Kapitel einundvierzig
Lächelnd betrachtete Terry Campbell den Jungen
neben sich. Der Junge erwiderte das Lächeln jedoch nicht. Er
starrte nur unverwandt auf Terrys Handy und überlegte krampfhaft,
wie er es wohl zu fassen bekäme. Er hatte keine Ahnung, wo er sich
befand oder was mit ihm geschehen würde. Er konnte sich nur daran
erinnern, dass er zusammen mit diesem Mann etwas getrunken hatte
und dann hier aufgewacht war.
Johnny Cartwright war fast achtzehn, sah aber viel
jünger aus. Sein Haar trug er lang, seine Augen waren dunkelgrün
und seine Zähne weiß und ebenmäßig.
Er wusste, dass er gut aussah, und seit über zwei
Jahren lebte er bereits als Stricher auf den Straßen Londons. Er
hatte viel von Terry Campbell gehört. Als der ihn am Abend zuvor
angesprochen hatte, wollte Johnny nur die Einladung zu einem Drink
annehmen und sich dann bei der ersten Gelegenheit davonmachen. Er
hatte nämlich flüstern hören, was den Jungs passierte, die Campbell
aufriss.
Doch Campbell war keiner, den man vor den Kopf
stieß; am besten mied man ihn, so gut es ging.
Jetzt ging Terry hinüber in eine Ecke des Raums und
öffnete einen kleinen Kühlschrank, in dem sich Bier, Wein und
Milchshakes befanden. Er nahm einen Erdbeershake heraus und reichte
ihn dem Jungen. Dann ging er zum Fenster und schaute hinaus.
Der Junge blieb auf dem Bett liegen. Er hatte einen
Brummschädel und wusste genau, dass es die Nachwirkung einer Droge
war, denn er spürte auch die typisch apathische Trägheit. Er nahm
an, dass Campbell ihm K.-o.-Tropfen in den Drink gemischt
hatte.
Terry wandte sich ihm kurz zu. »Wenn du Klebstoff
schnüffeln willst, da drüben ist was im Schrank. Ansonsten hab ich
auch andere feine Sachen für dich. Jedenfalls wirst du heute Abend
ein paar Freunden von mir zum Vergnügen dienen, und wenn du deine
Sache gut machst und nicht in Panik gerätst, erwartet dich ein
Bonus von zweihundert Pfund. Okay? Wenn du aber einen Aufstand
machst, dann blüht dir eine mächtige Tracht Prügel. Hast du mich
verstanden?«
Als Johnny seinen Milchshake schlürfte und dabei
die Videokameras und den großen Fernsehmonitor sah, wurde ihm
mulmig zumute. Auf einem Tisch am Bett lagen zudem auch noch
Handschellen und andere Sexspielzeuge. Er ahnte, welch ein Alptraum
ihm bevorstand. Er hatte von Partys dieser Art gehört und wusste,
dass manche Jungen, die daran teilgenommen hatten, später nie
wieder gesehen wurden.
Doch insgeheim musste er grinsen. Er war
HIV-positiv, und vielleicht konnte er später am Abend ein paar
Schulden zurückzahlen - wenngleich einer der älteren Jungs gesagt
hatte, dass viele der Männer, von denen sie angeheuert wurden,
ebenfalls positiv waren. Johnny lag auf dem Bett und konnte keinen
klaren Gedanken fassen.
»Wie viele Männer kommen denn?«, fragte er
schließlich.
»Ungefähr acht, vielleicht neun«, antwortete Terry,
ohne ihm einen Blick zu schenken, und fügte lachend hinzu: »Aber
keine Angst, später wird noch ein Mädchen geliefert. Zusammen
solltet ihr den Andrang schaffen. Die Kleine ist noch Jungfrau, und
ich vermute, deswegen wird sie besonders gefragt sein. Also
entspann dich. Denk einfach an das Geld und was du damit machen
kannst.«
Der Junge nickte. »Was für feine Sachen haben Sie
denn so?«
»Das ist die richtige Einstellung, mein Junge«,
sagte Terry erfreut.
»Sieh das Ganze als einträglichen Job, und alles ist klar. Ärger
gibt es nur, wenn du Ärger machst. Kannst du mir folgen?«
Der Junge merkte sehr wohl, dass ihm gedroht wurde,
und schwieg. Ihm blieb nichts anderes übrig - er musste diese Nacht
überstehen.
Bei Myra Campbell bissen Cathy und Richard auf
Granit. Die winzige Frau mit dem kurzen gebleichten Haar ließ
nichts auf ihren Sohn kommen.
»Er ist mein Baby, und ich dulde nicht, dass jemand
schlecht von ihm redet. Haben Sie das kapiert, Lady?«, fuhr sie
Cathy an.
Verblüfft über den Gefühlsausbruch erwiderte Cathy:
»Noch beschuldigen wir Ihren Sohn gar nicht. Wir müssen nur mit ihm
sprechen, das ist alles. Ist er vielleicht bei seiner Schwester? Wo
wohnt er?«
Myra sah sie mitleidig an, bevor sie mit eisigem
Lächeln antwortete. »Junge Frau, Sie halten mich wohl für völlig
bescheuert, was? Ich habe keine Adresse von meinem Sohn, und wenn
ich eine hätte, könnten Sie mich zu Tode foltern, und ich würde
trotzdem nichts verraten. Was meine Tochter angeht - mit der Hure
habe ich nichts schaffen.«
»Ihr Sohn hat das Leben vieler blutjunger Menschen
zerstört, Mrs. Campbell. Macht Ihnen das gar nichts aus? Ihr Sohn
ist Abschaum, und nachdem ich Sie kennengelernt habe, verstehe ich
langsam, wie er dazu geworden ist.«
Myra Campbell reagierte wie eine Furie und hob die
Hand, um Cathy ins Gesicht zu schlagen. Aber die packte Myras
Handgelenk und verdrehte es, bis die widerspenstige Frau in die
Knie ging. Auf ihre Schmerzensschreie reagierte Cathy mit einem
Lachen. »Denk gar nicht erst daran, mich zu schlagen, Lady, denn
ich reiße dir die Haare büschelweise vom Kopf und stopf sie dir in
den Hals! Merk dir das! Ich werde nicht ruhen, bis dein Sohn für
alle Zeit von den Straßen verschwunden ist. Das kannst du ihm von
Cathy Pasquale ausrichten!«
Als sie vor Myra Campbells dreistöckigem Haus im
Auto saßen, brauchte Cathy eine Weile, um sich wieder einigermaßen
zu beruhigen.
»Einer wie ihr oder ihrem Sohn hätte ich als
kleines Mädchen über den Weg laufen können, stimmt’s? Stattdessen
habe ich dich kennengelernt und Desrae und Joey. Eben erst ist mir
wieder einmal klargeworden, was für ein Glück ich gehabt
habe.«
Richard legte den Arm um sie und zog sie an sich.
Als sie seinen männlichen Geruch wahrnahm, fühlte sie sich wieder
einmal sicher und behütet. So war es ihr ergangen, seit er sich an
jenem Abend vor langer Zeit in der Arrestzelle neben sie gesetzt
und sie in eine alte Wolldecke gehüllt hatte.
Richard umarmte sie so fest, als wolle er sie nie
wieder loslassen. Er küsste sie zärtlich, atmete den Pfirsichduft
ihres Shampoos ein und bemerkte auch den leichten Moschusgeruch des
Parfüms, das sie immer benutzte. Er wünschte, sie würde weinen,
denn er wusste, dass es ihr guttäte.
Aber sie befreite sich und lächelte traurig.
»Campbells Schwester, denke ich, oder?«
»Wir besuchen also zuerst Terrys Schwester und
nicht die Schwester von unserem Peter?«
Cathy nickte. »Ich hab das Gefühl, dass sie uns
mehr zu erzählen hat als ihre Mutter.«
Richard ließ den Motor an und sagte seufzend:
»Zählen würde ich darauf nicht, Liebes, aber wir können es ja
versuchen.«
Shaquila Campbell sah umwerfend aus.
Hochgewachsen und rank, gemahnte sie an eine
afrikanische Prinzessin. Ihre Taille war ungemein schlank, ihre
Brüste waren klein und ihre langen Beine wohlgeformt und grazil.
Mit hohen Absätzen war sie mindestens eins achtzig groß. Sie hatte
nichts von ihrer Mutter, und Cathy ging davon aus, dass ihr Vater
ein sehr attraktiver Mann gewesen sein musste. Ihre mandelförmigen
Augen waren schwarz wie die Nacht, ihr Mund war sinnlich und sexy.
Ihre hohen Wangenknochen betonten die afrikanischen Züge. Ihre
Zähne schimmerten blendend weiß, und sie sah aus, als sei ihr
ständig zum Lächeln zumute.
In diesem Moment allerdings nicht. Sie stand auf
der Schwelle eines eleganten Hauses in der Nähe der Kensington High
Street, kerzengerade und mit einem kleinen Jungen auf dem Arm.
Cathy und Richard waren beide beeindruckt von der Gelassenheit und
Würde, die sie ausstrahlte.
»Shaquila Campbell?«, erkundigte sich
Richard.
Die Frau nickte. Sie schob ihr Kind ein wenig höher
auf die Hüfte und musterte die Besucher, bevor sie fragte: »Was
kann ich für Sie tun?«
»Ich bin von der Polizei. Ich muss Ihnen einige
Fragen stellen, die Ihren Bruder Trevale betreffen.«
Die junge Frau verlor die Beherrschung und
versuchte vergeblich, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
Richard hielt dagegen und stieß sie mit sanfter Gewalt wieder
auf.
»Ich rate Ihnen, uns hereinzulassen. Sonst muss ich
mit einem Beschluss wiederkommen, und das macht die Sache für Sie
nur unangenehmer. Wir möchten uns doch nur ein wenig mit Ihnen
unterhalten.«
Shaquila biss sich auf die Lippe. »Ich kann Ihnen
über meinen Bruder nichts sagen.« Jetzt klang sie ganz und gar
jamaikanisch und völlig anders als zuvor.
»Bitte lassen Sie uns herein«, sagte Cathy. »Es ist
wichtig, dass wir mit Ihnen reden.« Sie konnte die Angst der jungen
Frau praktisch riechen und litt mit ihr.
Nachdem sie im karg möblierten Wohnzimmer Platz
genommen hatten, ergriff Richard das Wort. »Haben Sie eine Ahnung,
wo sich Terry dieser Tage aufhält?«
Shaquila antwortete achselzuckend: »Nein. Wieso
sollte ich auch?«
»Es heißt, dass Sie und Ihr Bruder einander sehr
nahestehen.«
Obwohl Richard in sachlichem Ton gesprochen hatte,
merkte Shaquila sofort, worauf er hinauswollte, und senkte den
Blick. »Natürlich stehen wir einander nahe. Er ist mein
Bruder.«
»Er ist außerdem der Vater Ihrer Kinder. Das nennt
man Inzest, und soweit ich weiß, gibt es dazu in unserem Land
Gesetze.«
Shaquila lächelte kühl. »Es ist absolut legal. Wir
sind beide volljährig und können in unseren vier Wänden tun, was
uns gefällt. Das weiß ich genau. Wenn Sie und diese Lady jetzt mit
dem Verhör fertig sind, verlassen Sie bitte meine Wohnung. Ich weiß
nichts von Terry. Ich weiß nicht, wo er ist, noch wo er wohnt oder
mit wem er sich trifft. Sie verschwenden also nur Ihre Zeit.«
Richard sah sie böse an. »Sie wissen, womit er es
zu tun hat, oder? Sie wissen, dass er Kinder von der Straße holt
und sie für seine Partys und seine Pornofilme benutzt -
Privatpartys, auf denen Jungen und Mädchen, zum Teil noch Kinder,
wieder und wieder von brutalen Männern vergewaltigt werden? Ihr
Sohn ist ein süßes Kerlchen. Soweit ich weiß, hat er auch eine
Schwester. Glauben Sie, Terry wird vor seiner Tochter haltmachen,
wo er sich doch schon seine eigene Schwester vorgenommen hat?
Denken Sie darüber nach, was ich gesagt habe, Shaquila, denn
solange Sie und Ihre Mutter ihn decken, nimmt er sich das Recht zu
tun, was ihm gefällt.«
Richards Piepser meldete sich. »Im Flur ist ein
Telefon. Darf ich es benutzen?«
Shaquila zuckte ergeben die Achseln. Sie wusste,
dass er es tun würde, ob sie zustimmte oder nicht.
Fasziniert und mitfühlend zugleich betrachtete
Cathy die junge Frau. »Richard hat Recht«, sagte sie, »wir sind in
dieser Sache auf Ihre Hilfe angewiesen.«
Shaquila strich sich mit dem Handrücken müde übers
Gesicht. »Ich rede nicht mit der Polizei. Das verstehen Sie doch
wohl?«
Cathy grinste. »Ich bin nicht von der Polizei,
meine Gute. Ich
bin Clubbesitzerin in Soho und versuche herauszufinden, warum
einer meiner Angestellten Selbstmord begangen hat. Anscheinend hat
Ihr Bruder eine Menge damit zu tun. Ich muss wissen, ob der Mann in
meinen Geschäften illegale Artikel verkauft hat, die von Ihrem
Bruder stammen … Es geht nicht nur um die betrügerischen Verkäufe
unter dem Ladentisch, sondern es ist der Inhalt der Filme, der mir
Sorgen macht«, fuhr sie fort. »Vor langer Zeit war auch ich mal ein
Straßenmädchen. Ich weiß, was die Kids da draußen erwartet. Was
auch immer er Ihnen bedeutet, ist Ihr Bruder doch für sehr viel
Leid und Erniedrigung verantwortlich und auch dafür, dass viele
junge Menschen sterben, Mädchen wie Jungen. Wussten Sie das? Er
durchstreift die Straßen auf der Suche nach schutzlosen
Jugendlichen, macht ihnen große Versprechungen und missbraucht sie.
Dabei geht es ihm nur ums Geld.«
Dann sprach Cathy weiter, leise und
eindringlich.
»Ich habe eine Tochter, einen Teenager mit langen
Beinen und knospenden Brüsten. Sie heißt Kitty. Als ich jung war,
hat sich niemand so recht um mich gekümmert. Meine Mutter war eine
Dockschwalbe, eine abgebrühte Nutte der schlimmsten Art. Für mein
Kind will ich etwas Besseres, und ich bin sicher, das wollen Sie
auch.«
Shaquila sah Cathy in die Augen, und dann brach es
aus ihr hervor: »Manchmal sehe ich meine Kinder an und hasse sie -
ich hasse sie, weil sie mir aufgezwungen wurden! Ich halte zu
Terry, aber Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein übler
Dreckskerl er ist. War er schon immer. Ich darf dieses Haus nicht
verlassen - muss mir sogar die Lebensmittel liefern lassen. Ich
muss hier sitzen, tagein, tagaus, und darauf warten, dass er zu
Besuch kommt. Und wenn er kommt, muss ich so tun, als wäre ich die
glücklichste Frau auf Erden. Ich muss meinem Bruder den Schwanz
lutschen, denn sonst würde er mir ohne zu zögern die Kehle
durchschneiden … Niemand kennt meinen Bruder so gut wie ich. Mein
Leben lang war ich ihm ausgeliefert. Meine
Mutter hasst mich, weil er mir aufzwingt, was sie gern von ihm
hätte. Ich wurde zuerst von meinem Vater missbraucht und dann von
meinem Bruder. Wir kommen aus abartigen Verhältnissen, und ich
weiß, dass ich meinen Bruder erst loswerde, wenn er tot ist. Käme
er ins Gefängnis, wären damit meine Gebete nicht erhört, denn
solange er atmet, bin ich in Gefahr. Ich kann Ihnen also nicht
helfen, selbst wenn ich es wollte.«
»Das alles tut mir ja so leid«, versicherte
Cathy.
Shaquila lachte unter Tränen. »Nicht halb so leid
wie mir. Sie sehen, für mich gibt es kein Entrinnen. Absolut
keins.«
Cathy zog eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche
und legte sie auf die Stuhllehne neben Shaquilas Hand. »Hier ist
meine Nummer. Rufen Sie mich an, bitte, und ich werde Ihnen helfen.
Das verspreche ich. Ich helfe Ihnen.«
Shaquila sah ihr tief in die Augen. »Sie meinen es
ehrlich, nicht wahr?«
»Natürlich. Ich hab Ähnliches erlebt und weiß, wozu
andere Menschen fähig sind. Ich verspreche, dass ich Sie von diesem
Mann wegbringe.«
»Wenn es im Leben so einfach wäre.«
Shaquilas Stimme klang wieder resigniert. Cathy
berührte die Wange der anderen Frau und lächelte aufmunternd. »Das
Leben ist nie einfach, Shaquila. Menschen wie wir wissen das nur zu
gut, aber hin und wieder wird uns ein Rettungsring zugeworfen, und
nach dem müssen wir greifen.«
Sie nahm ihre Handtasche und ging zur Eingangstür.
»Rufen Sie mich an, okay? Ich werde dafür sorgen, dass Sie an einen
Ort gebracht werden, an dem Sie nicht einmal Richard Gates
findet.«
Cathy drängte Richard, die Wohnung zu verlassen.
Sie wusste und akzeptierte, dass Shaquila Zeit zum Nachdenken
brauchte. Sie selbst schwieg, bis sie zu Hause ankamen.