. Zumindest hatte er sie eingeschüchtert. Und er hatte ihr fürs Erste die Aufmüpfigkeit ausgetrieben.
Er zurrte den Gürtel seiner Hose fest und brüllte: »Wenn ich heute Abend nach Hause komme, steht das Essen auf dem Tisch. Ich will, dass du hübsch angezogen bist, und ich will, dass hier alles glänzt. Jetzt sieht’s ja aus wie im Schweinestall.«
Maria lag auf dem Boden, eine Hand auf dem Gesicht. Sie regte sich nicht, bis sie die Wohnungstür zufallen hörte. Ihr Gesicht brannte von den Schlägen, und ihre Augen schwollen immer weiter zu. Blut, mit Rotz gemischt, rann ihr über die Lippen.
Nachdem sie sich aufgerappelt hatte, schleppte sie sich zum Telefon. Die große Panoramascheibe bot einen atemberaubenden Blick über Manhattan, aber die teuren weißen Möbelstücke im Raum wirkten im Morgenlicht schmuddelig grau.
Maria ließ sich auf den dunkelbraunen Flauschteppich sinken, hob den Telefonhörer ab und wählte die Nummer ihres Vaters. Paul, den die hysterische Stimme seiner Tochter aus dem Schlaf riss, schloss nochmal die Augen und seufzte.
 
Petey war bei Eamonn in der Wohnung und erlebte erstaunt, dass der andere Mann völlig die Fassung verloren hatte und wie ein kleines Kind wegen einer jungen Hinterwäldlernutte aus dem gottverlassenen Oklahoma schluchzte. Eamonn hatte darauf bestanden, die Beerdigung des Mädchens zu bezahlen. Die Polizisten, die bereits von den Mahoneys großzügig entlohnt wurden, hatten den Schauplatz mit noch mehr Dollars in den Taschen und ohne weitere Fragen zum Tod des unbekannten Mädchens verlassen. Die offizielle Darstellung lautete jetzt, dass Schüsse aus einem vorbeifahrenden Auto abgegeben worden waren, um einen Straßenraub einzuleiten. Dabei sei das Mädchen versehentlich erschossen worden. So würde es irgendwo im Lokalteil der New York Times gemeldet werden und am nächsten Tag bereits wieder vergessen sein.
Petey servierte Eamonn Kaffee mit einem großzügigen Schuss Whiskey. »Okay, du wärst beinahe getroffen worden«, sagte er. »Wir müssen also herausfinden, wer hinter dir her ist, und zuerst zuschlagen. Ist doch kein Ding.«
Eamonn blickte in Peteys Mondgesicht und schüttelte den Kopf. »Sie war doch noch ein Kind, Petey. Ist es dir denn völlig egal, dass sie sterben musste?«
Der andere Mann zuckte die Achseln. »Ehrlich gesagt, ja. Mann, sie war ‘ne Nutte. Bei jedem neuen Freier hat sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.«
Eamonn sah seinen Freund an, und weil er dessen Worte gerne glauben wollte, nickte er zustimmend. Aber er allein wusste, dass er die Kleine als Schutzschild vor sich gezerrt hatte, damit sie die für ihn bestimmte Kugel abfing. Aber das würde er niemals jemandem eingestehen.
Peteys Stimme durchbrach seine Gedanken. »Wir müssen rauskriegen, wer der Schütze war, okay? Das ist jetzt am wichtigsten, denn du bist immer noch in Gefahr. Irgendwelche Vermutungen? Bist du jemandem auf die Füße getreten? Hast du irgendwelche Drohungen bekommen?«
Eamonn strich sich durch den dunklen Haarschopf und schüttelte den Kopf. »Es kommen nur zwei Leute infrage: Marias Vater, Paul Santorini, und ihr Mann, John Castellano. Das sind die Einzigen, die mir nach dem Leben trachten könnten.«
Petey pfiff leise durch die Zähne. »Die Italiener also, hm? Ich sollte die Geschichte Jack erzählen, ist vielleicht besser so. Du kennst ihn ja. Er wird versuchen, es für dich zu regeln. Für uns alle. Du weißt ja, wie diese Itaker sind - nehmen alles gleich persönlich.«
Eamonn musste zustimmen, und langsam wurde ihm klar, wie tief er in der Tinte saß.
Jack Mahoney würde toben.
 
Jack tobte bereits. Um Viertel vor sieben hatte er einen Anruf von Paul Santorinis Nummer zwei bekommen, und der hatte ihn informiert, was los war. Und jetzt sah es so aus, als würde er einen seiner besten Männer verlieren, und zwar wegen eines Weibsstücks. Was ihn mehr wurmte als alles andere. Dass Eamonn eines Tages seine Tochter heiraten sollte, spielte keine Rolle: Männer waren Männer, und eine Frau, die erwartete, dass ihr Mann ihr treu blieb, war eine Närrin. Aber seine Töchter waren allesamt Närrinnen, denn dafür hatte er selbst gesorgt. Wenn Santorini seine Mädchen vernünftig erzogen hätte, wäre das alles gar nicht passiert.
Das sprach er jedoch nicht aus. Er wusste sehr wohl, dass man die Italiener besser nicht herausforderte. Das konnte schnell zum Krieg führen.
Jetzt waren sein Bruder und dieser irische Heißsporn Eamonn auf dem Weg zu ihm, und er musste versuchen, sich einen Reim auf den Vorfall zu machen. All das kam zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, denn die Jungs vom FBI schnüffelten herum, und die Steuerfahndung saß ihnen auch im Nacken. Jetzt musste er sich mit den Italienern und mit der verfluchten Regierung abplagen. Hinzu kam, dass sich sein Magengeschwür mit Macht meldete.
 
John Castellano wollte vor dem Club am Broadway gerade in sein Auto steigen, als er seinen Schwiegervater auf sich zukommen sah.
Er wusste augenblicklich, dass ihm Ärger drohte. Das Gesicht seines Schwiegervaters war wie versteinert, seine Augen hinter dunklen Brillengläsern verborgen. Immer ein schlechtes Zeichen. Johns Gruß erwiderte er nicht, und da bekam es John schrecklich mit der Angst zu tun.
Als Pauls Handrücken mit Wucht sein Gesicht traf, wollte John sich noch zur Wehr setzen, aber der ältere Mann war stärker und hatte ein Zeichen zu setzen. Vor allen Umstehenden schlug er wild auf seinen Schwiegersohn ein.
Die Rausschmeißer des Clubs sahen mit unbewegten Mienen zu. Passanten blieben neugierig stehen. Eine Menschenmenge bildete sich, als Paul Santorini seinen Schwiegersohn zu Tode prügelte.
Auch als sein Opfer schon am Boden lag und um Gnade flehte, prügelte Paul hemmungslos weiter. Mit Schlagringen an den Fäusten hämmerte er auf das Gesicht des anderen Mannes, bis es absolut nicht mehr zu erkennen war. Schließlich ließ er sich von seinem Fahrer ein Stück Bleirohr geben und brachte die Sache zu Ende.
Schwer atmend ordnete er seine Frisur, strich seinen Anzug glatt und ging ein wenig schwankend zu einer Stretchlimousine, die am Bordstein parkte. Kaum war er eingestiegen, verschwand der Wagen mit hoher Geschwindigkeit.
Die Menge zerstreute sich, als die Polizei eintraf. Wie gewöhnlich hatte niemand etwas gesehen.
Die Rausschmeißer zuckten die Achseln und machten sich wieder an die Arbeit. Der Mann, der dort blutüberströmt auf dem Bauch lag, hatte ab jetzt nichts mehr mit ihnen zu tun. Es interessierte nicht, dass John Castellano ihnen bis zu diesem Moment die Gehälter gezahlt, sich nach ihren Familienangehörigen erkundigt und Witze mit ihnen gerissen hatte.
Er war fertig, der König war tot.
Lang lebe der neue König, wer immer es sein mochte.
 
Jack Mahoneys Miene sagte alles, als er den Anruf von seinem Informanten auf der Straße entgegennahm. Dann legte er den Hörer auf und seufzte entnervt.
»Castellano ist tot, vor einer Stunde auf dem Broadway von seinem Schwiegervater eigenhändig erschlagen. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du so bescheuert warst, die Tochter eines Mafia-Capos zu bumsen! Dir reichen die Massen von willigen Weibern in New York nicht, nein, du musst dir eine Mafiaprinzessin aussuchen!«
Petey hätte beinahe laut losgelacht, aber schon sein leises Prusten brachte ihm den geballten Zorn seines Bruders ein.
»Du findest das witzig, hä? Du findest es amüsant? Du willst es mit Paul Santorini aufnehmen, ist es das? Meinetwegen darfst du gerne versuchen, wegen dieser Sache zu verhandeln, kleiner Bruder. Brauchst es verdammt nur zu sagen. Wenn unser gemeinsamer Freund hier noch eine Weile leben soll, gibt es eine Menge zu tun. Das kannst du mir glauben. Santorini hat das Gesicht verloren, ihr zwei Idioten. Jetzt hat er auch noch die Beherrschung verloren, und das heißt, der Zorn Gottes fährt auf euch nieder. Ahnt ihr überhaupt, wie ernst dieser ganze Schlamassel ist?«
Eamonn, der sich wie ein vom Direktor abgekanzelter Schuljunge vorkam, stand auf. »Ich werde zu ihm hingehen und versuchen, ihn …«
Jack Mahoney stützte das Gesicht in die Hände und lachte bitter. »Da höre sich einer diesen verdammten Iren an! Eamonn, wenn du ihm auch nur unter die Augen kommst, bist du ein toter Mann. Ich will dir eins sagen: Hoffentlich war die Schnalle das alles wert, wirklich, denn da müssten aus ihrer Fotze schon Diamanten kullern, bevor ich mein Leben für so eine aufs Spiel setzen würde.«
Die drei Männer sahen einander schweigend an. Schließlich durchbrach Petey die Stille.
»Wir warten, bis er sich bei uns meldet. Mehr können wir nicht tun. Jack hat Recht. Wenn du zu ihm gehst, Eamonn, reizt du ihn nur noch mehr. Ich hatte den ganzen Tag lang Männer auf der Straße, die rauskriegen sollten, was abgeht, aber das ist schwierig. Die Italiener halten sich bedeckt. Warten wir ab, was Santorini als Nächstes macht, und sehen dann weiter.«
Fünf Minuten später klingelte das Telefon, und sie wurden anonym informiert, dass auf ihren Club in Harlem ein Brandanschlag verübt worden war.
Der Ball war ins Rollen gebracht.
Weniger als eine Stunde später wurde ihnen durch einen weiteren Anruf verkündet, dass sechzehn ihrer Lastwagen fahruntüchtig im Depot in Queens standen und die Fahrer allesamt nach Hause geschickt worden waren. Daraufhin verließen die drei Männer Jacks Haus und machten sich auf den Weg zum Depot am Flussufer. Wenn sie umgebracht würden, dann sollte es zumindest weitab von Familie und Freunden geschehen.
Jack schäumte vor Wut auf die Italiener, aber auch auf Eamonn. »Die ganze Scheiße wegen einem verdammten Fick!«, waren die Worte, die sie wieder und wieder zu hören bekamen. Allmählich schlug sich Petey auf die Seite seines Bruders. Die ganze Scheiße nur wegen einer Frau, das war doch wohl übertrieben - zumal es noch nicht mal eine irische und auch keine schwarze Muschi war.
 
Paul Santorini beruhigte sich allmählich. Im Ravenite Club trank er einige Grappa und wartete darauf, dass sein Opfer endlich aufgespürt war. Er wusste, dass er unter seinen Kumpanen bereits zum Gespött geworden war, obwohl sie niemals gewagt hätten, es sich innerhalb der vier Wände seines Clubs anmerken zu lassen. Er wusste auch, dass man ihm bereits eine schwache Hand nachsagte: Die ganz speziellen Aktivitäten seiner Tochter waren überall in Little Italy Tagesgespräch gewesen. Wie er jetzt erst erfuhr, hatte sie sich schon lange nicht um ihren Ruf geschert und sogar ihre Männerbekanntschaften in diesen Club ausgeführt.
Allein deswegen hätte er sie am liebsten erwürgt.
Er wusste, was draußen geredet wurde, und auf gewisse Weise stimmte er damit überein. Aber, guter Gott, Maria war jetzt Witwe, und er würde dafür sorgen, dass sie für ihre Hurerei Buße tat. Paul hatte vor, sie in die strikte Obhut seines Cousins Carlos zu geben, eines Familienvaters und Mobmitglieds von minderem Rang. Er würde sie bei sich in Las Vegas aufnehmen - zum entsprechenden Preis. Paul wollte sie nie mehr wiedersehen. Das würde er durchhalten, und wenn es die letzte Tat seines Lebens sein sollte.
Sein Don hatte ein Treffen noch am selben Abend bei sich zu Hause verlangt. Paul wusste, dass er Ärger zu erwarten hatte, und war deswegen noch angespannter.
Die Mafia war seine erweiterte Familie, sein Don deren Oberhaupt. Eines wusste er genau: Wenn er ein Interesse hatte, sich dessen Wohlwollen und, wichtiger noch, das eigene Leben zu erhalten, musste er den Schwanz einziehen und dem Mann exakt das sagen, was er hören wollte. Er hatte nämlich eine Kardinalregel verletzt und eine persönliche Rechnung auf offener Straße vor Augenzeugen beglichen.
Das würde sein Don so schnell nicht verzeihen.
Paul schloss die Augen und sah seine Maria als kleines Mädchen vor sich, mit ihren wunderschönen Augen und dem schimmernden Haar. Sie war zu einer sinnlichen Frau herangewachsen, zu einer Hure von Frau, und jetzt musste er die Konsequenzen dafür tragen, dass er sie so abgöttisch liebte.
 
Paul Santorinis Don hieß Pietro DeMarco. Er war von kleiner Gestalt, siebzig Jahre alt und hielt sich fit, indem er in einem Kraftraum trainierte, den er in seinem Büro an der Eighth Avenue eingerichtet hatte. Er kleidete sich wie ein Bauer, trug stets eine Schiebermütze und einen Schal. Auf der Straße benahm er sich wie ein Trottel, redete mit jedermann und bauschte alle möglichen Kleinigkeiten zu großen Problemen auf.
Damit schützte er sich vor jedem Verdacht.
Anders als die jungen Männer kleidete er sich nicht wie ein Komparse aus »Der Pate«. Er wusste, wie wichtig es war, im Hintergrund zu blieben. Das hatte ihn fünfzig Jahre in Amerika überleben lassen und entscheidend dazu beigetragen, dass er vor zwanzig Jahren zum Don gewählt worden war. Das FBI hatte immer wieder versucht, ihm kriminelle Aktivitäten nachzuweisen, und hatte ebenso oft sämtliche Anschuldigungen fallenlassen müssen.
Jetzt war Don Pietro übel gelaunt.
Einer seiner bevorzugten Capos hatte sich ein so schwerwiegendes Fehlverhalten zuschulden kommen lassen, dass er ihn zum Gespräch hatte einbestellen müssen. Um ihn sich zur Brust zu nehmen. Allein das machte den Don ungnädig.
Er hatte Paul Santorini immer geachtet, hatte ihn sogar gemocht. Er kannte all das Gerede über Santorinis Tochter. Als Mann, der nur Söhne hatte, verstand er durchaus, warum ein Vater eine Tochter zu sehr lieben konnte.
Es lag in der menschlichen Natur.
Aber diese Tochter war, wenn die Geschichten stimmten, keine ehrbare Frau.
Jetzt bahnten sich Probleme mit den Iren an, und eben das wünschte der Don nicht. Mit ihnen war nicht zu spaßen, und gegenwärtig trieben sie Geld für einen unverständlichen Krieg in ihrer Heimat ein. Sogar die britische Armee dort drüben hatte Schwierigkeiten, sie im Zaum zu halten. Diese Iren waren geborene Kämpfer, und Don Pietro wollte es nicht wegen einer Frau zur Auseinandersetzung mit ihnen kommen lassen.
Der Frieden zwischen den verschiedenen Nationalitäten hatte sich zum Wohle aller ausgewirkt. Jetzt bestand Gefahr, dass es zum offenen Krieg kam, und wenn der sich in den Straßen von New York ausbreitete, konnte es passieren, dass Chinesen und andere Immigranten beschlossen, dabei mitzumischen.
Paul hätte zu ihm kommen müssen, wie es normalerweise gehandhabt wurde. Stattdessen warteten jetzt alle darauf, ob die Welt, wie man sie bisher kannte, in ihren Grundfesten erschüttert worden war. Insgesamt eine höchst unschöne und dazu lästige Situation.
Don Pietro fühlte seinen Puls, wie er es seit einigen Jahren gewohnheitsmäßig tat. Er hatte damals Herzprobleme befürchtet, aber wie sich herausstellte, handelte es sich nur um Verdauungsstörungen. Die Angst vor einer Herzattacke war er jedoch nie ganz losgeworden. Er atmete tief durch und wartete auf Pauls Ankunft. Don Pietro wusste, dass er bald kommen würde. Einen direkten Befehl zu missachten war mehr, als er sich getraut hätte.
Er hatte in Paul seinen Nachfolger gesehen; jetzt würde er sich woanders umschauen müssen. Die Männer würden hiervon hören, und ihr Respekt würde schwinden.
Es sei denn, er griff zu gewissen Maßnahmen, um dem zuvorzukommen.
Die Aufsteigerin
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