Kapitel acht
Cathy wurde von einem Arzt untersucht, und Richard Gates schaute unbewegt zu. Wie immer war der Polizeiarzt in Gates’ Gegenwart nervös, und seine Finger zitterten leicht, als er Cathys Nachthemd wieder zuknöpfte. Nachdem er das Mädchen in die grobe Decke gehüllt hatte, wandte er sich an den weiblichen Constable und sagte: »Sie steht unter extremem Schock.«
Hastig unterbrach Gates: »Sie kann also noch keine Aussage machen?«
Dr. Angus Miller sah den hünenhaften Mann direkt an. »Nein, wenn Sie meinen, es wäre nicht ratsam …« Er verstummte.
Gates lächelte. »Genau das meine ich. Danke, Doktor Miller, Sie sind ein Mordskumpel.« Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören, und der andere Mann verstaute eilig seine Utensilien in seiner schwarzen Tasche und machte, dass er fort kam.
»Es muss aber dringend etwas geschehen, Sir«, sagte die Beamtin.
Gates nickte. »Richtig, Doreen. Waschen Sie das arme Ding, und machen Sie es zurecht. Ich werde mich derweil um ihre Mutter kümmern.«
 
Madge war verwirrt und ungnädig. Es war jetzt Viertel nach zehn Uhr morgens, und seit ihrer letzten Begegnung mit diesem Dreckskerl Gates hatte sie weder Tee noch Kaffee oder gar ein Frühstück bekommen. Sie wusste, dass es auf seine Anordnung geschah, und durstig, hungrig und verängstigt, wie sie war, fragte sie sich, was er wohl als Nächstes vorhatte. Eins wusste sie jedoch genau: Kampflos würde er niemals aufgeben. Und sie war sich nicht mehr sicher, ob sie ihm und seinem eisernen Willen gewachsen war.
Ohne sich zu zeigen, sah Gates zu, wie Madge in ihrer Zelle auf und ab tigerte. Er grinste zufrieden, denn er wusste sehr genau, welche psychologischen Vorteile sich dadurch ergaben, dass man ihr alles verweigerte. Allein schon eine Tasse Tee konnte als Kontakt mit der Außenwelt angesehen werden und sie eventuell in ihren Vorsätzen bestärken. Wenn ihm Zeit geblieben wäre, hätte er sie ein, zwei Tage ohne Nahrung und Getränke, ja sogar ohne Toilette schmoren lassen. Diese Methode war fast immer erfolgreich. Übeltäter dazu zu zwingen, sich nackt auszuziehen, war ebenfalls hilfreich, besonders bei Frauen. Aber leider hatte er in diesem Fall die Zeit nicht auf seiner Seite. Entweder musste er sie offiziell einer Straftat beschuldigen oder sie gehen lassen. Aber Madge würde er beschuldigen.
Als sie hörte, dass die Tür aufgeschlossen wurde, wusste sie nicht, ob sie sich fürchten oder erleichtert sein sollte. Als sie Gates sah, entschied sie sich fürs Fürchten.
»Hallo, Madge, besonders froh siehst du ja nicht aus. Warum das denn nicht?« Sein süffisanter Singsang ängstigte sie mehr, als wenn er sie angeschrien hätte. Aber Gates wurde ohnehin nur selten laut. Die sanfte Stimme war sein Markenzeichen, und er sagte immer: Eine sanfte Stimme richtet mehr aus als ein harter Knüppel.
Seine strenge Miene, die zusammengepressten Lippen und die furchterregende Kälte seines Blicks ließen Madge erschauern. »Hören Sie, Mr. Gates …«
Er unterbrach sie. »Langsam fällst du mir echt auf die Nerven, Madge. Noch nie in all den Jahren musste ich wegen ‘ner alten Schachtel wie dir so viel durch die Gegend rennen. Ich hab langsam das Gefühl, dass du mich zum Narren halten willst.«
Madge schüttelte den Kopf und stammelte: »Nein, nein, Mr. Gates.«
Er stieß sie grob auf die schmale Pritsche. »Ich hab von der Nummer gehört, die du mit Susan P. abgezogen hast. Die Frau ist jetzt mächtig sauer. Will wissen, wer sie verpfiffen hat, verstehst du? Auf der Straße würdest du keine fünf Minuten überleben, wenn ich ihr erzähle, du hast deine große Klappe aufgerissen über die Erpressung vom Oberrichter. Ich mein, da hat sie doch ein sehr einträgliches Geschäft laufen. Stell dir vor, damit ist Schluss oder sie wird sogar verhaftet. Susan P. ist nicht die Frau, mit der man sich verkrachen sollte. Sie kann fuchsteufelswild werden. Und sie liebt Kinder. Aber das weißt du ja selbst.«
Man sah Madge das Entsetzen an. Ein Schmunzeln unterdrückend, setzte Gates sie weiter unter Druck.
»Sie hat nach deiner Tochter gefragt, als ich mit ihr sprach. Wollte wissen, ob für die Kleine gesorgt ist, wenn du in den Bau gehst. Hat sogar angeboten, die Kleine im Auge zu behalten. Was sagst du dazu, Madge? Susan P. setzt sich ein für deine kleine Cathy. Fühlst du dich da nicht gleich viel besser? Ich mein, überleg doch mal. Susan P. und ich, wir beide kümmern uns um sie. Da ist sie doch besser beschützt als die verdammte Queen und ihr Mann, dieser schwule Grieche.«
Madge war klar, dass sie sich geschlagen geben musste. Sie betrachtete den großen Mann, der vor ihr stand, und fügte sich in das Unvermeidbare. Wenn er Susan P. erzählt hatte, dass sie den Mund aufgemacht hatte, war sie schon so gut wie tot. Susan P. war berühmt für ihre Fairness - und dafür, dass sie unbarmherzig Gewalt anwenden konnte, wenn sie es für angebracht hielt.
Genau wie Richard Gates.
Beide hatten ihre eigene Art, die Dinge zu betrachten und zu erledigen, und einen so starken Willen, dass sie alles erreichten, was sie sich zum Ziel gesetzt hatten.
Eine Welle von Hass schlug über Madge zusammen, als sie an ihre Tochter dachte. Cathy besaß Jugend, gutes Aussehen und Freunde. Damit war sie fraglos auf der Gewinnerstraße.
Eine dicke Träne sammelte sich in ihrem Augenwinkel, die sie mit einem nikotingelben Finger wegwischte.
»Möchtest du eine Tasse Tee, Madge, und vielleicht auch was zu futtern?«
Gates klang jetzt sanfter und freundlicher. Er hatte erreicht, was er wollte, und es gab keinen Grund, weiter Druck zu machen.
Sie nickte bedrückt, und er lächelte sie an, ein ehrlich gemeintes Lächeln, das ihn völlig veränderte. »Kopf hoch, Mädchen. Im Knast passieren noch schlimmere Sachen - hab ich mir zumindest sagen lassen!«
Er hatte sein Vorhaben abgeschlossen. Und wenn er sein Ziel erreicht hatte, war er gewöhnlich gelangweilt und wollte am liebsten sofort zum nächsten Punkt auf seiner Tagesordnung übergehen. Draußen vor der Zelle sagte er zu seinem DC: »Bringen Sie ihr was zum Frühstück und ein Aussageformular. Sobald sie unterschrieben hat, wird sie offiziell angeschuldigt. Dann holen Sie die Fürsorge wegen des Mädchens. Ich geh und werd mich erstmal waschen und rasieren und ausscheißen.«
Dann hatte er auch schon das Gebäude verlassen. Völlig verdutzt sah DC Fuller seinem Boss nach. Es hatte alles danach ausgesehen, als würde die alte Fregatte niemals ihre Segel streichen, aber ein wenig Spezialbehandlung nach der Art von Gates, und schon hieß es: Ich gestehe.
Also, mal wieder ein spannender Abend auf dem Polizeirevier von Bethnal Green, spannender als jeder Fernsehkrimi!
 
Cathy wurde gewaschen und angezogen. Sie saß im Verhörraum und sah sich verwirrt um. Die schmutzigen Wände und der zerkratzte Tisch ließen ahnen, dass viele Menschen hier stundenlang eingesperrt gewesen waren. Dunkle Flecken an den Wänden und auf dem Fußboden verrieten überdies, dass manche von ihnen gegen ihren Willen festgesetzt und mit Gewalt dazu bewegt worden waren, ihre Geständnisse zu machen. Trotz ihrer Jugend wusste Cathy darüber Bescheid. Dort, wo sie wohnte, waren Geschichten über die Brutalität der Polizei gang und gäbe, und sie wurden nicht selten mit gewissem Stolz erzählt. Es sah fast so aus, als würde ein junger Mann erst dann als echter Ganove gelten, wenn er von der Polizei in die Mangel genommen worden war. Das war für sie von ebenso großer Bedeutung wie das erste Sexgefummel oder der allererste Einbruch.
Ein Schauder lief Cathy über den Rücken, als sie die dunklen Flecken betrachtete und sich ausmalte, welche Strafaktionen in diesem Raum vollzogen worden waren. Instinktiv ahnte sie, dass der nette Gates sich dabei besonders hervortat. Er behandelte gewiss nicht alle so wie sie. Sie schloss die Augen, um sich vorzustellen, wie es mit ihr weitergehen mochte. Sie wusste nur, dass man ihre Mutter angeklagt hatte und dass sie von einer Sozialarbeiterin in Obhut genommen und der Fürsorge überstellt werden sollte. Schon das Wort machte ihr Angst.
Fürsorge. Nach dem, was sie von Schulfreunden gehört hatte, konnte das Wort »Fürsorge« im Sprachgebrauch der Sozialdienste alles Mögliche bedeuten. Die Tür ging auf. Mit großen Augen schaute sie auf die Frau mit dem grünen Topfhut und dem orangefarbenen Lippenstift, die hereingekommen war.
»Das ist das Kind?«
Die Polizistin nickte wortlos. Sie fühlte mit dem Mädchen. Diese Schreckschraube mit dem Geiergesicht sah zum Fürchten aus. Alles an ihr war knochig und eckig, angefangen bei den hohen Wangenknochen über die Handgelenke bis hinunter zu den Knöcheln. Wie unglaublich spitz ihre Knie waren, sah die Polizistin erst, als die Frau sich gesetzt hatte.
»Name, Kind?«
Stumm sah Cathy die Frau an.
Die junge Polizistin hatte Mitleid mit dem Mädchen und sagte leise: »Sie steht noch immer unter Schock.«
Die Frau warf ihr einen eisigen Blick zu und sagte mit schneidender Stimme: »Wenn ich Ihre Meinung hören möchte, werde ich Sie es wissen lassen.«
Cathy starrte nur geradeaus. Nach einem Seufzer sagte die Frau knapp: »Trotz bringt dir gar nichts, junge Dame.« Dann fügte sie hinzu: »Ich möchte dir nur raten, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich kann dir das Leben so leicht machen oder so schwer, wie es mir passt. Es ist nur zu deinem Besten, wenn du das nicht vergisst.« Mit einem Blick zur Polizistin sagte sie: »Bringen Sie uns Tee.«
Widerwillig verließ die Polizistin den Raum.
Mrs. Mary Barton, Sozialarbeiterin, musterte das Mädchen. Die herzförmige Oberlippe und der natürliche Schwung der Augenbrauen gefielen ihr nicht. Das Kind sah bereits äußerst erwachsen aus. Dass die Brüste dieses jungen Mädchens den dünnen Stoff des ausgeliehenen Kleides fast zu sprengen drohten, machte sie ärgerlich. Im Grunde störte sie alles an diesem Kind. Mädchen aus der Arbeiterklasse wurden bereits als Frauen geboren. Sie entwickelten sich schneller, sie sahen den Männern früher hinterher, und wie sie aus eigener Erfahrung bestätigen konnte, produzierten sie auch viel früher die nächsten Kinder.
Diese hier mit ihrem auffallend blonden Haar und den großen blauen Augen brauchte dringend eine feste Hand, und Mary Barton wusste genau, wem diese Hand gehörte. Aber noch nicht. Sie hatte daran gedacht, das Kind bei der Familie Henderson in Totteridge in Pflege zu geben.
Cathy strich sich das Haar aus den Augen und ließ es über eine Schulter fallen. Diese anmutige und absolut unbewusste Geste ließ Mrs. Barton mit den falschen Zähnen knirschen.
Kein Zweifel: Hier wuchs eine Hure heran. Aber ein paar Monate in der Benton School for Girls würden diesem kleinen Flittchen garantiert die Flausen austreiben! Jetzt noch mit Tee und Mitgefühl Zeit zu verschwenden, war unangebracht.
»Komm, Kind, wir haben eine lange Fahrt vor uns.«
»Darf ich vorher noch meine Mom besuchen?«
Mrs. Barton schüttelte heftig den Kopf. »Nein, darfst du nicht. Das hier ist ein Polizeirevier und kein Ferienlager. Deine Mutter wird beschuldigt, einen Mord begangen zu haben, und ist inzwischen bestimmt schon auf dem Weg nach Holloway. Schnellstens weg mit dem letzten Dreck, kann ich dazu nur sagen. Irgendwann wirst du sie wohl mal wiedersehen. Wenn du dich gut aufführst.«
Das war eine Drohung, die Cathy durchaus verstand, obwohl sie völlig durcheinander war. Als Mrs. Barton Papiere und Akten zusammensammelte, machte sie noch einen Versuch: »Darf ich nicht mal auf Wiedersehen sagen?«
Mrs. Barton tat so, als hätte sie dieses empörende Ansinnen gar nicht gehört, aber ihre Körpersprache sagte etwas anderes. Cathy senkte den Kopf und unterdrückte die Tränen. Die nette Polizistin hatte ihr erzählt, dass Madge die Schuld an der tödlichen Messerattacke auf sich genommen hatte und dass Cathy stillschweigen und zu niemandem auch nur ein Wort darüber verlieren sollte. Dann hatte sie Cathy fest in die Arme geschlossen und dabei so schön nach Lavendel und Zahnpasta gerochen. Cathy hätte die Umarmung gern erwidert, hatte sich aber nicht getraut.
Sie wusste jetzt also, dass ihre Mutter die Schuld auf sich genommen hatte, und dieses Wissen war Balsam für ihre Seele. Sie hatte gedacht, dass sie ihrer Mutter nichts bedeutete, aber anscheinend tat sie es doch.
Die Tränen, die Cathy jetzt in die Augen stiegen, wischte sie ganz schnell weg. Eine leise Stimme flüsterte ihr ein, die Wahrheit zu sagen. Aber das durfte sie nicht. Die nette Polizistin hatte gesagt, dass der große Mann mit dem schütteren Haar und der ruhigen Stimme sehr böse mit ihr würde, wenn sie den Mund aufmachte. Dass ihre Mutter es ihr schuldig gewesen sei und dass sie das Richtige getan hatte.
Obwohl sie gewollt hatte, dass sich ihre Mutter so verhielt, spürte Cathy jetzt Angst um sie. Sie liebte ihre Mom sehr und verstand sie.
Als sie Mrs. Barton zu deren kleinem Auto nach draußen folgte, sah sie sich noch ein letztes Mal zum Polizeirevier um. Dann nahm sie alle Kraft zusammen und stieg ins Auto. Wohin man sie auch bringen mochte, Eamonn würde kommen und sie mitnehmen. Dann würde alles wieder in Ordnung sein.
An diesen Gedanken klammerte sie sich, als die Fahrt nach Kent begann, und erschöpft und ängstlich suchte sie irgendwann Zuflucht im Schlaf.
 
Eamonn Docherty Senior durfte Madge in der Untersuchungshaft einen Besuch abstatten, und sie begrüßte ihn mit einem matten Lächeln.
»So weit musste es kommen, damit du mich besuchst, ohne zu streiten, hm?« Ihre Stimme klang hart, aber sie sah abgehärmt und müde aus.
»Die vom Sozialdienst haben Cathy geholt. Ich hab versucht, dich schon früher zu besuchen, aber das durfte ich nicht.«
Madge schien beschwichtigt. Sie nickte.
»Du hast es also für sie getan. Ein mächtig feiner Zug von dir«, sagte er.
Sie steckte sich eine Zigarette an und schnaubte verächtlich. »Unter Zwang, Eamonn, unter Zwang. Glaub nur nicht, dass ich was Großmütiges hab, das hab ich nämlich nicht. Wenn ich das kleine Gör hier vor mir hätte, würd ich ihr den Hals umdrehen! Sie hat ihn abgestochen, und mit vierzehn hätte sie dafür geradestehen müssen, mein Lieber. Sie wär bald wieder draußen gewesen. So wie’s aussieht, muss ich wohl alles absitzen. Und was diesen Scheißkerl Gates angeht, den werd ich mir schon noch kaufen. Alle beide nehm ich sie mir vor.«
Eamonn Senior schüttelte resigniert den Kopf. »Madge, ich hatte gehofft, du wärst endlich zur Vernunft gekommen. Hättest du diesen Abschaum nicht mit nach Hause gebracht, wär das alles nicht passiert. Allein du hast das alles zu verantworten. Alles. Das Mädchen war deine größte Stütze, aber das hast du ja gar nicht gemerkt. Du warst hier und da mal lieb zu ihr, wenn es dich überkam. Je älter sie wurde, desto mehr hast du ihr von der Verantwortung aufgebürdet, die dir zukam. Benutzt hast du das Mädchen und ausgenutzt … Eins will ich dir sagen, Lady. Ich bin froh, dass Gates dich zur Räson gebracht hat. Ich bin froh, dass du lange hinter Gittern bleibst, Madge, denn zu was anderem taugst du nicht. Jede anständige Mutter hätte achtgegeben auf das Mädchen, aber du nicht. O nein, du hättest sie am liebsten schon zur Arbeit auf die Straße mitgenommen. Das hatte dein Kerl auch im Sinn, da brauchst du dir nichts vorzumachen. Ich lass dich hier in deinem eigenen Saft schmoren. Und ich kann nur hoffen, dass es dir so schlecht ergeht, wie du’s verdient hast. Ich weiß gar nicht, warum ich hergekommen bin.«
»Warum, Eamonn?« Madge war leise geworden, und ihre Stimme hatte einen flehentlichen Unterton, auf den er trotz seines Grolls einging.
»Ich bin hergekommen, Madge, weil wir beide jahrelang zusammen waren und ich das Mädchen wie mein eigen Kind gesehen hab. Ich hatte gehofft, hier eine neue Madge Connor vorzufinden. Eine reuevolle Frau, die zu guter Letzt aus ihrem verhunzten Leben doch nochmal etwas Anständiges gemacht hatte. Deswegen bin ich gekommen.« Er sah ihr in die feuchten Augen und hoffte wider besseres Wissen, ein Zeichen von Menschlichkeit darin zu entdecken.
»Nun, dann hast du dich wohl umsonst hierher bequemt, was?« Mit einem verächtlichen Lachen stand Madge auf und servierte ihn ab, indem sie ihm den Rücken zukehrte und nach einer Wärterin verlangte, die sie in ihre Zelle zurückbrachte.
Als er ihr nachsah, staunte er darüber, wie gefühllos sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden geworden war. Sie hatte Angst vorm Gefängnis. Aber wer hatte das nicht? Aber ganz bestimmt musste sie doch einsehen, dass es richtig war, anstelle des Mädchens ins Gefängnis zu gehen.
Ratlos den Kopf schüttelnd angesichts der weiblichen Launenhaftigkeit, verließ Eamonn Senior das Gefängnis Holloway und steuerte den nächsten Pub an, wo er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrank.
 
Cathy erwachte, als sie die Uferstraße von Deal erreicht hatten. So viele Lichter und das Meer hatte sie noch nie zuvor gesehen, und sie sah eine ganze Zeit staunend um sich, bis ihr plötzlich wieder einfiel, wohin man sie brachte und warum es geschah.
Urlauber spazierten im Regen auf der Promenade, Papiertüten mit Fish & Chips in den Händen. Kleine Kinder tobten um sie herum, spielten Fangen. Juxhüte und riesige rosa Zuckerstangen lockten, wohin man blickte, und die Frauen in ihren bunten Kleidern und mit den modisch zurückgekämmten Haaren sahen ganz wunderbar aus.
Cathy sah einen Mann seine winzige Tochter hochheben und über den Kopf stemmen. Sie nahm auch dessen Frau wahr, die mit beglücktem Gesichtsausdruck zuschaute. Cathy beneidete sie um ihre Freude, die Zufriedenheit und Beständigkeit in ihrem Leben.
Nachdem sie die Uferstraße verlassen hatten, fuhren sie eine lange, kurvenreiche Straße hinauf. Hier und da zeigten sich sehr schöne Häuser mit gepflegten Gärten und teuren Autos auf den Zufahrten. Sie waren strahlend hell erleuchtet und wirkten warm und einladend.
Als sie schließlich in eine kleine Nebenstraße einbogen, regte sich in Cathy eine dunkle Vorahnung.
»Fast da«, sagte Mrs. Barton knapp.
Als sie an einem riesigen schmiedeeisernen Tor angekommen waren, hielt sie an, stieg aus und zog an einem altmodischen langen Glockenseil. Inzwischen war die Kälte auch ins Auto gedrungen, und Cathy fröstelte. Es war eine feuchte Kälte, die durch und durch ging. Im Gegensatz zu den anderen Häusern, an denen sie vorbeigefahren waren, wirkte dieses Gebäude ganz und gar nicht freundlich und einladend, sondern strahlte Kälte und Feindseligkeit aus. Es hingen keine Gardinen vor den Fenstern, sondern sie waren mit Metallgittern gesichert, und es gab auch keine hübschen Backsteinmauern, sondern nur einen Maschendrahtzaun und Stacheldraht. Man hatte den Eindruck, vor einer Festung zu stehen.
Ein älterer Mann öffnete das Tor. Als sie an ihm vorüberfuhren, spähte er mit wässrigen Augen ins Auto. Ohne sich zu rühren, verfolgte er sie mit Blicken, bis sie um eine Kurve in der Auffahrt verschwunden waren.
Als sie das Haus in seiner ganzen Größe erblickte, bekam Cathy einen furchtbaren Schreck. Es war riesig, ein altes viktorianisches Gebäude, nicht um der Wohnlichkeit willen errichtet, sondern allein, um zu beeindrucken. Als sie ausstiegen, erfasste Cathy ein beißend kalter Windstoß, der durch die geborgte Kleidung bis auf ihre Haut drang.
Die imposante Eingangstür ging auf, um sie einzulassen. In der Halle mit ihrer hohen Decke war es unglaublich kalt. Die Frau, von der sie begrüßt wurden, hatte einen ausladenden Busen und ein Raubvogelgesicht. Von ihrer schnabelförmigen Nase wischte sie mit einem schmutzigen Taschentuch einen Tropfen ab.
»Und wen haben wir da?«
Mrs. Barton reagierte mit einer verächtlichen Geste und stieß die Frau von sich. »Wo ist Miss Henley? Sag ihr, dass ich da bin. Dann nimm das Mädchen hier und gib ihr was zu essen. Und mir bringst du eine Tasse heißen Tee. Ob du dir das wohl alles merken kannst, Deidre?«
»Ja, Mrs. Barton, Ma’am.« Die Frau nickte, und ihre Hakennase bebte vor unterdrückter Empörung.
Sie packte Cathy am Arm und zerrte sie durch die Eingangshalle in ein kleines Büro. Als sie die Tür öffnete, schlug ihnen warme Luft entgegen.
»Mrs. Barton ist da und möchte Sie sprechen. Diese kleine Lady hier hat sie mitgebracht.« Deidres Stimme triefte von verletztem Stolz, und die kleine mollige Frau hinter dem Schreibtisch sah Cathy erstaunt an.
»Sie möchte Tee und will mit Ihnen sprechen«, fuhr Deidre fort.
»Bring das Mädchen in die Küche und hol den Tee. Ich kümmere mich um Mrs. Barton.«
Cathy bemerkte den schneidend kalten Ton der Frau sehr wohl und schmunzelte. Hier war eine Frau, die sich bestimmt nicht von der Sozialarbeiterin einschüchtern ließ.
»Was gibt’s zu sehen, Mädchen?« Die Stimme klang barsch und würde gewiss keine Widerrede dulden.
Cathy schüttelte bedrückt den Kopf.
»In diesem Haus wird geantwortet, wenn man gefragt wird. Also, Mädchen?«
Sie schüttelte abermals den Kopf und wollte sich erklären, brachte aber kein Wort heraus.
»Schaff sie fort, Deidre. Sie ist offenbar zurückgeblieben.« Der verächtliche Ton war zu viel für Cathy, und ihr stiegen Tränen in die Augen.
»So’n Scheiß! Ich bin nicht zurückgeblieben!« Die Wörter waren heraus, bevor ihr bewusst wurde, was sie getan hatte. Sie standen laut und schrill im überheizten Raum, und die Miene der molligen Frau verriet entgeisterte Fassungslosigkeit.
»Schaff sie weg, Deidre. Bring sie in den Ruheraum. Nichts zu essen und gar nichts, bis ich was anderes anordne.«
Deidre fasste Cathy grob am Arm und schleifte sie eine lange Treppe hinunter. Sie wollte sich zur Wehr setzen und wurde dafür heftig gekniffen.
»Du wirst dich noch umsehen, junge Dame. Miss Henley duldet keine Aufmüpfigkeit. Sie haut dir links und rechts um die Ohren, bis du nicht mehr weißt, wo dir der Kopf steht. Und wenn du noch so lange heulst, damit erreichst du bei ihr absolut nichts.« Sie zog Cathy durch die Küche, öffnete eine schwere Metalltür und stieß das Mädchen in die Dunkelheit.
Eiskalte Dunkelheit.
Als Cathy merkte, was geschah, wollte sie noch schnell zur Tür hinaus, doch ein kräftiger Stoß ließ sie rückwärts taumeln und auf dem feuchten Fußboden landen. Die Tür schlug laut und mit unerbittlicher Endgültigkeit zu. Cathys Herz klopfte wie wahnsinnig, und die Gedanken rasten durch ihren Kopf.
Sie schluchzte bitterlich vor Angst und Wut. Aber davon war durch die dicke Metalltür nichts zu hören, und es hätte sowieso niemanden gekümmert.
An so einen Ort war sie geraten.
 
Leona Henley lauschte aufmerksam der jammervollen Geschichte, die Mrs. Barton zu berichten hatte, schenkte ihr Tee nach und bot Backwerk an, dazu auch kleine Sandwiches und Scheiben von köstlichem Früchtebrot.
»Dass dieses Mädchen Ärger machen würde, wusste ich vom allerersten Moment an. Jetzt verstehen Sie wohl, warum ich sie hergebracht habe«, schloss die Sozialarbeiterin.
Miss Henley hörte auch das mit Interesse und sagte: »Ich sollte sie wirklich nicht aufnehmen. Das hier ist eine Anstalt für Straffällige. Diese Mädchen sind zu jung fürs Gefängnis, und daher werden sie zu mir gebracht. Hauptsächlich Diebinnen, wie Sie ja wissen, und gewalttätige Straßenmädchen. Um das Kind hier aufzunehmen, bräuchte ich einen Gerichtsbeschluss.«
Sie wurde von Mrs. Barton unterbrochen.
»Die notwendigen Papiere kann ich uns beschaffen. Das Mädchen hat mich ja praktisch tätlich angegriffen. Ich werde ganz offiziell Klage einreichen, und das müssen Sie ebenfalls tun. Man kann doch wohl nicht erwarten, dass ich Pflegeeltern mit diesem Mädchen belaste, oder? Sie hat erlebt, wie ihre Mutter, eine Hure, einen Mann ermordet hat, und, unter uns, Miss Henley, ich bin überzeugt, dass sie bereits demselben Gewerbe nachging wie die Mutter. Im Bericht des Arztes heißt es, dass sie erst kürzlich Geschlechtsverkehr hatte.«
Entrüstet zog Miss Henley die Augenbrauen in die Höhe.
»Ich vermute nämlich, die Mutter hat sie in flagranti erwischt, und dann ist es zur Tragödie gekommen. Da haben wir ein kleines Flittchen, das kann ich Ihnen sagen. Braucht eine feste Hand. Und darum hab ich auch an Sie gedacht. Wenn ich gesetzmäßig keine Pflegestelle für sie finde, sind Sie sowieso mein letzter Ausweg. Wo ich hinkomme, preise ich Sie auch immer in den höchsten Tönen.«
Miss Henley wusste, dass sie in der Zwickmühle steckte. Diese Gewitterziege wollte das Kind loswerden, und sie würde es auch loswerden. Das war nicht zu verhindern. Sie war einmal Zeugin geworden, wie diese Frau ein aufsässiges Kind bewusstlos geprügelt hatte, und zwar mit einer grausamen Wut, die sogar sie selbst erstaunt hatte, obwohl sie sich weiß Gott auch schon desselben Verhaltens schuldig gemacht hatte. Mrs. Barton war doppelt gefährlich, weil sie beste Beziehungen hatte. Zu den wichtigsten Leuten. Sie konnte ein Haus über Nacht schließen lassen, wenn es ihr gefiel. Ihre Macht war groß, und sie übte sie skrupellos aus.
Ihr Ehemann war Mr. Justice Barton und ihr Bruder der Regionalleiter der Sozialdienste für London und die umliegenden Grafschaften.
»Ich bin sicher, dass wir sie hier unterbringen können. Und Sie sorgen für die notwendigen Papiere?«, fragte Miss Henley.
Mrs. Barton lächelte zufrieden. »Aber natürlich, meine Liebe. Und darauf noch eine Scheibe Früchtebrot? Haben wir diese Köstlichkeit einem von den Mädchen zu verdanken?«
Froh, ihr Ziel erreicht zu haben, entspannte sie sich. Wie außerordentlich befriedigend es doch war, die Lösung für ein schwieriges Problem zu finden. Davon würde sie später ihrem Ehemann vorschwärmen.
»Ein ausgezeichnetes Arrangement, meine Liebe. Ich meine, ein solches Kind hätte man doch niemals einer netten Familie wie den Hendersons zumuten können, oder?«
Cathy wachte auf dem eiskalten Fußboden auf. Es war stockdunkel, und ein feucht-modriger Geruch hing in der Luft. Ihr fiel ein, wo sie war, und sie riss die Augen weit auf, in der Hoffnung, etwas zu sehen, irgendetwas erkennen zu können, um die pechschwarze Finsternis zu vertreiben. Es war totenstill, und ab und zu war ein leises Scharren zu hören, das von Mäusen verursacht wurde, wie Cathy instinktiv wusste. Die Mäuse machten ihr keine Angst. Sie hatte in ihrem jungen Leben Schlimmeres erdulden müssen.
Der Boden unter ihren Händen war nass, und Cathy setzte sich auf, rutschte blind zu einer Wand, an die sie sich lehnte. Sie hielt die Knie angezogen und die Arme fest um den Oberkörper geschlungen, um sich irgendwie zu wärmen.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch einmal Rons Leichnam und dann Eamonns Gesicht in dem Moment, als er ihr die Unschuld nahm. Beides vermischte sich in ihrem Kopf, und verzweifelt versuchte sie, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ihr Herz klopfte viel zu schnell, und sie kämpfte mit aller Kraft gegen das Gefühlschaos an, das in ihr brodelte. Weinen brachte nichts, das wusste sie. Sie musste versuchen, an etwas zu denken, das sie ablenkte, und daher besann sie sich auf ihre Mutter, froh darüber, dass Madge nach all den Jahren tatsächlich etwas für sie getan hatte.
Stumm sprach sie ihr Dank aus, und hier in diesem dunklen Verlies hoffte sie, dass Madge sie vielleicht hören konnte und erfuhr, wie dankbar sie ihr war.
Allein diese Hoffnung bewahrte sie davor, den Verstand zu verlieren.
 
Erst fünfzehn Stunden später kam Miss Henley auf den Gedanken, Cathy herauszulassen. Nachdem Mrs. Barton gefahren war, hatten sie sich in der Annahme schlafen gelegt, das Mädchen werde sich nach einer Nacht im Ruheraum gefügiger zeigen. Aber am Morgen war es zwischen zwei Insassinnen zu einem heftigen Streit gekommen, und es wurde früher Nachmittag, bevor man sich an Cathy erinnerte.
Als sie die schwere Tür öffnete, sah Miss Henley mit Erstaunen, dass Cathy ganz ruhig an der Wand saß. Ihre großen blauen Augen blickten leer, aber das war nach der ersten Bekanntschaft mit dem Ruheraum nicht ungewöhnlich, wie Miss Henley sich sagte.
»Hoch mit dir.«
Cathy rappelte sich auf und wartete auf weitere Anweisungen. Die dünne Jacke des Mädchens war von einer grünlichen Schicht Schimmel verfärbt, die von den feuchten Wänden stammte, und ihre Beine waren blau vor Kälte. Sie sagte noch immer kein Wort, folgte nur ihrer Gefängniswärterin aus dem Lagerraum heraus, unbeholfen und steif durch die Kälte und mangelnde Bewegung. In der Küche war es warm, und Cathy bemerkte, dass sie von Zwillingsmädchen misstrauisch beäugt wurde.
»Gebt ihr Tee, Brot und Marmelade. Und dann bringt sie zu mir ins Büro.«
Die Mädchen nickten nacheinander und sahen der Frau hinterher.
Die Zwillinge hatten dickes schwarzes Haar und große braune Augen, und beide wiesen zudem einen kleinen blauen Punkt über dem rechten Wangenknochen auf. Cathy erkannte an diesen sogenannten Borstal-Flecken sofort, wo sie sich befand: in einer Besserungsanstalt für jugendliche Straftäter.
»Ich bin Maureen und sie ist Doreen. Wir sind wegen Brandstiftung hier. Haben unsrer Mom das Haus abgefackelt.« Sie grinsten einander an, als hätten sie einen tollen Witz gemacht. »Und du, weswegen bist du hier?«
Cathy schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht.«
Die beiden sahen einander fragend an und zuckten die Achseln. »Behalt’s für dich, wenn du meinst, aber raus kriegen wir’s doch.«
Sie holten Brot und Margarine aus der Vorratskammer und schenkten Cathy heißen schwarzen Tee in einen Becher.
»Iss und trink erstmal, und dann sag uns, wie du heißt.« Cathy aß mit Heißhunger und nippte an dem dampfenden Tee, bis sie spürte, dass ihre Arme und Beine langsam auftauten.
»Ich bin Cathy Connor und komm aus dem East End.«
»Was hast du hier zu suchen? Diese Anstalt ist für junge Straftäterinnen. Also musst du doch was gemacht haben.«
Cathy schüttelte den Kopf. »Hab ich aber nicht. Nichts hab ich gemacht, echt nicht.« Sie erinnerte sich daran, was der nette Mann und die Polizistin ihr gesagt hatten.
Maureen sah ihr in die Augen und feixte. »Also in Ordnung, halt schön deine Klappe. Aber ich warn dich, Kleine. Denise will’s ganz bestimmt wissen, und die kriegt’s auch raus.«
In dem Augenblick kam Deidre zurück in die Küche. Cathy und die Zwillinge brachen ihr Gespräch ab.
Cathy sollte schon bald mehr über Denise erfahren.
006
Miss Henley musterte das Mädchen, das vor ihr stand, und verspürte eine ungewohnte Regung: ein schlechtes Gewissen. Das dicke blonde Haar der Kleinen war verfilzt, sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Beine waren blau gesprenkelt, weil sie auf dem eiskalten Fußboden hatte liegen müssen. Aber all das verursachte der Anstaltsleiterin weniger Unbehagen als die Tatsache, dass dieses Mädchen, juristisch gesehen, eigentlich gar nicht hier sein sollte. Sie hatte nämlich nichts verbrochen.
»Nun? Was hast du zu sagen?«
Cathy reagierte mit einem leichten Kopfschütteln. »Nichts, Miss. Ich hab nichts zu sagen.«
Miss Henley sah ihrem Gesicht an, wie verstört sie war.
»Solange du dich in meiner Anstalt befindest, dulde ich keine Widerrede, keine Raufereien und keine unflätigen Ausdrücke. Hast du verstanden, was ich dir sage? Wenn nicht, werde ich es noch einmal wiederholen. Wenn du mich verstanden hast und trotzdem meine Regeln brichst, kannst du sehen, wo du bleibst.« Miss Henley sagte das mit einem Lächeln, und Cathy sank der Mut.
»Und jetzt werde ich dich an Deidre weiterreichen, die dich mit einer Uniform ausstattet und dir dein Schlafquartier zuweist. Ein kleiner Rat: Hüte dich vor den anderen Mädchen. Die fackeln nicht lange. Die meisten sind bösartige junge Frauen mit starker Neigung zu gewalttätigem Verhalten. Ich dulde ein solches Verhalten absolut nicht, aber ich weiß, dass es manchen der Mädchen, sagen wir mal, schwerfällt, sich im Zaum zu halten. Das ist nicht als Warnung gedacht, sondern eine Feststellung. Sei auf der Hut und halte dich an meine Regeln, dann wirst du hier überleben. Also, hast du vielleicht eine Frage an mich?«
»Warum bin ich hier? Ich denke, es ist eine Anstalt für Straftäter?« Cathy sprach mit Absicht besonders höflich. Sie sah, wie sich die Augen der Frau verdüsterten, und hielt den Atem an.
»Das wird dir noch rechtzeitig erklärt werden. Deidre, bring sie in ihren Schlafraum.«
Cathy ahnte, dass sie sich gerade eine Feindin gemacht hatte, andererseits wusste sie nicht, wie sie es hätte vermeiden können. Wenn es stimmte, was die Zwillinge sagten, hätte sie gar nicht hier sein dürfen.
007
Deidre händigte ihr einen blauen Trägerrock aus, der Meilen zu lang war, und drei Paar dicke schwarze Strümpfe. Außerdem drei Taschentücher und zwei Paar Unterhosen. (Immer ein Paar am Leib und das andere in der Wäsche, wie Deidre erklärte.) Sie waren lang, marineblau und grau gepaspelt. Zu guter Letzt gab es noch zwei Unterhemden. Ihre Hausschuhe und die Schuhe für draußen würde sie abends bekommen, wenn Miss Henley die Schuhkammer öffnete.
Cathy wurde durch ein Labyrinth aus grün gestrichenen Korridoren geführt, bis sie ins oberste Stockwerk gelangten, wo sich früher die Unterkünfte der Hausmädchen befanden. Deidre schob sie sanft in ein kleines Zimmer mit einem hohen Fenster und zwei Betten.
»Hier schläfst du mit einem Mädchen, das Sally Wilden heißt. Auch so ein kleines Flittchen. Ich schätze, das wird bei euch Liebe auf den ersten Blick. Sally ist immer gut für Ärger, und wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, ist es mit dir nicht anders. Hab mich nämlich mein ganzes Leben lang um Mädchen wie euch gekümmert. Hier bin ich auch schon seit zehn Jahren, und wenn was faul ist mit einer, seh ich das auf den ersten Blick. Und schreib dir eins hinters Ohr: Leg dich nie mit Miss Henley an. Die ist fies und biestig, und Barton hast du dir ja schon zur Feindin gemacht. Also sei auf der Hut, Mädchen. Sei immer auf der Hut, und pass immer gut auf dich auf! Ich kann dir nämlich nur eins sagen: Wenn du’s nicht tust, dann tut’s keiner!«
Cathy sah direkt in das Raubvogelgesicht. »Ich dürfte gar nicht hier sein, denn das ist eine Anstalt für Straftäterinnen, oder? Und ich hab doch gar nichts getan.«
Deidre lächelte. »Wenn Barton dich hier haben will, dann bleibst du auch hier. Trag deine Nase nicht zu hoch, und halt immer schön die Klappe, dann ist alles gut. Wenn du erstmal hier drinnen bist, wird von draußen keiner mehr in deine Nähe kommen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Verunsichert ließ Cathy ihre Sachen im Zimmer und folgte Deidre nach unten. Der Karbolgestank war allgegenwärtig und vermischte sich mit dem Geruch von zerkochtem Kohl. Eine Kombination, von der einem übel werden konnte.
Cathy wünschte sich nichts als ein Bad und etwas Vernünftiges zu essen. Sie klammerte sich an diesen Gedanken, als sie den Klassenraum betraten. Ungefähr dreißig Augenpaare starrten sie neugierig an, und Cathy spürte, wie sie vor Verlegenheit rot wurde. Ohne ein weiteres Wort ließ Deidre sie vor der Klasse stehen und darauf warten, den anderen Mädchen vorgestellt zu werden.
Sie musste lange warten. Die Lehrerin, eine große und recht beleibte Frau, schenkte ihr keine Beachtung, sondern fuhr fort, die Klasse in persönlicher Hygiene zu unterweisen. Cathy sah zu und nahm alles in sich auf. Aber ihre Miene verriet nichts.
Sie musterte die Mädchen und die Lehrerin und beschloss, bei der allerersten Gelegenheit auszureißen.
Cathy Connor wusste, dass sie all ihr Sinnen und Trachten darauf richten musste, diesem Ort zu entfliehen. Und zwar allein.
Zumindest eine Person hier schien freundlich zu sein, und das war ein Anfang.
Sorgsam darauf bedacht, ein völlig unbeteiligtes Gesicht zu machen, verbrachte sie die nächsten anderthalb Stunden damit, konzentriert zuzuhören und zuzusehen.
Die Aufsteigerin
cole_9783641027995_oeb_cover_r1.html
cole_9783641027995_oeb_toc_r1.html
cole_9783641027995_oeb_fm1_r1.html
cole_9783641027995_oeb_ata_r1.html
cole_9783641027995_oeb_fm2_r1.html
cole_9783641027995_oeb_ded_r1.html
cole_9783641027995_oeb_fm3_r1.html
cole_9783641027995_oeb_p01_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c01_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c02_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c03_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c04_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c05_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c06_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c07_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c08_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c09_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c10_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c11_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c12_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c13_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c14_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c15_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c16_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c17_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c18_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c19_r1.html
cole_9783641027995_oeb_p02_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c20_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c21_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c22_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c23_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c24_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c25_r1.html
cole_9783641027995_oeb_p03_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c26_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c27_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c28_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c29_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c30_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c31_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c32_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c33_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c34_r1.html
cole_9783641027995_oeb_p04_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c35_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c36_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c37_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c38_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c39_r1.html
cole_9783641027995_oeb_p05_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c40_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c41_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c42_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c43_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c44_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c45_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c46_r1.html
cole_9783641027995_oeb_p06_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c47_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c48_r1.html
cole_9783641027995_oeb_c49_r1.html
cole_9783641027995_oeb_elg_r1.html
cole_9783641027995_oeb_cop_r1.html