Kapitel acht
Cathy wurde von einem Arzt untersucht, und Richard
Gates schaute unbewegt zu. Wie immer war der Polizeiarzt in Gates’
Gegenwart nervös, und seine Finger zitterten leicht, als er Cathys
Nachthemd wieder zuknöpfte. Nachdem er das Mädchen in die grobe
Decke gehüllt hatte, wandte er sich an den weiblichen Constable und
sagte: »Sie steht unter extremem Schock.«
Hastig unterbrach Gates: »Sie kann also noch keine
Aussage machen?«
Dr. Angus Miller sah den hünenhaften Mann direkt
an. »Nein, wenn Sie meinen, es wäre nicht ratsam …« Er
verstummte.
Gates lächelte. »Genau das meine ich. Danke, Doktor
Miller, Sie sind ein Mordskumpel.« Der Spott in seiner Stimme war
nicht zu überhören, und der andere Mann verstaute eilig seine
Utensilien in seiner schwarzen Tasche und machte, dass er fort
kam.
»Es muss aber dringend etwas geschehen, Sir«, sagte
die Beamtin.
Gates nickte. »Richtig, Doreen. Waschen Sie das
arme Ding, und machen Sie es zurecht. Ich werde mich derweil um
ihre Mutter kümmern.«
Madge war verwirrt und ungnädig. Es war jetzt
Viertel nach zehn Uhr morgens, und seit ihrer letzten Begegnung mit
diesem Dreckskerl Gates hatte sie weder Tee noch Kaffee oder gar
ein Frühstück bekommen. Sie wusste, dass es auf seine Anordnung
geschah, und durstig, hungrig und verängstigt, wie sie war, fragte
sie sich, was er wohl als Nächstes vorhatte. Eins wusste sie jedoch
genau: Kampflos würde er niemals aufgeben. Und sie war sich nicht
mehr sicher, ob sie ihm und seinem eisernen Willen gewachsen
war.
Ohne sich zu zeigen, sah Gates zu, wie Madge in
ihrer Zelle auf und ab tigerte. Er grinste zufrieden, denn er
wusste sehr genau, welche psychologischen Vorteile sich dadurch
ergaben, dass man ihr alles verweigerte. Allein schon eine Tasse
Tee konnte als Kontakt mit der Außenwelt angesehen werden und sie
eventuell in ihren Vorsätzen bestärken. Wenn ihm Zeit geblieben
wäre, hätte er sie ein, zwei Tage ohne Nahrung und Getränke, ja
sogar ohne Toilette schmoren lassen. Diese Methode war fast immer
erfolgreich. Übeltäter dazu zu zwingen, sich nackt auszuziehen, war
ebenfalls hilfreich, besonders bei Frauen. Aber leider hatte er in
diesem Fall die Zeit nicht auf seiner Seite. Entweder musste er sie
offiziell einer Straftat beschuldigen oder sie gehen lassen. Aber
Madge würde er beschuldigen.
Als sie hörte, dass die Tür aufgeschlossen wurde,
wusste sie nicht, ob sie sich fürchten oder erleichtert sein
sollte. Als sie Gates sah, entschied sie sich fürs Fürchten.
»Hallo, Madge, besonders froh siehst du ja nicht
aus. Warum das denn nicht?« Sein süffisanter Singsang ängstigte sie
mehr, als wenn er sie angeschrien hätte. Aber Gates wurde ohnehin
nur selten laut. Die sanfte Stimme war sein Markenzeichen, und er
sagte immer: Eine sanfte Stimme richtet mehr aus als ein harter
Knüppel.
Seine strenge Miene, die zusammengepressten Lippen
und die furchterregende Kälte seines Blicks ließen Madge
erschauern. »Hören Sie, Mr. Gates …«
Er unterbrach sie. »Langsam fällst du mir echt auf
die Nerven, Madge. Noch nie in all den Jahren musste ich wegen ‘ner
alten Schachtel wie dir so viel durch die Gegend rennen. Ich hab
langsam das Gefühl, dass du mich zum Narren halten willst.«
Madge schüttelte den Kopf und stammelte: »Nein,
nein, Mr. Gates.«
Er stieß sie grob auf die schmale Pritsche. »Ich
hab von der Nummer gehört, die du mit Susan P. abgezogen hast. Die
Frau ist jetzt mächtig sauer. Will wissen, wer sie verpfiffen hat,
verstehst du? Auf der Straße würdest du keine fünf Minuten
überleben, wenn ich ihr erzähle, du hast deine große Klappe
aufgerissen über die Erpressung vom Oberrichter. Ich mein, da hat
sie doch ein sehr einträgliches Geschäft laufen. Stell dir vor,
damit ist Schluss oder sie wird sogar verhaftet. Susan P. ist nicht
die Frau, mit der man sich verkrachen sollte. Sie kann
fuchsteufelswild werden. Und sie liebt Kinder. Aber das weißt du ja
selbst.«
Man sah Madge das Entsetzen an. Ein Schmunzeln
unterdrückend, setzte Gates sie weiter unter Druck.
»Sie hat nach deiner Tochter gefragt, als ich mit
ihr sprach. Wollte wissen, ob für die Kleine gesorgt ist, wenn du
in den Bau gehst. Hat sogar angeboten, die Kleine im Auge zu
behalten. Was sagst du dazu, Madge? Susan P. setzt sich ein für
deine kleine Cathy. Fühlst du dich da nicht gleich viel besser? Ich
mein, überleg doch mal. Susan P. und ich, wir beide kümmern uns um
sie. Da ist sie doch besser beschützt als die verdammte Queen und
ihr Mann, dieser schwule Grieche.«
Madge war klar, dass sie sich geschlagen geben
musste. Sie betrachtete den großen Mann, der vor ihr stand, und
fügte sich in das Unvermeidbare. Wenn er Susan P. erzählt hatte,
dass sie den Mund aufgemacht hatte, war sie schon so gut wie tot.
Susan P. war berühmt für ihre Fairness - und dafür, dass sie
unbarmherzig Gewalt anwenden konnte, wenn sie es für angebracht
hielt.
Genau wie Richard Gates.
Beide hatten ihre eigene Art, die Dinge zu
betrachten und zu erledigen, und einen so starken Willen, dass sie
alles erreichten, was sie sich zum Ziel gesetzt hatten.
Eine Welle von Hass schlug über Madge zusammen, als
sie an
ihre Tochter dachte. Cathy besaß Jugend, gutes Aussehen und
Freunde. Damit war sie fraglos auf der Gewinnerstraße.
Eine dicke Träne sammelte sich in ihrem
Augenwinkel, die sie mit einem nikotingelben Finger
wegwischte.
»Möchtest du eine Tasse Tee, Madge, und vielleicht
auch was zu futtern?«
Gates klang jetzt sanfter und freundlicher. Er
hatte erreicht, was er wollte, und es gab keinen Grund, weiter
Druck zu machen.
Sie nickte bedrückt, und er lächelte sie an, ein
ehrlich gemeintes Lächeln, das ihn völlig veränderte. »Kopf hoch,
Mädchen. Im Knast passieren noch schlimmere Sachen - hab ich mir
zumindest sagen lassen!«
Er hatte sein Vorhaben abgeschlossen. Und wenn er
sein Ziel erreicht hatte, war er gewöhnlich gelangweilt und wollte
am liebsten sofort zum nächsten Punkt auf seiner Tagesordnung
übergehen. Draußen vor der Zelle sagte er zu seinem DC: »Bringen
Sie ihr was zum Frühstück und ein Aussageformular. Sobald sie
unterschrieben hat, wird sie offiziell angeschuldigt. Dann holen
Sie die Fürsorge wegen des Mädchens. Ich geh und werd mich erstmal
waschen und rasieren und ausscheißen.«
Dann hatte er auch schon das Gebäude verlassen.
Völlig verdutzt sah DC Fuller seinem Boss nach. Es hatte alles
danach ausgesehen, als würde die alte Fregatte niemals ihre Segel
streichen, aber ein wenig Spezialbehandlung nach der Art von Gates,
und schon hieß es: Ich gestehe.
Also, mal wieder ein spannender Abend auf dem
Polizeirevier von Bethnal Green, spannender als jeder
Fernsehkrimi!
Cathy wurde gewaschen und angezogen. Sie saß im
Verhörraum und sah sich verwirrt um. Die schmutzigen Wände und der
zerkratzte Tisch ließen ahnen, dass viele Menschen hier stundenlang
eingesperrt gewesen waren. Dunkle Flecken an den Wänden und auf dem
Fußboden verrieten überdies, dass manche von ihnen gegen ihren
Willen festgesetzt und mit Gewalt dazu
bewegt worden waren, ihre Geständnisse zu machen. Trotz ihrer
Jugend wusste Cathy darüber Bescheid. Dort, wo sie wohnte, waren
Geschichten über die Brutalität der Polizei gang und gäbe, und sie
wurden nicht selten mit gewissem Stolz erzählt. Es sah fast so aus,
als würde ein junger Mann erst dann als echter Ganove gelten, wenn
er von der Polizei in die Mangel genommen worden war. Das war für
sie von ebenso großer Bedeutung wie das erste Sexgefummel oder der
allererste Einbruch.
Ein Schauder lief Cathy über den Rücken, als sie
die dunklen Flecken betrachtete und sich ausmalte, welche
Strafaktionen in diesem Raum vollzogen worden waren. Instinktiv
ahnte sie, dass der nette Gates sich dabei besonders hervortat. Er
behandelte gewiss nicht alle so wie sie. Sie schloss die Augen, um
sich vorzustellen, wie es mit ihr weitergehen mochte. Sie wusste
nur, dass man ihre Mutter angeklagt hatte und dass sie von einer
Sozialarbeiterin in Obhut genommen und der Fürsorge überstellt
werden sollte. Schon das Wort machte ihr Angst.
Fürsorge. Nach dem, was sie von Schulfreunden
gehört hatte, konnte das Wort »Fürsorge« im Sprachgebrauch der
Sozialdienste alles Mögliche bedeuten. Die Tür ging auf. Mit großen
Augen schaute sie auf die Frau mit dem grünen Topfhut und dem
orangefarbenen Lippenstift, die hereingekommen war.
»Das ist das Kind?«
Die Polizistin nickte wortlos. Sie fühlte mit dem
Mädchen. Diese Schreckschraube mit dem Geiergesicht sah zum
Fürchten aus. Alles an ihr war knochig und eckig, angefangen bei
den hohen Wangenknochen über die Handgelenke bis hinunter zu den
Knöcheln. Wie unglaublich spitz ihre Knie waren, sah die Polizistin
erst, als die Frau sich gesetzt hatte.
»Name, Kind?«
Stumm sah Cathy die Frau an.
Die junge Polizistin hatte Mitleid mit dem Mädchen
und sagte leise: »Sie steht noch immer unter Schock.«
Die Frau warf ihr einen eisigen Blick zu und sagte
mit schneidender
Stimme: »Wenn ich Ihre Meinung hören möchte, werde ich Sie es
wissen lassen.«
Cathy starrte nur geradeaus. Nach einem Seufzer
sagte die Frau knapp: »Trotz bringt dir gar nichts, junge Dame.«
Dann fügte sie hinzu: »Ich möchte dir nur raten, mit mir
zusammenzuarbeiten. Ich kann dir das Leben so leicht machen oder so
schwer, wie es mir passt. Es ist nur zu deinem Besten, wenn du das
nicht vergisst.« Mit einem Blick zur Polizistin sagte sie: »Bringen
Sie uns Tee.«
Widerwillig verließ die Polizistin den Raum.
Mrs. Mary Barton, Sozialarbeiterin, musterte das
Mädchen. Die herzförmige Oberlippe und der natürliche Schwung der
Augenbrauen gefielen ihr nicht. Das Kind sah bereits äußerst
erwachsen aus. Dass die Brüste dieses jungen Mädchens den dünnen
Stoff des ausgeliehenen Kleides fast zu sprengen drohten, machte
sie ärgerlich. Im Grunde störte sie alles an diesem Kind. Mädchen
aus der Arbeiterklasse wurden bereits als Frauen geboren. Sie
entwickelten sich schneller, sie sahen den Männern früher
hinterher, und wie sie aus eigener Erfahrung bestätigen konnte,
produzierten sie auch viel früher die nächsten Kinder.
Diese hier mit ihrem auffallend blonden Haar und
den großen blauen Augen brauchte dringend eine feste Hand, und Mary
Barton wusste genau, wem diese Hand gehörte. Aber noch nicht. Sie
hatte daran gedacht, das Kind bei der Familie Henderson in
Totteridge in Pflege zu geben.
Cathy strich sich das Haar aus den Augen und ließ
es über eine Schulter fallen. Diese anmutige und absolut unbewusste
Geste ließ Mrs. Barton mit den falschen Zähnen knirschen.
Kein Zweifel: Hier wuchs eine Hure heran. Aber ein
paar Monate in der Benton School for Girls würden diesem kleinen
Flittchen garantiert die Flausen austreiben! Jetzt noch mit Tee und
Mitgefühl Zeit zu verschwenden, war unangebracht.
»Komm, Kind, wir haben eine lange Fahrt vor
uns.«
»Darf ich vorher noch meine Mom besuchen?«
Mrs. Barton schüttelte heftig den Kopf. »Nein,
darfst du nicht. Das hier ist ein Polizeirevier und kein
Ferienlager. Deine Mutter wird beschuldigt, einen Mord begangen zu
haben, und ist inzwischen bestimmt schon auf dem Weg nach Holloway.
Schnellstens weg mit dem letzten Dreck, kann ich dazu nur sagen.
Irgendwann wirst du sie wohl mal wiedersehen. Wenn du dich gut
aufführst.«
Das war eine Drohung, die Cathy durchaus verstand,
obwohl sie völlig durcheinander war. Als Mrs. Barton Papiere und
Akten zusammensammelte, machte sie noch einen Versuch: »Darf ich
nicht mal auf Wiedersehen sagen?«
Mrs. Barton tat so, als hätte sie dieses empörende
Ansinnen gar nicht gehört, aber ihre Körpersprache sagte etwas
anderes. Cathy senkte den Kopf und unterdrückte die Tränen. Die
nette Polizistin hatte ihr erzählt, dass Madge die Schuld an der
tödlichen Messerattacke auf sich genommen hatte und dass Cathy
stillschweigen und zu niemandem auch nur ein Wort darüber verlieren
sollte. Dann hatte sie Cathy fest in die Arme geschlossen und dabei
so schön nach Lavendel und Zahnpasta gerochen. Cathy hätte die
Umarmung gern erwidert, hatte sich aber nicht getraut.
Sie wusste jetzt also, dass ihre Mutter die Schuld
auf sich genommen hatte, und dieses Wissen war Balsam für ihre
Seele. Sie hatte gedacht, dass sie ihrer Mutter nichts bedeutete,
aber anscheinend tat sie es doch.
Die Tränen, die Cathy jetzt in die Augen stiegen,
wischte sie ganz schnell weg. Eine leise Stimme flüsterte ihr ein,
die Wahrheit zu sagen. Aber das durfte sie nicht. Die nette
Polizistin hatte gesagt, dass der große Mann mit dem schütteren
Haar und der ruhigen Stimme sehr böse mit ihr würde, wenn sie den
Mund aufmachte. Dass ihre Mutter es ihr schuldig gewesen sei und
dass sie das Richtige getan hatte.
Obwohl sie gewollt hatte, dass sich ihre Mutter so
verhielt, spürte Cathy jetzt Angst um sie. Sie liebte ihre Mom sehr
und verstand sie.
Als sie Mrs. Barton zu deren kleinem Auto nach
draußen folgte, sah sie sich noch ein letztes Mal zum Polizeirevier
um. Dann nahm sie alle Kraft zusammen und stieg ins Auto. Wohin man
sie auch bringen mochte, Eamonn würde kommen und sie mitnehmen.
Dann würde alles wieder in Ordnung sein.
An diesen Gedanken klammerte sie sich, als die
Fahrt nach Kent begann, und erschöpft und ängstlich suchte sie
irgendwann Zuflucht im Schlaf.
Eamonn Docherty Senior durfte Madge in der
Untersuchungshaft einen Besuch abstatten, und sie begrüßte ihn mit
einem matten Lächeln.
»So weit musste es kommen, damit du mich besuchst,
ohne zu streiten, hm?« Ihre Stimme klang hart, aber sie sah
abgehärmt und müde aus.
»Die vom Sozialdienst haben Cathy geholt. Ich hab
versucht, dich schon früher zu besuchen, aber das durfte ich
nicht.«
Madge schien beschwichtigt. Sie nickte.
»Du hast es also für sie getan. Ein mächtig feiner
Zug von dir«, sagte er.
Sie steckte sich eine Zigarette an und schnaubte
verächtlich. »Unter Zwang, Eamonn, unter Zwang. Glaub nur nicht,
dass ich was Großmütiges hab, das hab ich nämlich nicht. Wenn ich
das kleine Gör hier vor mir hätte, würd ich ihr den Hals umdrehen!
Sie hat ihn abgestochen, und mit vierzehn hätte sie dafür
geradestehen müssen, mein Lieber. Sie wär bald wieder draußen
gewesen. So wie’s aussieht, muss ich wohl alles absitzen. Und was
diesen Scheißkerl Gates angeht, den werd ich mir schon noch kaufen.
Alle beide nehm ich sie mir vor.«
Eamonn Senior schüttelte resigniert den Kopf.
»Madge, ich hatte gehofft, du wärst endlich zur Vernunft gekommen.
Hättest du diesen Abschaum nicht mit nach Hause gebracht, wär das
alles nicht passiert. Allein du hast das alles zu
verantworten. Alles. Das Mädchen war deine größte Stütze, aber das
hast du ja
gar nicht gemerkt. Du warst hier und da mal lieb zu ihr, wenn es
dich überkam. Je älter sie wurde, desto mehr hast du ihr von der
Verantwortung aufgebürdet, die dir zukam. Benutzt hast du das
Mädchen und ausgenutzt … Eins will ich dir sagen, Lady. Ich bin
froh, dass Gates dich zur Räson gebracht hat. Ich bin froh, dass du
lange hinter Gittern bleibst, Madge, denn zu was anderem taugst du
nicht. Jede anständige Mutter hätte achtgegeben auf das Mädchen,
aber du nicht. O nein, du hättest sie am liebsten schon zur Arbeit
auf die Straße mitgenommen. Das hatte dein Kerl auch im Sinn, da
brauchst du dir nichts vorzumachen. Ich lass dich hier in deinem
eigenen Saft schmoren. Und ich kann nur hoffen, dass es dir so
schlecht ergeht, wie du’s verdient hast. Ich weiß gar nicht, warum
ich hergekommen bin.«
»Warum, Eamonn?« Madge war leise geworden, und ihre
Stimme hatte einen flehentlichen Unterton, auf den er trotz seines
Grolls einging.
»Ich bin hergekommen, Madge, weil wir beide
jahrelang zusammen waren und ich das Mädchen wie mein eigen Kind
gesehen hab. Ich hatte gehofft, hier eine neue Madge Connor
vorzufinden. Eine reuevolle Frau, die zu guter Letzt aus ihrem
verhunzten Leben doch nochmal etwas Anständiges gemacht hatte.
Deswegen bin ich gekommen.« Er sah ihr in die feuchten Augen und
hoffte wider besseres Wissen, ein Zeichen von Menschlichkeit darin
zu entdecken.
»Nun, dann hast du dich wohl umsonst hierher
bequemt, was?« Mit einem verächtlichen Lachen stand Madge auf und
servierte ihn ab, indem sie ihm den Rücken zukehrte und nach einer
Wärterin verlangte, die sie in ihre Zelle zurückbrachte.
Als er ihr nachsah, staunte er darüber, wie
gefühllos sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden geworden war.
Sie hatte Angst vorm Gefängnis. Aber wer hatte das nicht? Aber ganz
bestimmt musste sie doch einsehen, dass es richtig war, anstelle
des Mädchens ins Gefängnis zu gehen.
Ratlos den Kopf schüttelnd angesichts der
weiblichen Launenhaftigkeit,
verließ Eamonn Senior das Gefängnis Holloway und steuerte den
nächsten Pub an, wo er sich bis zur Besinnungslosigkeit
betrank.
Cathy erwachte, als sie die Uferstraße von Deal
erreicht hatten. So viele Lichter und das Meer hatte sie noch nie
zuvor gesehen, und sie sah eine ganze Zeit staunend um sich, bis
ihr plötzlich wieder einfiel, wohin man sie brachte und warum es
geschah.
Urlauber spazierten im Regen auf der Promenade,
Papiertüten mit Fish & Chips in den Händen. Kleine Kinder
tobten um sie herum, spielten Fangen. Juxhüte und riesige rosa
Zuckerstangen lockten, wohin man blickte, und die Frauen in ihren
bunten Kleidern und mit den modisch zurückgekämmten Haaren sahen
ganz wunderbar aus.
Cathy sah einen Mann seine winzige Tochter
hochheben und über den Kopf stemmen. Sie nahm auch dessen Frau
wahr, die mit beglücktem Gesichtsausdruck zuschaute. Cathy
beneidete sie um ihre Freude, die Zufriedenheit und Beständigkeit
in ihrem Leben.
Nachdem sie die Uferstraße verlassen hatten, fuhren
sie eine lange, kurvenreiche Straße hinauf. Hier und da zeigten
sich sehr schöne Häuser mit gepflegten Gärten und teuren Autos auf
den Zufahrten. Sie waren strahlend hell erleuchtet und wirkten warm
und einladend.
Als sie schließlich in eine kleine Nebenstraße
einbogen, regte sich in Cathy eine dunkle Vorahnung.
»Fast da«, sagte Mrs. Barton knapp.
Als sie an einem riesigen schmiedeeisernen Tor
angekommen waren, hielt sie an, stieg aus und zog an einem
altmodischen langen Glockenseil. Inzwischen war die Kälte auch ins
Auto gedrungen, und Cathy fröstelte. Es war eine feuchte Kälte, die
durch und durch ging. Im Gegensatz zu den anderen Häusern, an denen
sie vorbeigefahren waren, wirkte dieses Gebäude ganz und gar nicht
freundlich und einladend, sondern strahlte Kälte
und Feindseligkeit aus. Es hingen keine Gardinen vor den Fenstern,
sondern sie waren mit Metallgittern gesichert, und es gab auch
keine hübschen Backsteinmauern, sondern nur einen Maschendrahtzaun
und Stacheldraht. Man hatte den Eindruck, vor einer Festung zu
stehen.
Ein älterer Mann öffnete das Tor. Als sie an ihm
vorüberfuhren, spähte er mit wässrigen Augen ins Auto. Ohne sich zu
rühren, verfolgte er sie mit Blicken, bis sie um eine Kurve in der
Auffahrt verschwunden waren.
Als sie das Haus in seiner ganzen Größe erblickte,
bekam Cathy einen furchtbaren Schreck. Es war riesig, ein altes
viktorianisches Gebäude, nicht um der Wohnlichkeit willen
errichtet, sondern allein, um zu beeindrucken. Als sie ausstiegen,
erfasste Cathy ein beißend kalter Windstoß, der durch die geborgte
Kleidung bis auf ihre Haut drang.
Die imposante Eingangstür ging auf, um sie
einzulassen. In der Halle mit ihrer hohen Decke war es unglaublich
kalt. Die Frau, von der sie begrüßt wurden, hatte einen ausladenden
Busen und ein Raubvogelgesicht. Von ihrer schnabelförmigen Nase
wischte sie mit einem schmutzigen Taschentuch einen Tropfen
ab.
»Und wen haben wir da?«
Mrs. Barton reagierte mit einer verächtlichen Geste
und stieß die Frau von sich. »Wo ist Miss Henley? Sag ihr, dass ich
da bin. Dann nimm das Mädchen hier und gib ihr was zu essen. Und
mir bringst du eine Tasse heißen Tee. Ob du dir das wohl alles
merken kannst, Deidre?«
»Ja, Mrs. Barton, Ma’am.« Die Frau nickte, und ihre
Hakennase bebte vor unterdrückter Empörung.
Sie packte Cathy am Arm und zerrte sie durch die
Eingangshalle in ein kleines Büro. Als sie die Tür öffnete, schlug
ihnen warme Luft entgegen.
»Mrs. Barton ist da und möchte Sie sprechen. Diese
kleine Lady hier hat sie mitgebracht.« Deidres Stimme triefte von
verletztem
Stolz, und die kleine mollige Frau hinter dem Schreibtisch sah
Cathy erstaunt an.
»Sie möchte Tee und will mit Ihnen sprechen«, fuhr
Deidre fort.
»Bring das Mädchen in die Küche und hol den Tee.
Ich kümmere mich um Mrs. Barton.«
Cathy bemerkte den schneidend kalten Ton der Frau
sehr wohl und schmunzelte. Hier war eine Frau, die sich bestimmt
nicht von der Sozialarbeiterin einschüchtern ließ.
»Was gibt’s zu sehen, Mädchen?« Die Stimme klang
barsch und würde gewiss keine Widerrede dulden.
Cathy schüttelte bedrückt den Kopf.
»In diesem Haus wird geantwortet, wenn man gefragt
wird. Also, Mädchen?«
Sie schüttelte abermals den Kopf und wollte sich
erklären, brachte aber kein Wort heraus.
»Schaff sie fort, Deidre. Sie ist offenbar
zurückgeblieben.« Der verächtliche Ton war zu viel für Cathy, und
ihr stiegen Tränen in die Augen.
»So’n Scheiß! Ich bin nicht zurückgeblieben!« Die
Wörter waren heraus, bevor ihr bewusst wurde, was sie getan hatte.
Sie standen laut und schrill im überheizten Raum, und die Miene der
molligen Frau verriet entgeisterte Fassungslosigkeit.
»Schaff sie weg, Deidre. Bring sie in den Ruheraum.
Nichts zu essen und gar nichts, bis ich was anderes anordne.«
Deidre fasste Cathy grob am Arm und schleifte sie
eine lange Treppe hinunter. Sie wollte sich zur Wehr setzen und
wurde dafür heftig gekniffen.
»Du wirst dich noch umsehen, junge Dame. Miss
Henley duldet keine Aufmüpfigkeit. Sie haut dir links und rechts um
die Ohren, bis du nicht mehr weißt, wo dir der Kopf steht. Und wenn
du noch so lange heulst, damit erreichst du bei ihr absolut
nichts.« Sie zog Cathy durch die Küche, öffnete eine schwere
Metalltür und stieß das Mädchen in die Dunkelheit.
Eiskalte Dunkelheit.
Als Cathy merkte, was geschah, wollte sie noch
schnell zur Tür hinaus, doch ein kräftiger Stoß ließ sie rückwärts
taumeln und auf dem feuchten Fußboden landen. Die Tür schlug laut
und mit unerbittlicher Endgültigkeit zu. Cathys Herz klopfte wie
wahnsinnig, und die Gedanken rasten durch ihren Kopf.
Sie schluchzte bitterlich vor Angst und Wut. Aber
davon war durch die dicke Metalltür nichts zu hören, und es hätte
sowieso niemanden gekümmert.
An so einen Ort war sie geraten.
Leona Henley lauschte aufmerksam der jammervollen
Geschichte, die Mrs. Barton zu berichten hatte, schenkte ihr Tee
nach und bot Backwerk an, dazu auch kleine Sandwiches und Scheiben
von köstlichem Früchtebrot.
»Dass dieses Mädchen Ärger machen würde, wusste ich
vom allerersten Moment an. Jetzt verstehen Sie wohl, warum ich sie
hergebracht habe«, schloss die Sozialarbeiterin.
Miss Henley hörte auch das mit Interesse und sagte:
»Ich sollte sie wirklich nicht aufnehmen. Das hier ist eine Anstalt
für Straffällige. Diese Mädchen sind zu jung fürs Gefängnis, und
daher werden sie zu mir gebracht. Hauptsächlich Diebinnen, wie Sie
ja wissen, und gewalttätige Straßenmädchen. Um das Kind hier
aufzunehmen, bräuchte ich einen Gerichtsbeschluss.«
Sie wurde von Mrs. Barton unterbrochen.
»Die notwendigen Papiere kann ich uns beschaffen.
Das Mädchen hat mich ja praktisch tätlich angegriffen. Ich werde
ganz offiziell Klage einreichen, und das müssen Sie ebenfalls tun.
Man kann doch wohl nicht erwarten, dass ich Pflegeeltern mit diesem
Mädchen belaste, oder? Sie hat erlebt, wie ihre Mutter, eine Hure,
einen Mann ermordet hat, und, unter uns, Miss Henley, ich bin
überzeugt, dass sie bereits demselben Gewerbe nachging wie die
Mutter. Im Bericht des Arztes heißt es, dass sie erst kürzlich
Geschlechtsverkehr hatte.«
Entrüstet zog Miss Henley die Augenbrauen in die
Höhe.
»Ich vermute nämlich, die Mutter hat sie in
flagranti erwischt, und dann ist es zur Tragödie gekommen. Da haben
wir ein kleines Flittchen, das kann ich Ihnen sagen. Braucht eine
feste Hand. Und darum hab ich auch an Sie gedacht. Wenn ich
gesetzmäßig keine Pflegestelle für sie finde, sind Sie sowieso mein
letzter Ausweg. Wo ich hinkomme, preise ich Sie auch immer in den
höchsten Tönen.«
Miss Henley wusste, dass sie in der Zwickmühle
steckte. Diese Gewitterziege wollte das Kind loswerden, und sie
würde es auch loswerden. Das war nicht zu verhindern. Sie war
einmal Zeugin geworden, wie diese Frau ein aufsässiges Kind
bewusstlos geprügelt hatte, und zwar mit einer grausamen Wut, die
sogar sie selbst erstaunt hatte, obwohl sie sich weiß Gott auch
schon desselben Verhaltens schuldig gemacht hatte. Mrs. Barton war
doppelt gefährlich, weil sie beste Beziehungen hatte. Zu den
wichtigsten Leuten. Sie konnte ein Haus über Nacht schließen
lassen, wenn es ihr gefiel. Ihre Macht war groß, und sie übte sie
skrupellos aus.
Ihr Ehemann war Mr. Justice Barton und ihr Bruder
der Regionalleiter der Sozialdienste für London und die umliegenden
Grafschaften.
»Ich bin sicher, dass wir sie hier unterbringen
können. Und Sie sorgen für die notwendigen Papiere?«, fragte Miss
Henley.
Mrs. Barton lächelte zufrieden. »Aber natürlich,
meine Liebe. Und darauf noch eine Scheibe Früchtebrot? Haben wir
diese Köstlichkeit einem von den Mädchen zu verdanken?«
Froh, ihr Ziel erreicht zu haben, entspannte sie
sich. Wie außerordentlich befriedigend es doch war, die Lösung für
ein schwieriges Problem zu finden. Davon würde sie später ihrem
Ehemann vorschwärmen.
»Ein ausgezeichnetes Arrangement, meine Liebe. Ich
meine, ein solches Kind hätte man doch niemals einer netten Familie
wie den Hendersons zumuten können, oder?«
Cathy wachte auf dem eiskalten Fußboden auf. Es
war stockdunkel, und ein feucht-modriger Geruch hing in der Luft.
Ihr fiel ein, wo sie war, und sie riss die Augen weit auf, in der
Hoffnung, etwas zu sehen, irgendetwas erkennen zu können, um die
pechschwarze Finsternis zu vertreiben. Es war totenstill, und ab
und zu war ein leises Scharren zu hören, das von Mäusen verursacht
wurde, wie Cathy instinktiv wusste. Die Mäuse machten ihr keine
Angst. Sie hatte in ihrem jungen Leben Schlimmeres erdulden
müssen.
Der Boden unter ihren Händen war nass, und Cathy
setzte sich auf, rutschte blind zu einer Wand, an die sie sich
lehnte. Sie hielt die Knie angezogen und die Arme fest um den
Oberkörper geschlungen, um sich irgendwie zu wärmen.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch einmal Rons
Leichnam und dann Eamonns Gesicht in dem Moment, als er ihr die
Unschuld nahm. Beides vermischte sich in ihrem Kopf, und
verzweifelt versuchte sie, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Ihr Herz klopfte viel zu schnell, und sie kämpfte mit aller Kraft
gegen das Gefühlschaos an, das in ihr brodelte. Weinen brachte
nichts, das wusste sie. Sie musste versuchen, an etwas zu denken,
das sie ablenkte, und daher besann sie sich auf ihre Mutter, froh
darüber, dass Madge nach all den Jahren tatsächlich etwas für sie
getan hatte.
Stumm sprach sie ihr Dank aus, und hier in diesem
dunklen Verlies hoffte sie, dass Madge sie vielleicht hören konnte
und erfuhr, wie dankbar sie ihr war.
Allein diese Hoffnung bewahrte sie davor, den
Verstand zu verlieren.
Erst fünfzehn Stunden später kam Miss Henley auf
den Gedanken, Cathy herauszulassen. Nachdem Mrs. Barton gefahren
war, hatten sie sich in der Annahme schlafen gelegt, das Mädchen
werde sich nach einer Nacht im Ruheraum gefügiger zeigen. Aber am
Morgen war es zwischen zwei Insassinnen zu einem
heftigen Streit gekommen, und es wurde früher Nachmittag, bevor
man sich an Cathy erinnerte.
Als sie die schwere Tür öffnete, sah Miss Henley
mit Erstaunen, dass Cathy ganz ruhig an der Wand saß. Ihre großen
blauen Augen blickten leer, aber das war nach der ersten
Bekanntschaft mit dem Ruheraum nicht ungewöhnlich, wie Miss Henley
sich sagte.
»Hoch mit dir.«
Cathy rappelte sich auf und wartete auf weitere
Anweisungen. Die dünne Jacke des Mädchens war von einer grünlichen
Schicht Schimmel verfärbt, die von den feuchten Wänden stammte, und
ihre Beine waren blau vor Kälte. Sie sagte noch immer kein Wort,
folgte nur ihrer Gefängniswärterin aus dem Lagerraum heraus,
unbeholfen und steif durch die Kälte und mangelnde Bewegung. In der
Küche war es warm, und Cathy bemerkte, dass sie von
Zwillingsmädchen misstrauisch beäugt wurde.
»Gebt ihr Tee, Brot und Marmelade. Und dann bringt
sie zu mir ins Büro.«
Die Mädchen nickten nacheinander und sahen der Frau
hinterher.
Die Zwillinge hatten dickes schwarzes Haar und
große braune Augen, und beide wiesen zudem einen kleinen blauen
Punkt über dem rechten Wangenknochen auf. Cathy erkannte an diesen
sogenannten Borstal-Flecken sofort, wo sie sich befand: in einer
Besserungsanstalt für jugendliche Straftäter.
»Ich bin Maureen und sie ist Doreen. Wir sind wegen
Brandstiftung hier. Haben unsrer Mom das Haus abgefackelt.« Sie
grinsten einander an, als hätten sie einen tollen Witz gemacht.
»Und du, weswegen bist du hier?«
Cathy schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht.«
Die beiden sahen einander fragend an und zuckten
die Achseln. »Behalt’s für dich, wenn du meinst, aber raus kriegen
wir’s doch.«
Sie holten Brot und Margarine aus der Vorratskammer
und schenkten Cathy heißen schwarzen Tee in einen Becher.
»Iss und trink erstmal, und dann sag uns, wie du
heißt.« Cathy aß mit Heißhunger und nippte an dem dampfenden Tee,
bis sie spürte, dass ihre Arme und Beine langsam auftauten.
»Ich bin Cathy Connor und komm aus dem East
End.«
»Was hast du hier zu suchen? Diese Anstalt ist für
junge Straftäterinnen. Also musst du doch was gemacht haben.«
Cathy schüttelte den Kopf. »Hab ich aber nicht.
Nichts hab ich gemacht, echt nicht.« Sie erinnerte sich daran, was
der nette Mann und die Polizistin ihr gesagt hatten.
Maureen sah ihr in die Augen und feixte. »Also in
Ordnung, halt schön deine Klappe. Aber ich warn dich, Kleine.
Denise will’s ganz bestimmt wissen, und die kriegt’s auch
raus.«
In dem Augenblick kam Deidre zurück in die Küche.
Cathy und die Zwillinge brachen ihr Gespräch ab.
Cathy sollte schon bald mehr über Denise
erfahren.
Miss Henley musterte das Mädchen, das vor ihr
stand, und verspürte eine ungewohnte Regung: ein schlechtes
Gewissen. Das dicke blonde Haar der Kleinen war verfilzt, sie hatte
dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Beine waren blau
gesprenkelt, weil sie auf dem eiskalten Fußboden hatte liegen
müssen. Aber all das verursachte der Anstaltsleiterin weniger
Unbehagen als die Tatsache, dass dieses Mädchen, juristisch
gesehen, eigentlich gar nicht hier sein sollte. Sie hatte nämlich
nichts verbrochen.
»Nun? Was hast du zu sagen?«
Cathy reagierte mit einem leichten Kopfschütteln.
»Nichts, Miss. Ich hab nichts zu sagen.«
Miss Henley sah ihrem Gesicht an, wie verstört sie
war.
»Solange du dich in meiner Anstalt befindest, dulde
ich keine Widerrede, keine Raufereien und keine unflätigen
Ausdrücke. Hast du verstanden, was ich dir sage? Wenn nicht, werde
ich es
noch einmal wiederholen. Wenn du mich verstanden hast und trotzdem
meine Regeln brichst, kannst du sehen, wo du bleibst.« Miss Henley
sagte das mit einem Lächeln, und Cathy sank der Mut.
»Und jetzt werde ich dich an Deidre weiterreichen,
die dich mit einer Uniform ausstattet und dir dein Schlafquartier
zuweist. Ein kleiner Rat: Hüte dich vor den anderen Mädchen. Die
fackeln nicht lange. Die meisten sind bösartige junge Frauen mit
starker Neigung zu gewalttätigem Verhalten. Ich dulde ein solches
Verhalten absolut nicht, aber ich weiß, dass es manchen der
Mädchen, sagen wir mal, schwerfällt, sich im Zaum zu halten. Das
ist nicht als Warnung gedacht, sondern eine Feststellung. Sei auf
der Hut und halte dich an meine Regeln, dann wirst du hier
überleben. Also, hast du vielleicht eine Frage an mich?«
»Warum bin ich hier? Ich denke, es ist eine Anstalt
für Straftäter?« Cathy sprach mit Absicht besonders höflich. Sie
sah, wie sich die Augen der Frau verdüsterten, und hielt den Atem
an.
»Das wird dir noch rechtzeitig erklärt werden.
Deidre, bring sie in ihren Schlafraum.«
Cathy ahnte, dass sie sich gerade eine Feindin
gemacht hatte, andererseits wusste sie nicht, wie sie es hätte
vermeiden können. Wenn es stimmte, was die Zwillinge sagten, hätte
sie gar nicht hier sein dürfen.
Deidre händigte ihr einen blauen Trägerrock aus,
der Meilen zu lang war, und drei Paar dicke schwarze Strümpfe.
Außerdem drei Taschentücher und zwei Paar Unterhosen. (Immer ein
Paar am Leib und das andere in der Wäsche, wie Deidre erklärte.)
Sie waren lang, marineblau und grau gepaspelt. Zu guter Letzt gab
es noch zwei Unterhemden. Ihre Hausschuhe und die Schuhe für
draußen würde sie abends bekommen, wenn Miss Henley die Schuhkammer
öffnete.
Cathy wurde durch ein Labyrinth aus grün
gestrichenen Korridoren geführt, bis sie ins oberste Stockwerk
gelangten, wo sich früher die Unterkünfte der Hausmädchen befanden.
Deidre schob sie sanft in ein kleines Zimmer mit einem hohen
Fenster und zwei Betten.
»Hier schläfst du mit einem Mädchen, das Sally
Wilden heißt. Auch so ein kleines Flittchen. Ich schätze, das wird
bei euch Liebe auf den ersten Blick. Sally ist immer gut für Ärger,
und wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, ist es mit dir nicht
anders. Hab mich nämlich mein ganzes Leben lang um Mädchen wie euch
gekümmert. Hier bin ich auch schon seit zehn Jahren, und wenn was
faul ist mit einer, seh ich das auf den ersten Blick. Und schreib
dir eins hinters Ohr: Leg dich nie mit Miss Henley an. Die ist fies
und biestig, und Barton hast du dir ja schon zur Feindin gemacht.
Also sei auf der Hut, Mädchen. Sei immer auf der Hut, und pass
immer gut auf dich auf! Ich kann dir nämlich nur eins sagen: Wenn
du’s nicht tust, dann tut’s keiner!«
Cathy sah direkt in das Raubvogelgesicht. »Ich
dürfte gar nicht hier sein, denn das ist eine Anstalt für
Straftäterinnen, oder? Und ich hab doch gar nichts getan.«
Deidre lächelte. »Wenn Barton dich hier haben will,
dann bleibst du auch hier. Trag deine Nase nicht zu hoch, und halt
immer schön die Klappe, dann ist alles gut. Wenn du erstmal hier
drinnen bist, wird von draußen keiner mehr in deine Nähe kommen.
Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Verunsichert ließ Cathy ihre Sachen im Zimmer und
folgte Deidre nach unten. Der Karbolgestank war allgegenwärtig und
vermischte sich mit dem Geruch von zerkochtem Kohl. Eine
Kombination, von der einem übel werden konnte.
Cathy wünschte sich nichts als ein Bad und etwas
Vernünftiges zu essen. Sie klammerte sich an diesen Gedanken, als
sie den Klassenraum betraten. Ungefähr dreißig Augenpaare starrten
sie neugierig an, und Cathy spürte, wie sie vor Verlegenheit rot
wurde. Ohne ein weiteres Wort ließ Deidre sie vor der Klasse stehen
und darauf warten, den anderen Mädchen vorgestellt zu
werden.
Sie musste lange warten. Die Lehrerin, eine große
und recht beleibte Frau, schenkte ihr keine Beachtung, sondern fuhr
fort, die Klasse in persönlicher Hygiene zu unterweisen. Cathy sah
zu und nahm alles in sich auf. Aber ihre Miene verriet
nichts.
Sie musterte die Mädchen und die Lehrerin und
beschloss, bei der allerersten Gelegenheit auszureißen.
Cathy Connor wusste, dass sie all ihr Sinnen und
Trachten darauf richten musste, diesem Ort zu entfliehen. Und zwar
allein.
Zumindest eine Person hier schien freundlich zu
sein, und das war ein Anfang.
Sorgsam darauf bedacht, ein völlig unbeteiligtes
Gesicht zu machen, verbrachte sie die nächsten anderthalb Stunden
damit, konzentriert zuzuhören und zuzusehen.