Kapitel zwanzig
1971
»Herrgott nochmal, Sohn, musst du denn einem Mann seinen verdammten Schlaf rauben?«
Eamonn Seniors Zunge war schwer, weil er verkatert war und müde. Sein Sohn, der Schwierigkeiten hatte, sich in der Enge des gemeinsamen Schlafzimmers anzuziehen, sah ihn finster an.
»Steh jetzt endlich auf, Dad, damit wir zur Arbeit kommen. Du weißt, was O’Halloran gestern gesagt hat, und wenn du diesen Job verlierst, dann musst du sehen, wie du zurechtkommst. Ich jedenfalls sorg nicht für dich.«
Der ältere Mann betrachtete seinen schmucken Sohn und seufzte. Der Junge arbeitete hart dafür, sich ein neues Leben aufzubauen. Bis jetzt lebten sie von der Hand in den Mund, und es hatte nicht zu mehr gelangt als zu einer kümmerlichen Etagenwohnung in einem Haus in der Bronx, das sie mit lauter Iren, Schwarzen und Kakerlaken teilten.
Der Gestank war schlimmer als alles, was er zuvor erlebt hatte, und er konnte ihn kaum mehr ertragen. Die Hitze des New Yorker Sommers war schlimm genug, aber der ewig lange kalte Winter mit Eis und Schnee war schier unerträglich. Wenn der Junge nur auf ihn hören würde, könnten sie schon längst auf dem hohen Ross sitzen. Aber er wollte nichts davon wissen, wollte diesmal alles richtig machen. Wollte einen ganz normalen Job, ein normales Leben. Es war zum Kotzen.
Sich den Bauch kratzend, wartete der Alte, bis er die Gasflamme unter dem Kaffeekessel anspringen hörte. Dann stieg er in seine Hosen, quälte sich in sein Hemd und begann seine tägliche Nörgelarie. So laut, dass es in der Küche zu hören war.
»Wenn du auf einen klugen Rat hören würdest, Junge, könnten wir schon längst leben wie die Maden im Speck. So viel ist sicher!«
Eamonn verdrehte die Augen. Er wusch die Tassen in der Spüle ab und versuchte, einfach nicht hinzuhören. Jeden Tag kam sein Vater mit derselben Leier, und er hatte es allmählich satt. Der Alte wollte, dass er ein amerikanischer Ned Kelly wurde und dafür sorgte, dass sie es gut hatten. In England hatte ihm sein Vater immer wieder vorgeworfen, einen üblen Weg eingeschlagen zu haben. Jetzt jedoch, in den Staaten, wollte er, dass der Junge aus seinem Ruf Kapital schlug und sich diesen Leuten anschloss, die eine Art irischer Mafia bildeten.
Er blickte hinunter auf die Straße, während er seinen Kaffee trank. Überall waren schwarze Gesichter zu sehen, was ihn anfangs sehr verblüfft hatte. In England gab es durchaus auch Schwarze, aber Amerika wimmelte nur so von ihnen. Es war am Anfang seltsam gewesen, zu einer Minderheit zu zählen, und dieses Gefühl hatte sich auch im Laufe der Zeit nicht verändert. Auf seiner Etage wohnte eine besonders schöne junge Schwarze, und Eamonn hatte sich ein paarmal mit ihr unterhalten, bis er herausgefunden hatte, dass sie eine Prostituierte war. Bei dem Gedanken, mit ihr ausgehen zu wollen und erst über den Preis verhandeln zu müssen, schmunzelte er. In England war er überzeugt gewesen, über alles Bescheid zu wissen. Hier kam er sich vor, als sei er noch längst nicht trocken hinter den Ohren.
Die Arbeit als Schauermann hatte er leichter bekommen als erwartet, aber es war ein Knochenjob, und seinen Vater hatte man nur wegen seiner irischen Beziehungen angenommen. Das wussten sie beide, und jeder machte auf seine Weise von diesem Wissen Gebrauch. Seinen alten Job bei Danny Dixon vermisste Eamonn ganz und gar nicht.
Er liebte New York, dieses Gewimmel von Menschen, diesen Schmelztiegel der verschiedenen Kulturen, das Kaleidoskop der vielfältigen Probleme. City Hall war das Regierungszentrum des Bundesstaats, und die Leute sprachen von diesem Rathaus, als sei es eine Mischung aus dem House of Lords und der schlimmsten Militärjunta. Es war korrupt, es war grandios und es war da.
Doch wie aufregend die Stadt auch zeitweilig sein mochte, er sah auch ganz deutlich ihre hässlichen Seiten. Spürte die Spannungen innerhalb der Unterklasse und hörte sehr wohl, wie die Leute redeten und redeten und im Grunde nie wirklich etwas sagten. Letztendlich war New York wie jede andere Metropole, nämlich nur mit viel Geld in der Tasche wirklich zu ertragen. Viel mehr als in London brauchte man hier Geld.
Eamonn merkte, dass sein Vater neben ihn getreten war und seinen schwarzen Kaffee schlürfte. Wie üblich ging die Meckerei los. »Wenn du nur auf die Mahoneys hören würdest, könnten wir leben wie die Lords. Alles nur vom Besten haben. Die Iren herrschen in dieser verdammten Stadt, nur dass es bis jetzt niemand bemerkt hat. Die Spendensammlungen für Irland bringen ein Vermögen ein, und jeder, der kassiert, kann für seine Mühe mindestens fünfundzwanzig Prozent einsacken. Da kann einer Geld machen, gutes Geld, und gerade du müsstest das kapieren. Himmel auch, es gab mal ‘ne Zeit, da wärst du für ein paar Quid über Leichen gegangen …«
Er redete nicht mehr weiter, denn er wusste, wann er zu weit gegangen war. »Sohn, die Zunge sollte ich mir abbeißen, das sag ich dir.«
Die Stille war erdrückend. Schließlich wurde sie von Eamonn Junior durchbrochen. »Zieh dich warm an, Dad, es ist eiskalt draußen.«
Stumm verließen sie die Wohnung. Eamonn Senior war noch immer zerknirscht wegen seiner Worte, und als sie die Treppe hinuntergingen, fasste er liebevoll aufmunternd die Schultern seines Sohnes.
»Das Wetter zerreißt einem noch die Lungen. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals so gefroren zu haben.«
Auf dem Weg zum Busbahnhof hielt ein Auto neben ihnen, und auf Petey Mahoneys Pfiff hin blieben sie stehen. »Springt rein. Ich nehm euch mit. Gibt sowieso heute keine Arbeit für euch.« Sein breiter Cork-Akzent wollte so gar nicht zu seinem eleganten Aufzug passen. Er kleidete sich wie ein WASP der Oberklasse.
Desinteressiert sah Eamonn den Mann an. Der Benzingeruch, der in der kalten Luft schwebte, legte sich schwer und heiß auf seine Lungen. Sein Vater stieß ihn sanft zum Wagen. Petey fischte ein Geldbündel aus seiner Tasche und steckte dem älteren Mann einen Fünfziger zu. Lächelnd sagte er: »Hier, mach einfach da weiter, wo du gestern Abend aufgehört hast. Um deinen Kleinen hier kümmere ich mich.« Er lachte über seinen Witz, und Eamonn, der wusste, dass ihm keine Wahl blieb, stieg in den Wagen.
»Ist das nicht ‘ne spitzenmäßige Karosse?«, fragte ihn Petey, um ins Gespräch zu kommen. Eamonn lächelte. Das war es in der Tat - ein Pontiac Firebird, schwarz und schnittig, der sich jetzt schnurrend in den Verkehr einordnete.
»Du könntest auch so einen fahren, wenn du nicht so sturköpfig wärst.« Petey hob vorsorglich die Hand, als müsse er einen Widerspruch abwehren, aber Eamonn hatte gar nichts gesagt. Er sagte nie etwas. »Schon gut. Ich stell ja nur klar, wie es ist. Wir brauchen junge Männer wie dich. Du hast dir doch bereits in der Heimat einen Namen gemacht. Warum weigerst du dich nur, für uns zu arbeiten?« Der letzten Frage war anzuhören, dass sie aus echtem Interesse gestellt wurde. Es gab jede Menge irische Burschen, die alles getan hätten, bei den Mahoneys einzusteigen. Eamonns Gleichgültigkeit machte ihn zur seltenen Ausnahme.
Sie wussten, dass er zweimal gemordet hatte. Das mit dem Mädchen war eine bedauerliche Geschichte, aber so was kam eben vor. Der erste Mord, den er als junger Bursche begangen hatte, war gekonnt und mit dem gerade richtigen Maß an Skrupellosigkeit ausgeführt worden, um ihm Respekt unter seinesgleichen einzubringen.
Eamonn hätte ihn durchaus sympathisch finden können, wenn Petey nur nicht immer wieder damit gekommen wäre, dass er sich der Mahoney-Gemeinschaft anschließen möge. Er schüttelte den Kopf und stöhnte. »Können wir jetzt bitte Radio hören?«
Petey, der immer freundlich blieb, machte die Musik lauter und sagte mit gespielter Begeisterung: »Er macht den Mund auf. Ist ja was ganz Neues. Bis jetzt hab ich dich den Stummen genannt. Sag mir nur eins, und dann halt ich meine große Klappe - was hat dich so verändert? Ich mein, warum hier dieser Widerstand nach allem, was du in London getan hast, hä?«
Sie hielten vor einer Ampel, und Petey sah dem jüngeren Mann forschend in die Augen, ehrlich an einer Antwort interessiert.
Eamonn drehte die Musik leiser und sagte bedeutungsvoll: »Ich habe ein Mädchen umgebracht, eine wundervolle junge Frau, die ein langes Leben hätte vor sich haben sollen. Ich habe auch einen Jungen umgebracht. Der hätte wahrscheinlich dasselbe mit mir gemacht, aber trotzdem. Innerhalb weniger Jahre habe ich zwei Menschen getötet. Ich habe Männern gegen Geld die Arme und Beine gebrochen und es genossen. Ich hab die Macht geliebt, hab es geliebt, dass ich bestimmen konnte. Nach Carolines Tod hab ich Bilanz gezogen und entschieden, dass ich wieder zur normalen Welt gehören wollte. Ich hab mich entschieden, nicht mehr alles kontrollieren zu müssen. Ich war ein kranker Mensch, ein böser Mensch, und damit konnte ich nicht mehr länger leben.«
Als die Ampel endlich umsprang, sah Petey ihn an und sagte bedächtig: »Ist das alles? Ich dachte, du hättest wirklich gute Gründe gehabt.«
Mit voll aufgedrehtem Radio fuhren sie schweigend zum Hauptquartier der Mahoneys im Herzen von Queens.
 
Jack Mahoney war fast zwei Meter groß und entsprechend breit. Seine Frau tat ihr Bestes, dass er nicht aus der Form geriet, aber diese Schlacht war in der Fastfood-Kultur Amerikas nicht zu gewinnen. So war Jacks Bauch inzwischen gigantisch, eine riesige schwabbelnde Masse, die sie nicht mehr über und auf sich duldete. Was Jack nicht ungelegen kam, denn er hatte Geschmack an kleinen schwarzen Girls mit Raspelschnitt gefunden, die seiner Überzeugung nach die allerbesten Schwanzlutscherinnen diesseits des Atlantiks waren. Seine sieben Töchter verehrten ihren lebensfrohen Vater, und er besuchte jeden geschlagenen Morgen um halb sieben die Messe. Essen und regelmäßig den Schwanz gelutscht bekommen, das waren Jacks Hobbys. Seine Arbeit spielte sich ganz woanders ab.
Jack kontrollierte das Unternehmen Mahoney mit Geld und dadurch, dass er Angst und Schrecken verbreitete. Er glaubte, dass man die Loyalität jedes Mannes kaufen konnte, wenn man ihm nur genug dafür zahlte. Damit war er bisher gut gefahren. Die Mahoneys hatten noch nie mit einem Spitzel oder einem Überläufer zu tun gehabt.
Aber Jack ging es auch darum, dass die Iren in seiner Umgebung glücklich und zufrieden waren. Er wusste, dass es daheim im Norden eine Menge Ärger geben würde, und obwohl er selbst aus dem Süden stammte, nämlich in Cork geboren und aufgewachsen, war ihm klar, dass eine Menge Geld damit zu machen war, den Landsleuten im Norden zu helfen.
Ein Großteil der Iren in New York lebte in Erinnerungen. Sie redeten ständig von der Heimat und aßen Kohl und Corned Beef sozusagen als heiliges Ritual. Das schmeckte zwar nicht im mindesten wie das gute Essen in Irland, aber das wussten die Leute natürlich nicht, denn in der Mehrzahl waren sie Iren der zweiten oder gar dritten Generation. Indem er deren Nostalgie nach dem Auld Country hätschelte, machte Jack das dicke Geld mit seinen irischen Bars und war entschlossen, so weiterzumachen. Seine Kneipen waren stets voll von Männern und Frauen, die Rebellenlieder sangen, irisches Backsodabrot aßen und Jameson’s tranken. Aber er machte auch noch andere Geschäfte, und um die abzuwickeln, brauchte er Männer fürs Grobe.
Es hatte den Anschein, als sei Eamonn Docherty haargenau von der Sorte, die er in Lohn und Brot nehmen wollte. Es war Jack bisher nie in den Sinn gekommen, dass jemand nicht für ihn arbeiten wollte. Wäre er direkt auf eine solche Ablehnung gestoßen, hätte er kurz und bündig ein Ultimatum gestellt: Arbeite für mich, oder du wirst nie wieder für jemanden sonst arbeiten. Der eigenen Einschätzung nach war er ein guter Arbeitgeber. Wenn er sie erstmal hatte, dann kümmerte er sich so um sie, dass ihm ihre Loyalität und Dankbarkeit für alle Zeit gewiss waren.
Wenn man seinem Vater glauben konnte, war Eamonn Docherty der geborene Eintreiber. Dem kam besonders zugute, dass er keine Überzeugungen mit sich herumschleppte, weder politische noch sonst welche. Auf die Frage nach der Situation in Irland hatte er geantwortet: »Wen kümmert’s!« Genau auch Jack Mahoneys Meinung, aber außer im Familienkreis hätte er das niemals zugegeben. Also hatte er dafür gesorgt, dass sein jüngerer Bruder Petey den seiner Meinung nach fehlgeleiteten jungen Burschen aufsammelte und zu ihm brachte.
Jack Mahoney war so angesehen, dass man ihn, eigentlich unerhört für einen Iren, in Little Italy ebenso wie in Chinatown willkommen hieß. Aber sein Glauben an das organisierte Verbrechen war unerschütterlich, und die Zeiten änderten sich. Die Italiener und die Chinesen waren im Grunde ihres Herzens Geschäftsleute, und jetzt war für sie die Zeit gekommen, sich mit den Iren anzufreunden, die immer schneller in diversen Geschäftszweigen an die Spitze drängten.
Er sah, dass sein Bruder den Wagen parkte und zusammen mit dem jungen Docherty ausstieg. Die arrogante Haltung des Jungen entging Jack nicht, und er schüttelte ironisch lächelnd den Kopf. Der junge Mann war ein Musterexemplar, aber schließlich war der Vater zu seiner Zeit ebenfalls ein großer, attraktiver Mann gewesen. Eamonn Docherty Senior hätte es zu etwas bringen können, aber er war immer wieder dem Lotterleben verfallen. Männer, die sich von Frauen aushalten ließen, waren für Jack der letzte Dreck, aber der Alte war schließlich auch Ire, und es galt zumindest den Anschein zu erwecken, als kümmere man sich um seine Landsleute.
Jack nahm hinter seinem großen Eichenschreibtisch Platz und gab sich besonders wichtig und geschäftig, als Petey den jungen Mann ins Büro führte.
 
Eamonn Senior saß in einer Bar in Broadway-Nähe. Die Kneipe war irisch, die Drinks waren nicht gepanscht, und man befand sich in angenehmer Gesellschaft. Mit seinem Fünfzigdollarschein hatte er schnell Anschluss gefunden und unterhielt sich mit einem Mann namens Willie McLaughlin angeregt über das Für und Wider eines vereinigten Irlands. Drei doppelte Jameson’s, und er war so richtig guter Dinge, als er aus dem Augenwinkel Jackie O’Malley bemerkte, einen Buchmacher, dem er mehr als zweihundert Dollar schuldete.
»Zu Geld gekommen, was?« Jackies Worte klangen sarkastisch.
Eamonn Senior, angetrunken und bester Laune, war nicht beunruhigt. »Ach, ist nur ‘ne kleine Zuwendung von Petey Mahoney. Der ist grade mit meinem Jungen unterwegs.«
Jackie hörte die versteckte Drohung heraus, und als er den Mann mit der roten Nase betrachtete, wurde er mit einem Mal furchtbar zornig. Leute wie Docherty waren Schmarotzer, und O’Malley wusste, wenn er ihn davonkommen ließe, würden andere sich dieselbe Rücksichtnahme versprechen. Er ließ den Blick durch die Bar schweifen, über den Shamrock und die imitierten irischen Flaggen, das Waterford-Kristall hinter der Bar und die Fotos von Brendan Behan an den Wänden. Völlig frustriert vom verzweifelten Kampf, sich über Wasser zu halten, sagte er hitzig: »Ist mir doch egal, mit wem sich dein Sohn amüsiert. Ich jedenfalls will das Geld, das du mir schuldest, und ich will es sofort.«
Eamonn Senior, trunken und großkotzig, antwortete ungerührt: »Dann weißt du ja, wie es ist, wenn man was will, was?«
Drei Tage zuvor hatte Jackie O’Malley seine Frau unter die Erde gebracht. Er war jetzt schon seit Wochen hinter seinen Schuldnern her. Die ärztliche Behandlung seiner Frau hatte ihn ein Vermögen gekostet, und dabei war sie es, ehrlich gesagt, gar nicht wert gewesen. Sein einziger Sohn war zur Beerdigung nach Hause gekommen, hatte kaum zwei Worte mit ihm gewechselt und war dann ins College zurückgekehrt. Seine Tochter wollte mit Jackie nichts zu tun haben, und er selbst wurde von Kredithaien gejagt, weil niemand die Schulden bei ihm bezahlte, so dass er seine Rückzahlungen ebenfalls schuldig bleiben musste.
Und hier saß jetzt dieses Stück Scheiße, ein Mann, dem alles fehlte, was man Anstand hätte nennen können, und forderte ihn gewissermaßen auf, mit dem Hut in der Hand singen zu gehen, wenn er Geld brauchte. Fremde Leute wurden Zeugen des Geplänkels. Jackie wurde in aller Öffentlichkeit gedemütigt, und seine Wut wurde von Minute zu Minute größer.
Das eben war die Geschichte seine Lebens: benutzt und ausgenutzt von jedem und allen. Kein Respekt, nicht mal die ganz gewöhnliche Höflichkeit wurde ihm erwiesen. Seit Tagen war er hinter seinem Geld hergelaufen, aber niemanden scherte es. Er war ein kleines Licht, hatte anders als die Mahoneys oder die Murphys keine Leute, die ihm Schulden eintrieben, und es schien langsam so zu werden, dass sich mehr und mehr Leute an die großen Organisationen wandten, nachdem sie Jackie erfolgreich angeschissen hatten.
Er schnippte mit den Fingern und bestellte beim Barmann: »Zwei Doppelte, für mich.«
Der Barmann stellte die beiden Drinks auf den Tresen, und Jackie stürzte den ersten hinunter und schickte den zweiten sofort hinterher. Wie gebannt schauten alle zu, als er seine Jacke aufknöpfte und einen langläufigen Revolver hervorzog. Es war eine alte Waffe, die vom alten Moustache Petes schon vor vielen Jahren benutzt worden war. Sie war durchaus eine Antiquität zu nennen.
Er schoss Eamonn Docherty Senior in die Brust. Die Gäste rannten in Deckung, so laut war die Detonation, die auch das Baseballspiel im Fernsehen übertönte. Dann richtete Jackie die Waffe auf sich selbst, schob den langen Lauf in den Mund und drückte ab.
Der junge Barmann blickte entgeistert auf sein T-Shirt, das übersät war von Spritzern grauer Gehirnmasse, sagte wieder und wieder nur »Ach du heilige Scheiße!« und wartete darauf, dass die Polizei eintraf.
 
Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile, und ein Polizist, der bei den Mahoneys auf der Lohnliste stand, informierte Petey, während Eamonn noch mit Jack in Klausur saß.
Eamonn betrachtete den Mann, den er vor sich hatte. Er war fett und gewissenlos, ein Klotz von Mann mit der Aura des gemeingefährlichen Gewalttäters. Eamonn verstand jetzt, warum die Menschen in seiner Gegenwart vor Furcht erstarrten. Trotz seines enorm massigen Körpers bewegte Jack sich jedoch erstaunlich behände. Für Eamonn war es eine Offenbarung, diesem Koloss mit der leisen Stimme Auge in Auge gegenüberzustehen. Er hatte so viel über ihn gehört, dass ihm dieses Treffen vorkam wie eine Audienz beim Papst. Und wenn man dann tatsächlich vor Seiner Heiligkeit stand, wusste man anfangs nicht, was man sagen sollte.
Jack erläuterte ihm geduldig, was er wollte. Es sei seine Art, zur Gewalt erst dann zu greifen, wenn es nicht anders ging, denn er glaube fest an die Kraft des gesprochenen Wortes.
»Ich habe mir sagen lassen, dass du beim Lösen von Problemen ein perfektes Händchen hast. Aus London hörte ich sehr viel Gutes über dich. Ich denke, an dem unglücklichen Vorfall mit dem Mädchen ist sie zum Teil auch selbst schuld gewesen. Frauen können mit ihrem Gekeife und ihren verteufelten Wutanfällen manchmal unerträglich sein. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe - Gott sei mir gnädig - eine Frau und sieben Töchter. Also, ich bin interessiert daran, wie du grobe Dinge erledigst. Ich brauche junge ehrgeizige Männer, die ich dazu ausbilden kann, später verantwortungsvolle Aufgaben in meiner Firma zu übernehmen. Ich kann stattliche Belohnungen offerieren und versprechen, dass dir der Respekt der gesamten Gemeinde sicher sein wird. Ich kann dich jedenfalls reicher machen, als du es dir je erträumt hast.«
Seine Stimme veränderte sich, und jegliche Kumpanei war verschwunden, als er seine Rede schloss: »Ich biete die Freundschaft nicht leichthin an, noch erlebe ich es gern, dass man mein Angebot ungebührlich zurückweist. Die Hand zur persönlichen Freundschaft strecke ich nur einmal aus. Wenn ein Mann sie nicht ergreift, betrachte ich ihn als meinen Feind.«
Wie Eamonn durchschaute, wurde ihm gerade eröffnet, dass er auf die schwarzen Liste kam, sollte er den Job ablehnen. Mahoney konnte leicht dafür sorgen, dass er niemals wieder Arbeit bekam. Und er konnte auch sicherstellen, dass er nie wieder einen Atemzug tat. Er zwang sich zu einem Lächeln und fragte höflich: »Und wie verhält es sich mit der Bezahlung?«
Der Hüne lachte. Er hatte seinen Mann am Haken und konnte es sich erlauben, großmütig zu sein. Obwohl sie beide wussten, dass er Eamonn keine Wahl gelassen hatte, schmiedeten sie an jenem Tag eine Freundschaft, die auf gegenseitigem Respekt basierte.
Eamonn hatte erwartet, den Mann nicht leiden zu können, stellte jetzt aber fest, dass er ihn bewunderte und möglichst bald einen Platz in seinem Unternehmen finden wollte. Jack Mahoney hatte den amerikanischen Traum auf den Kopf gestellt. Schon allein deswegen blickte Eamonn zu ihm auf. Insgeheim stellte er jedoch auch fest, dass er froh war, wieder das tun zu dürfen, was er am besten konnte. Und was ihm am meisten Spaß machte!
Er spürte den Adrenalinstoß. Endlich war er wieder das, was er am liebsten war: Herr seiner selbst, Herr über andere. Im Herzen hatte er die ganze Zeit gewusst, dass er sich etwas vormachte. Für dieses Leben war er geboren, und dazu hatte man ihn aufgezogen. Wieso also noch länger dagegen ankämpfen?
Als er das Büro verließ, sah er Petey, der auf ihn wartete. Er war leichenblass, und als er Eamonn die Nachricht übermittelte, empfand er großes Mitleid für ihn. Die Mahoneys wussten nur zu gut, welches Gewicht ein Patriarch haben konnte. Ihr eigener Vater war weitaus schlimmer gewesen als Eamonn Senior, und doch hatten sie sich immer um ihn gekümmert.
Familie, Blut, Verwandtschaft. Sie sind es, worum sich die Welt dreht, und sie sind der Grund, warum Menschen danach streben, sich zu bessern.
Unterm Strich bleibt die Familie das Einzige, was man hat.
 
Eamonn Senior lag aufgebahrt im Leichenschauhaus. In Ruhe sah sein grobes Gesicht viel älter aus.
Sein Sohn betrachtete den Mann, den er geliebt hatte und auch gehasst, und spürte tiefe Trauer. Er vergaß die vielen Male, die sie sich gestritten hatten, vergaß die Zeiten als Kind, in denen er nichts zu essen hatte, weil der Mann da auf der Bahre das Geld brauchte, um zu trinken. Vergaß die Prügel, die er hatte einstecken müssen, wenn sein betrunkener Vater wieder einmal jähzornig wurde.
Er sah den Mann, der seinen Sohn in ein fremdes Land begleitet hatte, weil er wusste, in welchen Schwierigkeiten der Junge steckte. Er bedachte, dass sein Vater versucht hatte, zumindest dieses eine Mal, seinen Sohn zu beschützen.
Mit den Tränen kämpfend versuchte er, sich an seine Mutter zu erinnern. Sie war eine kleine Frau gewesen, die gern gelächelt und ihren großen Ehemann und den gemeinsamen Sohn über alles geliebt hatte. Sie war in jungen Jahren schnell, aber qualvoll an Krebs gestorben. Ihr Gesicht, ehemals so schön, war gezeichnet gewesen von den grausamen Schmerzen, die der Tumor in ihrer Brust verursachte.
Er konnte sich noch an den Geruch im Sterbezimmer erinnern, an den bitteren Geruch des Todes. Bis zu diesem Tag hatte er das alles verdrängt. Der Schmerz war unerträglich gewesen.
Jetzt sah er das Blassgelb der Tagesdecke, sah das Weiß der Laken und sah seine Mutter, so bleich und so dünn, und er hörte sie in ihrem irischen Tonfall leise mahnen, dass er ein guter Junge sein möge und dem folgen, was sein Vater sagte.
Er war zu jung gewesen, um zu verstehen, dass sie sich von ihm verabschiedete.
Das Krankenhauspersonal war sehr nett zu ihm gewesen. Die Schwestern hatten ihm Tee und Toast gebracht, und er konnte sich erinnern, dass sein Vater weinte. Diese Tränen hatten ihm Angst gemacht. Eamonn konnte sich nicht erinnern, dass sein Vater vor diesem Tag getrunken hatte.
Als er den Toten betrachtete, wusste Eamonn, dass sein Vater vor derselben Erinnerung davongelaufen war, sein Leben lang, und dass er wohl versucht haben musste, sie mit Whiskey zu vertreiben.
Er hatte sein Bestes getan für seinen Sohn und ihn dabei ungewollt gezwungen, erwachsen zu werden.
In gewisser Hinsicht sollte Eamonn seinem Vater vielleicht dankbar sein - dankbar, dass er ihn zu dem eiskalten und gnadenlosen Killer gemacht hatte, der er heute war.
Die Aufsteigerin
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