Kapitel sechsundvierzig
Kitty öffnete die Wohnungstür. Als sie sah, wer der Besucher war, kreischte sie vor Freude. »Mom, es ist Richard!«
Sorgsam darauf bedacht, seine gewohnt verbissene Miene zu verbergen, betrat er die Wohnung. Kitty verehrte ihn, und wenn sie sich sahen, gelang es ihm, wie ein gütiger Onkel zu wirken.
»Hallo, Kitty Cat, wie geht es dir?«
Sie umarmte ihn. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sofort wohl und gut aufgehoben.
»Prima. Tante Susan kommt später auch. Bleibst du noch ein bisschen?«
Mit rauer Stimme sagte er: »Nur ein paar Minuten.«
Cathy machte gerade Kaffee, als er in die Küche kam. Sie lächelte ihm zaghaft entgegen. »Hallo, Richard. Setz dich doch. Ich mach uns einen Drink, dann können wir reden.«
Cathy beobachtete, wie er mit Kitty spielte. Richard hatte etwas an sich, das manche Menschen bewegte, ihn zu lieben, und andere, ihn zu verabscheuen. Sie und ihre Tochter liebten ihn. Richard war für Kitty ein Rückhalt, der liebe Onkel, der ihr Süßigkeiten gekauft hatte, als sie klein war, und Fan-Zeitschriften, als sie zur jungen Frau heranwuchs. Auch jetzt kam er nicht mit leeren Händen.
Er öffnete seinen Mantel, zog zwei Zeitschriften hervor und steckte sie dem Mädchen unter dem Tisch zu. Kitty stahl sich mit ihnen davon, und Cathy musste lachen.
»Ihr seid unverbesserlich«, sagte Cathy mit einem Augenzwinkern und fügte hinzu: »Aber das dürfte nicht der Grund deines Besuchs sein, oder?«
»Nein.« Er holte tief Luft. »Deine Mutter wurde vor ein paar Tagen entlassen. Ich habe erst heute Morgen davon gehört und dachte, dass ich dich vorwarnen sollte.«
Cathy wurde schreckensbleich. »Sind wir in Gefahr?«, fragte sie schließlich.
»Ich hab keine Ahnung«, räumte Richard ein. »Sie war zuletzt in einer kleinen Klinik in Essex, wo man sie psychiatrisch behandelt hat. Anscheinend verbesserte sich ihr Zustand so, dass man sie entlassen hat. Aber jetzt weiß niemand, wo, zum Teufel, sie abgeblieben ist. Man hatte für eine Unterkunft gesorgt, Sozialarbeiter hatten ihre Wiedereingliederung vorbereitet, und sie sollte als Tagespatientin im Basildon Hospital aufgenommen werden, aber Madge hat sich wohl verpisst, kaum dass man sie aus den Augen ließ. Seither hat man von ihr weder etwas gehört noch gesehen.«
Cathy biss sich auf die Lippe.
»Sie ist als manisch-depressiv eingestuft«, fuhr er fort. »Solange sie ihre Medikamente nimmt, geht es ihr so weit gut. Jetzt hat sie sich anscheinend entschlossen, ohne ärztliche Betreuung auszukommen, und ich halte es, ehrlich gesagt, für besser, eine Weile auf der Hut zu sein. Sie taucht bestimmt auf.«
Cathy unterbrach ihn. »Bestimmt auf der Straße. Die Hälfte der Stadtstreicherinnen kommt doch aus psychiatrischen Kliniken, oder? Ist sie gefährlich, Richard? Bitte sag es mir. Nicht um meinetwillen, sondern wegen Kitty. Ich muss es wissen.«
Er zuckte die Achseln. »Das ärtzliche Gutachten besagt, dass sie für die Gesellschaft keine Gefahr darstellt, denn anderenfalls hätte man sie gar nicht entlassen. Ob sie aber eine Gefahr für dich ist, kann ich wirklich nicht sagen.«
Cathy steckte sich eine Zigarette an und inhalierte tief. »Immer wieder was Neues«, sagte sie müde.
»Halt einfach die Augen offen, mehr musst du gar nicht tun. Wenn sie auftaucht, wissen wir alle wenigstens, woran wir sind. Vielleicht ist sie lammfromm.«
»Trotzdem - ich mache mir Sorgen. Wie gesagt, nicht um meinetwillen, sondern es geht um Kitty. Ich hab ihr nichts von Granny erzählt. Aber du hast ja Recht. Warten wir erstmal ab.« Sie trank ihren Kaffee aus. »Ich muss mir trotzdem etwas einfallen lassen, stimmt’s?«
Richard nickte. »Das denke ich auch. Aber zerbrich dir nicht im Voraus den Kopf, sondern warte ab, was geschieht, hm? Jetzt muss ich leider weg, denn schließlich hab ich auch noch einen Job.«
Nachdem er gegangen war, blieb Cathy am Tisch sitzen und dachte über die neue Situation nach. Wollte sie ihre Mutter sehen, wollte sie ihre Mutter nicht sehen? Viel Zeit war vergangen. Zu viel Zeit, um einander noch zu kennen. Beim Gedanken an ihre Kindheit versuchte sie, sich nur an die guten Momente zu erinnern, an die vergnüglichen Stunden, die sie erlebt hatte, aber das war nicht leicht. Rons Gesicht tauchte vor ihren Augen auf, und sie kniff sie fest zusammen, um das Bild zu vertreiben.
So viel Schlechtes war ihr im Leben widerfahren, und alles nur wegen Madge und ihrem Gewerbe. Sie müsste sie eigentlich hassen, aber das konnte sie nicht. Madge war ihr Fleisch und Blut, außer Kitty ihre einzige Verwandte. Alles, was sie an Familie besaß.
 
Mit einem strahlenden Lächeln öffnete Desrae die Eingangstür. Er hatte Kitty erwartet und sah stattdessen eine ungepflegte Frau mit rot gefärbtem Haar vor sich.
»Kann ich Ihnen helfen, meine Gute?«
Desrae sah sich kurz um, ob auch niemand ihn mit dieser Stadtstreicherin sprechen sah.
»Sind Sie Desrae?«
Er nickte. »Was kann ich für Sie tun? Sie sammeln für irgendwas?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich bin wegen Cathy Duke hier, oder Connor, wie sie mal hieß.«
Desraes stark geschminkte Augen verengten sich, und mit tiefer Stimme sagte er: »Was ist mit ihr? Und inzwischen heißt sie Pasquale.«
Die Frau seufzte. »Ich will keinen Ärger machen. Ich muss sie nur fünf Minuten sprechen, das ist alles. Ich hab nämlich Informationen für sie.«
»Und was für Informationen sollen das sein, wenn ich fragen darf?«
Sie schürzte die Lippen und antwortete dann: »Wichtige Informationen eben.«
Desrae verdrehte die Augen. »Wollen Sie mich auf die Palme bringen? Wer sind Sie überhaupt? Erst wenn Sie mir das verraten, werde ich entscheiden, ob ich ihr etwas ausrichte. Fairer geht’s doch wohl nicht, oder?«
»Mein Name ist Betty Jones. Ich kenne Cathy schon von Geburt an. Ich war eine Freundin ihrer Mutter. Vielleicht hat sie mich ja mal erwähnt. Ich sehe sie ab und zu. Sie besucht mich.«
»Und warum haben Sie denn nicht angerufen?«
Betty wurde ungeduldig und sagte sarkastisch: »Weil ich es ihr persönlich sagen muss. Ich kannte bis jetzt nicht einmal ihre Adresse. Sie hat mich nie zu sich eingeladen. Aber sie liegt mir wie eh und je am Herzen, und ich muss sie dringend sprechen. Man hat mir gesagt, dass Sie mir dazu verhelfen könnten.«
Desrae steckte in der Zwickmühle. Er hätte gern gewusst, worum es ging, wollte aber nicht den Eindruck erwecken, dass er sich einmischte. Er hatte natürlich von dieser Betty gehört, war aber unschlüssig, was er machen sollte, als sie jetzt leibhaftig auf seiner Türschwelle stand.
»Worum geht es denn nun?«, beharrte er.
»Es geht um Madge, ihre Mutter. Um die geht es.«
Desrae trat einen Schritt zurück. »Sie kommen am besten herein.«
Als sie die Treppe hinaufgingen, überlegte er hektisch. Wenn Madge zurück war, konnte das für Cathy nur Probleme bringen. Und was sollte mit Kitty werden? Sie hatte doch keine Ahnung, dass ihre Großmutter wegen Mordes im Gefängnis gesessen hatte. Wenn es nach Desrae ging, sollte sie es auch nie erfahren. Das junge Mädchen hatte schon mehr als genug durchmachen müssen.
Betty bestaunte die grellbunten Farben im Wohnzimmer und setzte sich vorsichtig auf die Lehne eines zweisitzigen Sofas. Desrae machte es sich auf einem Sessel bequem, und einen Augenblick lang taxierten sie sich gegenseitig.
»Madge ist vor zwei Tagen bei mir aufgetaucht«, begann Betty. »Seither zerbreche ich mir den Kopf, was ich mit ihr anstellen soll. Ich weiß, dass sie auch hier gewesen ist und Ausschau nach ihrer Tochter gehalten hat. Ich mache mir Sorgen. Madge ist dieser Tage nicht ganz richtig im Kopf. War sie vielleicht nie.« Bettys Stoßseufzer kam von Herzen. »Ich würde ihr zutrauen, dass sie Cathy was antut, wenn sie die Möglichkeit bekommt. Nicht dass sie so was gesagt hätte, aber das ist mein Gefühl, verstehen Sie?«
»Meinen Sie, Cathy sollte davon erfahren? Sind Sie deswegen hier?«, fragte Desrae, bestürzt über die Nachricht.
Betty zuckte die Achseln. »Hier ist meine Nummer. Ich muss zurück, damit ich Madge im Auge behalten kann. Sie glaubt, dass ich zum Einkaufen gegangen bin. Ich werde wohl ein Taxi nehmen müssen. Tun Sie, was Sie für richtig halten, und sagen Sie mir dann Bescheid. Und bitte, geben Sie mir ihre Nummer, damit ich ihr berichten kann, was vor sich geht. Was auch immer geschieht - wir müssen Cathy und ihre Tochter schützen. Madge ist absolut unberechenbar. Vor Jahren war ihre Art noch spaßig, aber das hat sich geändert. Sie macht mir Angst, Mann.« Betty schauderte es. »Ich möchte sie gar nicht in meiner Wohnung haben, aber mir bleibt ja wohl kaum was anderes übrig, oder? Kann sie doch nicht einfach auf die Straße setzen.«
Desrae schüttelte verständnisvoll den Kopf. »Hier, das ist für Sie.« Er drückte ihr einen Zwanzigpfundschein in die Hand. »Nehmen Sie ein Taxi. Und hier, schreiben Sie mir auch Ihre Adresse auf. Ich werde in mich gehen und sehen, ob mir was einfällt. Okay? Ich will Sie ja nicht rausschmeißen, aber Kitty, Cathys Tochter, kommt gleich, und es ist wohl besser, wenn das Mädchen Sie nicht sieht.«
Betty nickte. »Ich wette, sie ist ‘ne Schönheit. Cathy war als Kind mächtig hübsch - echt umwerfend. Ich hab damals Madge um das kleine Ding beneidet, das kann ich Ihnen sagen. Ich hätte sie zu mir holen sollen … Madge hätte es wahrscheinlich gestattet. Aber was geschehen ist, ist geschehen, stimmt’s? Daran kann man wohl nichts mehr ändern.«
Desrae schüttelte bekümmert den Kopf. »Da haben Sie Recht. Wir werden auf Cathy achten und dafür sorgen, dass ihr nichts passiert, hm?«
Betty lächelte, froh, dass sie jetzt jemanden zur Seite hatte. »Sie sind eine sehr nette Frau, Miss Desrae. Cathy kann von Glück sagen, Sie gefunden zu haben.« Die Worte waren aufrichtig, und Desrae lächelte traurig.
»Nein, ich war die Glückliche. Also, erstmal vielen Dank.«
Er brachte sie zur Tür und griff nach dem Telefon. Es gab nur eine Person, die in dieser Lage etwas bewirken konnte, und das war Susan P.
 
Madge sah furchtbar aus. Sie ging die Roman Road entlang, und die Leute starrten ihr hinterher. Vor Jahren hätte sie jedermann gegrüßt, und auch jetzt wusste sie das eine oder andere Gesicht einzuordnen, aber sie wusste auch, dass niemand sie erkennen konnte. Ihr Gesicht war gezeichnet von den Gefängnisjahren, von Narben zerfurcht. Ihr Haar war grau, strähnig und ungekämmt. Ihre Augen wurden von hässlichen Tränensäcken verunziert.
Man sah ihr an, was sie war, und das wusste sie auch.
An einem Marktstand mit gebrauchter Kleidung blieb sie stehen. Sie war auf der Suche nach einem Kleid oder Kostüm, einem guten Mantel und vielleicht noch einem Paar Schuhe. Die Sachen aus dem Gefängnis konnte sie gewiss nicht mehr tragen, und ihr war klar, dass sie sich ein wenig zurechtmachen musste.
Besonders wenn sie ihr Mädchen besuchen wollte. Bei dem Gedanken lächelte sie.
Nach zwanzig Minuten und einigen rabiaten Rangeleien mit anderen Kundinnen war sie fündig geworden, und als sie den verlangten Preis herunterhandelte, erhob die Standinhaberin keinen Einwand, denn sie wollte sich mit dieser Frau nicht anlegen. Sie sah zu furchterregend aus, und die Narben in ihrem Gesicht kündeten deutlich genug von einem Knastaufenthalt.
Madge blieb den ganzen Nachmittag auf der Roman Road, erfreute sich an vertrauten Anblicken und Gerüchen. Sie gönnte sich eine Portion Aal und aß sie gleich am Stand. Sie sah sich ausgiebig um.
Sie war tatsächlich draußen, sie war zu Hause. Aber sie hatte alte Rechnungen offen, und die würde sie begleichen.
 
Betty machte Tee. Sie war vor Madge zu Hause gewesen und froh darüber. Ihre Freundin brauchte nicht zu wissen, dass sie unterwegs gewesen war.
»Hattest du’s nett, Schatz? Die Sachen stehen dir prima.«
Madge nickte und nippte an ihrem Tee.
»Komm schon, freu dich doch«, drängte Betty. »Du bist jetzt draußen. Bald hast du deine eigene kleine Wohnung und kannst ein neues Leben anfangen.«
Madge sah ihre Freundin lange an. Als die schließlich lachte, lief es Betty eiskalt den Rücken hinunter.
»Hör schon auf, Madge, das sollte kein Scherz sein.«
Sie hörte zu lachen auf. Voller Ingrimm sagte sie: »Aber es ist ein Scherz, oder?« Mit gespielt verwunderter Miene sagte sie: »Also, ich sitz für meine Tochter im Gefängnis - meine Tochter, die Puffmutter -, und sie führt ein feines Leben, hat einen netten Mann, Geld, genießt Ansehen, die ganze Scheißpalette. Und was krieg ich? Einen Scheiß krieg ich! Und du findest das nicht witzig, Betty? Du hast wohl auf deine alten Tage den Sinn für Humor verloren. Ich persönlich find das rasend komisch. Aber ich werd es ihr schon zeigen, da mach dir mal keine Sorgen«, sagte sie verbissen. »Ich werd’s ihr ein für alle Mal zeigen. Ein Teufelsbraten ist sie! Hat mir von Geburt an keinen einzigen Tag Ruhe und Frieden gegönnt. Hätte sie die Toilette runterspülen sollen wie die anderen.«
Betty reagierte schockiert, was Madge abermals zum Lachen brachte.
»All die verfluchten Jahre und kein einziges Wort von ihr. Du hast ja keine Ahnung, wie es da drinnen ist, Betty. Von Tag zu Tag gehst du mehr kaputt. Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, was die Göre mir angetan hat, und ich werd’s ihr heimzahlen, worauf du dich verlassen kannst.«
Betty spürte brennende Tränen. Wo war die alte Madge geblieben? Wo war die unbekümmerte, spontane Freundin geblieben?
»Kommst du mit in den Pub?« Madges Stimme klang wieder normal.
Betty nickte. Dort gab es ein Telefon, und sie wusste, dass sie Hilfe holen musste. Allein konnte sie nicht mehr mit Madge Connor fertigwerden.
 
Madge und Betty saßen in The Two Puddings in Stratford und hatte sich Port mit Zitrone bestellt. Madge wollte nach all den Jahren hinter Gittern sehen, was sich verändert hatte.
»Ist alles anders, Betty«, sagte Madge. »Ich mein, als sie mir zur Entlassung zwanzig Quid gegeben haben, dachte ich, das wär ‘n verdammtes Vermögen, aber die sind doch nur noch einen Scheiß wert, oder?«
Betty nickte. »Ich weiß, die Preise sind ein Witz.«
Madge trank aus. »Viel schicker geworden ist dieser Laden - hier verkehren wohl diese Yuppies, von denen ich in der Zeitung gelesen habe. Die müssen ja reichlich Kohle verdienen.«
Betty schmunzelte. Madge redete wieder normal. »Dir scheint es schon viel besser zu gehen, mein Liebe«, sagte sie.
Madge lächelte, und für einen kurzen Augenblick erkannte Betty das Mädchen von früher wieder. »Mir geht es besser, weil ich einen Plan habe. Ja, ich bin ganz entspannt.«
In dem Moment ging ein junger Mann auf dem Weg zur Toilette an ihnen vorbei und sah sie verächtlich an.
»Hast du genug gesehen, du dämliches kleines Arschloch?« Madges Stimme war laut und schneidend. Die anderen Gäste der Bar drehten sich um. Der Junge war entsetzt. Mit hassverzerrtem Gesicht keifte sie ihn an: »Na, los doch, geh und hol dir einen runter, du blöder Affe. Und wehe, du wagst es, auf dem Rückweg in meine Richtung zu gaffen!«
»Reiß dich zusammen, Madge«, sagte Betty, die vor Verlegenheit rot geworden war. »Für solches Benehmen kann man heutzutage eingesperrt werden.«
»Leck mich, Betty«, sagte Madge brüsk. »Was denkt er denn, wer er ist? Glotzt mich an, als wär ich ‘n Stück Scheiße.«
Betty wurde nervös. »Komm, besorgen wir uns noch einen Drink.« Sie ging an die Bar und behielt dabei die Tür im Auge.
Die Bardame sagte leise: »Sie sollten die Gute im Zaum halten, sonst lass ich Sie beide raussetzen. Ich kann nicht dulden, dass meine Gäste derart belästigt werden.«
Betty murmelte eine Entschuldigung und bestellte Drinks.
Als die Tür aufging und Richard Gates hereinkam, fiel ihr ein riesiger Stein vom Herzen. Nie im Leben hatte sie sich mehr gefreut, jemanden zu sehen.
Madge sah ihn ebenfalls. Sie funkelte Betty an und zeigte ihr drohend die Faust.
Richard sagte gelassen: »Lange nicht gesehen, Madge.«
»Meinetwegen hätte es ruhig noch länger dauern dürfen«, erwiderte sie feindselig.
Betty ließ die Drinks auf dem Tresen stehen und folgte den beiden, als Madge von Gates nach draußen begleitet wurde. Dort wartete Susan P. in ihrem Lotus. Richard bugsierte Madge auf die Rückbank und kletterte neben sie. Betty sah mit schlechtem Gewissen zu, wie ihre Freundin weggebracht wurde. Aber sie wusste auch, dass sie sich nie verziehen hätte, wenn Madge Cathy etwas angetan hätte.
Sie ging in den Pub zurück, leerte beide Drinks und prostete dabei in Gedanken ihrer Freundin zum Abschied zu. Sie hatte das dumpfe Gefühl, die alte Madge nie wiederzusehen.
 
»Na, wenn wir da nicht Mr. Gates hätten, der Freund der Ganoven. Ich hätte mir ja denken können, dass wir uns eines Tages über den Weg laufen.«
Richard strich sich über die Glatze. »Du bist dumm wie Bohnenstroh, Madge. Und du lernst auch nichts dazu, oder?«
Sie schnaubte. »Und wie geht es Ihnen, Miss P.? Gut, nehme ich an. Ihr beide seht ja aus, als würde es euch blendend gehen. Hübsche Autos, hübsche Klamotten. Hat sich jede Menge verändert, seit ich damals weg bin, hä? Sogar meine Tochter scheint es inzwischen weit gebracht zu haben. Aber lasst euch eins sagen: Ihr seid allesamt nichts und niemand. Außerhalb von London hat niemand je eure Namen gehört oder weiß etwas von eurer Existenz. Ihr seid große Fische nur in einem kleinen Teich.«
Susan betrachtete die alte Frau im Rückspiegel und fragte sich, was, zum Teufel, sie jetzt mit ihr machen sollten.
»Du wirst Cathy in Ruhe lassen. Wenn wir den Eindruck gehabt hätten, dass du sie nur besuchen wolltest, wie eine Mutter ihr Kind sehen möchte, hätten wir dich zu ihr gebracht. Aber das willst du ja nicht, Madge, oder? Du willst ihr etwas antun. Als hättest du ihr in der Vergangenheit nicht schon genug angetan.« Richard sprach fast unhörbar leise. Je leiser seine Stimme klang, desto gefährlicher wurde er. Madge wusste das und blieb friedlich. Aber plötzlich brach es aus ihr heraus.
»Leck mich, Gates, und leck du mich auch, du Lesbenschlampe. Ich hab nichts mehr zu verlieren. Absolut gar nichts. Ihr macht mir keine Angst, ihr nicht! Sie schuldet mir was, diese kleine Hure, und jetzt wird sie zur Kasse gebeten. Ihre Clubs und ihr Kind und ihr netter Ehemann … wann hat sie sich je um mich geschert? Das frag ich euch. Ich hab mich abgerackert für die Göre. Ich hab meinen Hintern verscherbelt, damit sie was am Leib hatte und was zu essen.«
Entsetzt stellten Richard und Susan P. fest, dass Madge anscheinend überzeugt war von dem, was sie sagte.
»Ich hab die besten Jahre meines Lebens für sie geopfert, und jetzt will sie nichts von mir wissen, sondern tut so, als hätte es mich nie gegeben. Aber das läuft nicht. Ich hab mir für die kleine Dame den Arsch aufgerissen, und dass es ihr jetzt so gutgeht, wurmt mich mächtig.«
Richard seufzte. »Du hast bereits deine Bewährungsauflagen verletzt. Du hättest in der Unterkunft bleiben sollen, die das Sozialamt dir zugewiesen hat. Stattdessen bist du abgehauen. Jetzt bringe ich dich in den Knast, und das wär’s dann. Wenn ich empfehle, dass du vorübergehend eingesperrt werden solltest, wird man auf mich hören, Madge. Ich werde sagen, du stellst eine Gefahr für deine Tochter dar und auch für deine Enkelin. Ich sage, du hast mich bedroht, und ich bin der Meinung, du bist eine Gefahr für die Allgemeinheit. Und dann, wenn du erst einmal wieder hinter Gittern sitzt …«
Susan P. unterbrach ihn. »Werde ich dafür sorgen, dass du kriegst, was du verdienst.«
Madge grinste nur. »Leck mich, Lady.«
Susan P. brachte den Wagen mit quietschenden Reifen am Straßenrand zum Stehen. Sie drehte sich um, packte Madge an den Haaren, zerrte sie ganz dicht an sich heran und fauchte: »Nein, Madge, leck dich, denn wenn ich es will, dann bist du tot, Weibsstück. Du weißt, dass ich dafür sorgen kann. Ich hab dafür gesorgt, dass man dich im Knast in Ruhe gelassen hat. Weil Cathy mich darum gebeten hat, weil sie es wollte. Sie konnte dich nicht besuchen, weil sie auf der Flucht war. Und später, als ich es hätte arrangieren können, wusste ich bereits, dass es ihr nicht zuzumuten war, auf eine so bösartige alte Vettel zu treffen. Also, nimm dich ja in Acht, Alte - wenn Cathy auch nur einen Schnupfen kriegt, mach ich dich fertig dafür.«
Madge war erschüttert. »Wie immer krieg ich an allem die Schuld«, jammerte sie. »Ihr kennt sie ja nicht. Aber ihr werdet ebenso wie ich noch mitkriegen, wie sie wirklich ist …«
Susan P. stieß sie zurück auf den Sitz. »Sag ihr, wie’s weitergeht, Richard, ich möchte nach Hause.«
»Okay. Du wirst eine kleine Reise machen, Madge. Gefällt dir doch, oder? Oder möchtest du lieber direkt hinter Gitter wandern?«
Er musste über ihren Gesichtsausdruck grinsen. Sollte sie ruhig ins Schwitzen geraten, es geschah ihr recht. Er wollte sie nur aus dem Weg haben, irgendwohin verfrachten, wo er ein Auge auf sie haben konnte. Das Gefängnis war im Moment nicht der richtige Ort für sie. Sie brauchte Hilfe, und er würde dafür sorgen, dass sie Hilfe bekam.
 
Cathy blieb eine Zeit lang besorgt, aber nach ein paar Monaten verblassten die Gedanken an ihre Mutter. Sie glaubte, dass Madge beschlossen hatte, sie in Ruhe zu lassen und ihr eigenes Leben zu führen. In gewisser Weise war sie traurig darüber. Sie hätte ihre Mutter gern gesehen, mit ihr gesprochen. Aber das sollte offenbar nicht sein. Allmählich verlief alles wieder in geordneten Bahnen, und sie lebte auf. Richard und Susan erzählten ihr nichts, und Desrae tat es auch nicht.
Sie waren übereingekommen, dass es für Cathy ein Segen war, wenn sie nicht erfuhr, was geschehen war.
Die Aufsteigerin
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