Kapitel sechzehn
Cathy erwachte und hörte Geschirrklappern und
Radiomusik. Die Geräusche waren ihr fremd, und sekundenlang fragte
sie sich, wo sie sein mochte. Dann öffnete sie die Augen und sah,
dass fahler Wintersonnenschein durch die schweren rosa Vorhänge ins
Zimmer fiel. Die Ereignisse des vorangegangenen Abends fielen ihr
langsam wieder ein. Schnell schloss sie die Augen, um den Mann zu
vergessen, die Seitengasse und den widerlichen Gestank.
Als sie sich jedoch an die Mannfrau mit Namen
Desrae erinnerte, musste sie lächeln und wurde von einem intensiven
Glücksgefühl erfasst. Trotz all der schrecklichen Dinge, die ihr
während der letzten Wochen zugestoßen waren, war sie überzeugt, der
Person trauen zu können, die sie gerettet hatte.
Sie hörte, wie er mit zarter Stimme zu den Monkees
trällerte, und musste schmunzeln. Last Train to Clarksville
hatte so noch nie geklungen! In einem langen blauen Frisiermantel
und mit Lockenwicklern im Haar kam er ins Zimmer gestürmt und sang
dabei noch immer in den höchsten Tönen.
»Wach auf, Cathy. Komm und iss etwas«, befahl er.
»Ich hab uns mein Lieblingsfrühstück gemacht. Geräucherten Lachs
mit Frischkäse auf Toast. Happy Harold wird Theater machen, wenn er
sieht, dass alles aufgegessen ist. Aber scheiß drauf, was, Mädchen?
Das Leben gehört den Lebendigen, wie ein Freund von mir zu sagen
pflegte.« Sein Gesicht verdüsterte sich, und er betrachtete das
Mädchen im Bett. Dann fügte er hinzu: »Das war natürlich, bevor er
starb. Hat sich ‘ne Überdosis verpasst
und alles. Dummer Kerl. Das Leben kann verdammt beschissen sein,
ich weiß, aber jedes Leben ist doch wohl besser als gar kein Leben,
oder was meinst du?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er einen großen
Frotteebademantel aufs Bett und stolzierte aus dem Zimmer. Cathy
wickelte sich in den duftenden Stoff und folgte ihm. Sie hatte
inzwischen festgestellt, dass vieles, was er sagte, keiner Antwort
bedurfte.
In der Küche betrachtete sie interessiert den
Teller, der vor ihr stand. Da gab es tatsächlich rosa
Räucherlachsscheiben und einen Berg Frischkäse. Dazu hatte er ihr
aber auch Rührei gemacht und dick mit Butter bestrichene Scheiben
knusprig braunen Toast serviert. Ausgehungert machte sich Cathy
über das üppige Frühstück her. Irgendwann spürte sie eine große
Hand auf ihrem Unterarm und musste grinsen, als Desrae sagte: »Um
Gottes willen, Mädchen, es will dir doch niemand dein Frühstück
wegnehmen. Also entspann dich und iss langsam.«
Cathy aß langsamer und beobachtete Desrae, der an
seiner winzigen Portion knabberte und sich dann geziert mit einer
Serviette den Mund abtupfte. Sie schämte sich, weil sie ihr
Frühstück so gierig hinuntergeschlungen hatte.
»Trink deinen Tee, Süße, ich hab noch keinen Zucker
reingetan. Das bleibt dir überlassen. Und wo das herkam, was auf
dem Tisch steht, wartet noch eine ganze Menge mehr. Also iss
verdammt nochmal langsamer. Sonst kriegst du noch
Verstopfung.«
Aber Cathy war fertig und sah sich in der Küche
um.
Wie die übrige Wohnung war sie sauber und modern.
Sogar die Regale waren sorgfältig gestrichen. In Cathys kurzem
Leben hatten Regale bisher immer aus nacktem Holz bestanden und
waren schmutzverkrustet gewesen. Ihr wurde klar, dass sie eine
Menge zu lernen hatte, wenn sie die Arbeit als Dienstmädchen und
Zofe tadellos verrichten wollte. Madges schludrige Art war hier
bestimmt nicht angesagt. Desrae grinste, als hätte er ihre Gedanken
gelesen.
»Sieht hübsch aus, nicht wahr? Die Wände hab ich
höchstpersönlich gestrichen. Obwohl es mir nicht steht, mag ich
Gelb, denn es ist eine sonnige, freundliche Farbe. Ich mein, sie
verträgt sich gar nicht mit meinem Teint. Aber da pfeif ich drauf!
Ich sitz gerne hier und futtere, weil ich dabei immer gute Laune
krieg. Weißt du, Farben, von denen du umgeben bist, haben große
Bedeutung. Wenn’s irgendwie geht, such ich mir fröhliche Farben
aus. Rosa Töne, gelbe, blaue - na ja, hellblaue natürlich - und
grüne. Grün ist eine sehr entspannende Farbe. Beruhigend. Wirst du
alles von mir lernen, Liebes. Wenn ich fertig bin mit dir, Süße,
dann kannst du als Zofe bei Danny la Rue anfangen.«
»Du hast das immer noch im Kopf?« Cathy klang
zaghaft. Je länger sie mit dieser bizarren Person zusammen war,
umso größer wurde ihr Wunsch, bei ihr zu bleiben, obwohl sie sich
absolut nicht erklären konnte, warum sie so empfand. In
Wirklichkeit hätte sie sich doch schrecklich vor ihm fürchten
müssen. Ein Mann, ein erwachsener Mann, der Frauenkleider trug und
sich fraulicher verhielt, als Cathy je erlebt hatte.
Ja, sie hatte schon von Menschen wie ihm gehört:
Nicht nur Rosettenkrauler, Spinatstecher oder Bratengabel wurden
die Homosexuellen im East End genannt, sondern es gab noch viel
schlimmere Ausdrücke für sie, und behandelt wurden sie mit größter
Verachtung. Nicht viele von ihnen hätten sich getraut, voll
aufgerüscht die Straßen in Bethnal Green entlangzugehen, wenngleich
einige es wagten, am Hafen anschaffen zu gehen. Schwule Männer, die
auch wie Männer aussahen, wurden gerade noch toleriert, behielten
aber ihre sexuellen Vorlieben möglichst für sich.
Nein, Cathy hatte natürlich schon von Schwulen
gehört, aber Desrae war der erste schwule Transvestit, den sie
kennenlernte, und mit Erstaunen stellte sie fest, was für ein
netter Mensch er war. Sie konnte sich aber vorstellen, wie man
dort, wo er herstammte, auf ihn reagieren würde, und zu Recht
vermutete sie, dass er ursprünglich auch aus dem East End kam und
sich
klugerweise so schnell wie möglich an einen Ort abgesetzt hatte,
wo man toleranter war.
Allem Anschein nach hatte er einen lukrativen Job
und war erfolgreich darin. Seine Wohnung glich in Cathys Augen
einem Palast, in dem sich Dinge befanden, die sie bisher nur aus
Filmen kannte. In einer Ecke des Wohnzimmers stand sogar ein
Fernsehapparat, was sie mit Staunen registrierte. Obwohl Madge
genug verdient hatte, um ihnen zu ermöglichen, was die meisten
Menschen ein gutes Leben genannt hätten, war doch der größte Teil
ihres Geldes für Alkohol, Männer und billige Klamotten
draufgegangen.
Cathy hob den Blick und sah, dass Desrae sie
beobachtete. »Ob ich immer noch möchte, dass du mein Dienstmädchen
und meine Zofe wirst? Aber klar doch, Süße. Aber es ist nur so,
dass ich dich nicht erschrecken möchte. Ich weiß ja, es ist kaum zu
glauben …« Er ließ die Augenlider kokett und übertrieben flattern.
»Für den Fall, dass es dir noch nicht so ganz klargeworden ist: Ich
bin in Wirklichkeit ein Mann.«
Cathy lachte fröhlich. »Ja, ganz im Ernst, meine
Süße - schenk mir doch bitte noch ein Tässchen ein, sei so lieb -
ich möchte dir das alles hier nicht zumuten, wenn du nicht sicher
bist, dass du auch wirklich damit umgehen kannst. Wenn du dich
nicht traust, setzen wir uns wieder die Denkmützen auf und lassen
uns was anderes einfallen, okay?«
Cathy schenkte ihm Tee nach und schüttelte den
Kopf. »Ich krieg das schon hin, Desrae. Meine Mom war eine Nutte.
Ich mein, mich kann so leicht nichts erschüttern.«
Desrae wurde ernst und sagte rundheraus: »Gestern
Abend, Schätzchen, warst du aber erschüttert, als ich dir diesen
Kerl vom Hals geschafft hab.«
Cathy zuckte die Achseln. »Das war doch wohl was
anderes. Ich mein, so was muss ich doch nicht machen, oder?«
Es war eine Frage und gleichzeitig eine
hoffnungsvolle Bitte. Desraes ganzes Mitgefühl flog dem Mädchen
zu.
»Aber natürlich nicht, Süße. Scheiße, ich
selbst mach’s doch dieser Tage nur ab und zu, und das auch
nur bei meinen Stammfreiern. Meine Güte, da hat man doch seine
Prinzipien.«
»Was hab ich also zu tun?«, fragte Cathy
wissbegierig.
Desrae zog seinen Frisiermantel enger um sich und
steckte sich eine Sobranie-Zigarette in der Farbe seines Negligés
an.
»Horch mal, Süße, dir würde ich niemals auch nur
ein Härchen krümmen. Damit geht es schon los. Du hast ja wohl so
einiges hinter dir, und ich denke, da musst du dich erstmal
versteckt halten, stimmt’s? Nun, das möchte ich dir hier
ermöglichen. Nur für eine Woche oder zwei, wohlgemerkt, bis etwas
Gras über die Sache gewachsen ist. In der Zeit werde ich dein
Aussehen ein wenig verändern. Werd dir zeigen, wie du dich
schminken musst und so. Wie du dir eine schicke Frisur machst …
Davon abgesehen haben wir beide uns doch darauf geeinigt, dass du
dich eine Weile vom East End fernhältst. Für meinen Teil bin ich
überzeugt, dass du dich ein für alle Mal von der Gegend
verabschieden solltest, aber das bleibt deine Entscheidung. Was
deinen Knaben dort betrifft, würd ich sagen, gib ihm den Laufpass.
Aber wie gesagt, das musst du selbst wissen.« Er nippte geziert an
seinem Tee und fuhr dann erst fort.
»Immer der Reihe nach, äh? Ich war jahrelang
Dienstmädchen, als ich ins West End kam. Und zwar bei einem üblen
Mistkerl. Ein echtes Schwein war das. Hatte aber hübsches Haar, das
musste man ihm lassen, absolut echt und alles. Hat ein Vermögen
gemacht. Nichts für ungut, er hatte auch seine guten Seiten … aber
ich schweife ab. Ich hatte seit Jahren keine Zofe mehr. Die meisten
wollen höher hinaus. Wollen zwar durchaus ihren Job erledigen, aber
wissen nicht, wie sie’s anstellen müssen. Du nimmst sie zu dir,
verliebst dich in die kleinen Biester, und die haben nichts
Besseres zu tun, als dich gnadenlos auszunehmen. Sie stehlen dir
deine Freier, stibitzen dir dein Gold und rauben dir auch noch
deine Selbstachtung, wenn du nicht aufpasst. Nein, schon seit ein
paar Jahren hab ich für mich selbst gesorgt.
Aber jetzt glaub ich, hab ich genau die richtige Person für diese
Aufgabe gefunden … Ich werde dir beibringen, wie du meine Sachen in
Schuss hältst. Wie meine Kunden zu behandeln sind, und dann lernst
du noch den einen oder anderen Trick fürs Alltagsleben. Nichts
Aufregendes, nur was man über Soho wissen muss. Wo man einkauft …
ach, jede Menge Wissenswertes. Aber das ist Zukunftsmusik. Zuerst
werde ich mich um Kleider und Unterwäsche für dich kümmern müssen.
Du kannst mein Make-up benutzen, bis du eigenes hast. Wir müssen
dir ein Image verpassen, was denkst du? Du bist ein wunderhübsches
Mädchen und wirst Furore machen, schätz ich. Unterdessen bring ich
dir bei, was eine Zofe zu tun hat. Die meisten meiner Kunden sind
Stammfreier - hab immer darauf geachtet, mir einen Stamm
aufzubauen, und hab das über die Jahre auch geschafft. Und dann wär
da natürlich noch mein Freund.«
Er lachte, als er Cathys verblüfftes Gesicht
sah.
»Ja, ich hab einen Boyfriend, Süße, und nicht die
geringste Ahnung, wie der auf dich reagieren wird! Aber darüber
machen wir uns im Moment noch keine Sorgen. Zuerst werd ich mich
mal anziehen, und dann nehm ich bei dir Maß, damit wir dir ein paar
schöne Sachen kaufen können. Kann doch nicht verantworten, dass
meine Zofe aussieht wie ‘ne Vogelscheuche, oder? Was würden bloß
die anderen Mädels sagen, hm?«
Cathy konnte nur noch staunen. Desrae klang bei
allem, was er sagte, lebensfroh, sorglos und begeistert. Sie konnte
nur hoffen, dass diese Unbekümmertheit abfärbte. Wenn sie im Moment
etwas brauchte, dann war es ein wenig Erholung, ein Aufatmen. Sie
hätte sich am liebsten in dieser schönen Wohnung verkrochen, in
Gesellschaft dieses netten Mannes ihre Wunden geleckt und Leib und
Seele gepflegt.
Mit Desrae bot sich vielleicht die Chance, ein
neues Leben zu beginnen. Sie konnte Eamonn nicht gegenübertreten,
nicht bevor sie so weit war. Nicht bevor sie ihm ebenbürtig war.
Eamonn
gefiel es nicht, mit den Problemen anderer belastet zu werden.
Dazu war er zu sehr in die eigenen verstrickt.
Nein, sie würde diesem seltsamen Mann eine Zofe
sein und sich vor der Welt verstecken, bis sie bereit war, im
Triumph zurückzukehren. Wie gespannt sie war, Eamonns Gesicht zu
sehen, wenn das geschah! Der Gedanke beglückte Cathy, und Desrae,
dem das Leuchten in ihren Augen nicht entging, schürzte
nachdenklich die Lippen.
Mit dumpfen Schmerzen am ganzen Körper und
furchtbarem Brennen tief zwischen den Beinen erwachte
Caroline.
Eamonns Arme hielten sie umschlungen, und
instinktiv kuschelte sie sich an seinen warmen Körper. Vor Schmerz
zusammenzuckend fiel ihr ein, dass sie ein blaues und fast ganz
zugeschwollenes Auge hatte. Es fühlte sich an, als sei es zu groß
für ihr Gesicht. Versuchsweise öffnete sie es ganz langsam und
erkannte Eamonn, der auf sie herabsah. Der Ausdruck seines hübschen
Gesichts verriet neben Scham auch eine Art Hochgefühl.
Er küsste sanft ihre Stirn. Es waren kleine Küsse,
immer wieder unterbrochen von Liebesbekundungen.
»Es tut mir ja so leid, Caroline. Ich hab keine
Ahnung, was in mich gefahren ist. Du weißt, dass ich dich liebe.
Ich werde dich immer lieben. Es gibt keine andere für mich.« Er
drückte ihren von Schlägen malträtierten Körper an sich und
bereitete ihr dadurch nur neue Schmerzen. Doch wie schlimm wären
die erst gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass er die ganze Zeit,
während er sie besänftigt und getröstet hatte, in Gedanken bei
einem anderen Mädchen gewesen war. Cathy … seine Cathy … dem
Rattennest entkommen und in Sicherheit bei den reichen und
spießigen Hendersons.
Eamonn hätte sie am liebsten aufgespürt, um ihnen
zu zeigen, was er von ihrem selbstzufriedenen und wohltätigen Leben
hielt. Aber andererseits hatte er selbst ja auch die Schulkameraden
mit sauberer Kleidung, gewaschenen Haaren und wohlgenährtem
Äußeren beneidet, und er wusste, dass Cathy dort besser aufgehoben
war, wo sie sich befand. Zumindest im Moment noch.
Aber sobald sie sechzehn war, würde er zur Stelle
sein. Dann wäre sie nämlich frei, über ihr Leben zu bestimmen,
frei, ihn so zu lieben, wie er sicher war, sie zu lieben. Sie
unsterblich zu lieben. Bis dahin würde er sich mit dieser dämlichen
Schlampe zufriedengeben müssen, die es anscheinend für ein Zeichen
der Zuneigung hielt, wenn er sie verprügelte.
»Ich liebe dich, Eamonn.«
Sie sagte die Wahrheit. Am Abend zuvor hatte sich
Caroline in die Gefahr verliebt, und ihr Leben lang würde sie der
Gefahr verfallen sein. Als sie in sein hübsches Gesicht unter den
dunklen Haaren blickte, als sie seine funkelnden Augen sah und
seine vollen sinnlichen Lippen, entbrannte ihre Liebe noch stärker,
und sie glaubte fest, dass dieser große Junge, der schon längst ein
Mann war, sie ebenfalls liebte.
Er hatte ihretwegen einen anderen Mann verletzt. So
stark war seine Liebe und Hingabe, dass er für sie töten würde.
Trotz ihrer Schmerzen lächelnd, ließ Caroline die Hand seinen
Körper hinuntergleiten, bis sie seinen steifen Penis gefunden
hatte. Heiß und feucht vor Verlangen öffnete sie die
Schenkel.
Sie wurde nicht enttäuscht. Besseren Sex hatte sie
noch nie erlebt, und er machte süchtig. Von Eamonn Docherty konnte
sie einfach nicht genug bekommen.
In einem Hemd, das Desrae zu klein war, und
schwarzen Strumpfhosen schaute Cathy staunend zu, wie er sein
»Gesicht« zurechtmachte. Obwohl sie doch jahrelang zugesehen hatte,
wie sich ihre Mutter aufgetakelt hatte, war sie auf das, was sie
hier zu sehen bekam, nicht vorbereitet.
Nachdem Desrae sich eine dicke Schicht Grundierung
aufs Gesicht geklatscht hatte, modellierte er die Wangenknochen
fachmännisch mit Make-up und korrigierte gekonnt Konturen und
Falten. Begeistert von sich selbst sah er Cathy an, ließ die
Augenbrauen tanzen und sagte: »Na, bin ich nicht ein cleveres
Kerlchen? Was sagst du?«
Dann brachte er sie zum Lachen, indem er sich ein
paarmal mit geschürzten Lippen Küsse im Spiegel zuwarf und die
Augen verdrehte, bevor er die Umrisse seiner Lippen mit einem
dunkelbraunen Strich betonte.
»So wirken sie voller, verstehst du? Meine sind ein
wenig zu schmal. Hab eben Männerlippen, is’ so.«
Danach benutzte er einen hellrosa Lippenstift und
verteilte die Farbe gleichmäßiger, indem er die Lippen aufreizend
zusammenpresste und anschließend die Zunge im Mund kreisen
ließ.
Inzwischen konnte sich Cathy vor Lachen kaum mehr
halten.
»Und jetzt um die guten alten Augen rum, mein
Mädchen. Eine geradezu lebensgefährliche Maßnahme, und als ich das
erste Mal erleben musste, dass sie durchgeführt wurde, ist mir so
übel geworden, dass man mich ins Krankenhaus bringen wollte.«
Er zog ein unteres Lid nach außen und bemalte es an
der Innenseite mit einem Kohlestift, sodass die schwarze Farbe
seine Augen sofort größer und offener wirken ließ. Er ließ die
Wimpern flattern und strich dann mit einem dicken Pinsel fettigen
blauen Lidschatten auf. Erst nach fünf Minuten war er mit seinem
Werk zufrieden. Dann blinzelte er heftig und schnell, sah Cathy
wieder an und grinste.
»Wird langsam was, hm?«
Als Nächstes kamen die falschen Wimpern an die
Reihe, die er mit der Sorgfalt und Konzentration anbrachte, die
auch ein Chirurg bei der Operation walten lässt. Er klebte sie
sowohl an die Ober- wie an die Unterlider, lehnte sich zurück und
erfreute sich stolz an seiner Kunstfertigkeit.
Die Wangen einsaugend, musterte er sich kritisch.
»So, ich
denke, heute mal wieder das bräunliche Rouge - bringt meine
Wangenknochen besonders schön zur Geltung.« Er griff nach einem
großen Pinsel und tupfte ihn in ein Pudertöpfchen.
»Verhalte dich immer so, als würde dich jemand
beobachten. Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, aber seit vielen
Jahren richte ich mich schon danach. Es stimmt nämlich
hundertprozentig.« Er trug das Rouge mit schwungvollen Strichen
auf. »Bleibt also nur noch der Wuschelkopf. Über Tag trag ich nie
eine Perücke, außer wenn ich arbeite.«
Er nahm die Lockenwickler heraus, bürstete sein
Haar und kämmte es streng zurück, bevor er es um den Kopf herum zu
einem weiten Heiligenschein frisierte und an den Enden nach oben
schnippte.
»Mandy Rice-Davis kann vor Neid nur käsebleich
werden, oder? Ich mein, wer braucht ‘ne Frau, wenn ich zu haben
bin?«
Cathy lachte noch immer. »Du siehst toll aus, ganz
und gar nicht wie ein …« Sie verstummte.
Desrae legte seine sorgsam manikürten Finger auf
Cathys Hände und sagte frohgelaunt: »Mach dir keine Gedanken wegen
dem, was dir beinahe rausgerutscht wäre, Süße, ich seh das als
Kompliment. Ich verbring Stunden damit, mich als Frau
zurechtzumachen. Warum sollte ich verärgert sein, wenn du sagst,
ich würde gar nicht aussehen wie ‘n Kerl?«
Cathy schüttelte nur den Kopf, denn ihr fiel keine
Antwort ein.
»Hast du schon mal gesehen, was uns Männern
zwischen den Beinen hängt?«
Sie nickte, wusste aber nicht, was jetzt kommen
würde. Desrae musste über ihren Gesichtsausdruck lachen. »So süß du
auch sein magst, ich glaub, wir haben festgestellt, dass du nicht
mein Typ bist, oder? Nee, nee, Kleines, keine Angst. Ich werde mir
jetzt nur meinen Body anziehen, mehr nicht. Und dabei wirst du den
Kleinen ganz kurz sehen, wenn überhaupt.«
Nachdem er sein Nachtzeug ausgezogen hatte, stand
er für
einen Moment nackt vor ihr. Dann zog er ein paar winzige Shorts
an. Dabei nahm er seinen Penis und schob ihn so weit zwischen die
Schenkel nach hinten, wie es irgend ging. Im Spiegel sah ihn Cathy
völlig verschwinden, als Desrae die gepolsterten Shorts hastig nach
oben zog. Er machte ein Hohlkreuz, grinste und posierte mit seinem
hageren, hoch aufgeschossenen Körper wie ein Balletttänzer.
»Clever, was?«
Cathy kicherte entzückt.
»Jetzt noch die Gummititten, und die Kerle können
anrücken.«
Zehn Minuten später trug er einen roten Pulli,
unter dem die falschen Brüste himmelwärts wiesen, und einen
knielangen schwarzen Rock. Schwarze Strumpfhosen und hochhackige
Schuhe vervollständigten das Bild.
»Also, was sagst du?«
Cathy lehnte sich auf dem Bett zurück und
schüttelte staunend den Kopf. »Du siehst einfach umwerfend aus,
Desrae. Blendend.«
In gespielter Begeisterung lobte er sich selbst:
»Nicht schlecht für so einen alten Zausel, kann ich auch nicht
anders sagen.« Und mit einem breiten Grinsen kommandierte er dann:
»Jetzt los, schicke Klamotten kaufen.«
Als sie aus dem Schlafzimmer gingen, kam es Cathy
vor, als sei sie noch nie glücklicher gewesen. Sie fühlte sich
geliebt und in sicherer Obhut.
Außerdem hatte sie den Eindruck, dass gar nicht so
viel nötig war, um die Menschen glücklich zu machen. Jedenfalls
nicht so viel, wie sie meinten.
Desrae marschierte mit einem breiten Grinsen und
entschlossener Miene in Tony Gosas Kaffeehaus. Tony, der ihn sofort
erkannte, lächelte argwöhnisch zurück. »Hallo, was darf’s denn
sein?«
Desrae flötete mit seiner lieblichsten
Kleinmädchenstimme: »Kaffee, bitte. Süß und warm, so wie
Sie.«
Tony nickte und sah zu, wie er sich setzte. Desrae
war aus Soho nicht wegzudenken. Aber er war nicht nur als
Transvestit bekannt, sondern eher noch deswegen, weil sein
langjähriger Freund kein anderer war als Joey Pasquale.
Joey war ein Großer, ein echt Großer.
Er beherrschte das West End, indem er Angst und
Schrecken verbreitete, und war verrufen wegen seiner Härte. Er war
nicht hart, aber gerecht, wie die meisten Gangster, nein, er war
nur hart. Seine einzigen Schwächen waren Desrae, mit dem er schon
seit Jahren zusammen war, sowie seine Ehefrau und sein Sohn.
Tommy Pasquale war achtzehn und erst kürzlich ins
Geschäft seines Vaters eingetreten. Den angestrebten Ruf erwarb er
sich in Windeseile. Man erzählte sich, dass er Desrae schon seit
langem »Tantchen« nannte, aber bis jetzt hatte noch niemand den
Mumm besessen, offen danach zu fragen, ob es stimmte.
Normalerweise verkehrte Desrae nicht in Läden wie
dem von Tony Gosa, sondern suchte die netteren Lokale in Piccadilly
auf, wo man ihn kannte und mit Respekt behandelte. Nein, jetzt saß
er aus einem ganz besonderen Grund in Tonys Kaffeehaus, und Tony
wurde das Gefühl nicht los, dass Ärger auf ihn wartete.
Als Tony ihm den Kaffee auf den Tisch stellte,
lächelte Desrae ihn herausfordernd an. »In letzter Zeit mal wieder
arme kleine Mädchen beherbergt?«
Tonys Lächeln gefror.
»Macht ja ein mordsmäßiges Frühstück, deine Mom.
Hat mir jedenfalls meine kleine Nichte erzählt. Wie ich höre,
verbrachte sie wohl einen recht lehrreichen Abend bei dir und
deiner Mutter.«
Tony sagte kein Wort. Es hatte ihm die Sprache
verschlagen. »Heißt Cathy, die Kleine. Erinnerst du dich an sie?
Ist nur so, dass du ihr wohl fünfundzwanzig Pfund berechnet hast.
Ja, ich glaube, das war die Summe. Aber nein, wenn ich’s so recht
bedenke,
können es wohl auch fünfzig Pfund gewesen sein.« Er tat
konzentriert, runzelte angestrengt die Stirn. »Ja, genau, fünfzig
Pfund sind es gewesen. Zumindest hat sie es mir so erzählt, mir und
meinem Freund Joey. War ganz schön vergrätzt deswegen, mein Freund
Joey. Hat die Kleine nämlich in sein Herz geschlossen.«
Tony spürte, dass ihm der kalte Schweiß
ausbrach.
»Hat er hier reingeguckt?«, fuhr Desrae fort. »Kann
mir vorstellen, dass er inzwischen nach mir sucht.«
Tony schüttelte den Kopf. Er ging zurück an seine
Kasse, hatte die fünfzig Pfund in Rekordzeit abgezählt, kam zurück
und drückte sie Desrae in die ausgestreckte Hand. Dabei
entschuldigte er sich unentwegt: »Hätte sie erwähnt, dass sie deine
Nichte ist, ich schwör beim Augenlicht meiner Mutter …«
Desrae unterbrach ihn. »Halt bloß den Rand, du
griechische Schwuchtel. Du würdest das Augenlicht deiner Mutter
doch für ein paar Pfund verscherbeln, und sie würde mit deinem
dasselbe tun. Also quatsch keinen Scheiß, sondern hör mir zu. Bis
jetzt weiß Joey von nichts, aber wenn ich erfahre, dass irgendwo
auch nur irgendwas über die Angelegenheiten meiner Nichte
getratscht worden ist, dann mach ihr dir so viel Ärger, dass du dir
wünschst, deine Mutter hätte für deinen Erzeuger niemals die Beine
breit gemacht. Kannst du mir folgen?«
»Ja … Hör mal, Desrae, wenn du sagst, sie ist deine
Nichte, dann ist sie deine Nichte. Sie mag meinetwegen auch deine
Tochter sein, solange ich keinen Besuch von Mr. Pasquale
kriege.«
Desrae lachte entzückt. »Tochter wäre selbst von
mir ein wenig viel verlangt, mein Bester. Nichte reicht völlig. Und
erwähne sie mal hier und da, okay? Das wüsste ich zu schätzen.
Vielleicht bring ich sie mal auf einen kleinen Plausch mit
hierher.«
Tony schluckte schwer. »Deine Nichte wird mir stets
willkommen sein, ebenso wie du.«
Desrae stand auf und sah auf den kleineren Mann
herab.
»Schiss, nicht wahr? Du hast so viel Schiss, dass
du mir den Schwanz lutschen würdest, wenn ich nett darum bitte,
oder?«
Tony war bestürzt. Desrae war zu allem fähig. Er
galt als ebenso unerbittlich wie sein Boyfriend. Niemand, der sich
je mit Desrae angelegt hatte, war heil davongekommen. Im
Unterschied zu vielen Schwulen in Soho zählte dieser Mann ganz
gewiss nicht zu den Opferlämmern. Trotz seiner mädchenhaften Stimme
und seiner Manierismen konnte er zuschlagen wie ein Schauermann und
scheute sich nicht, zum Messer zu greifen. Tony war geliefert und
wusste das sehr wohl. Er wusste auch, dass er gehorchen musste,
wenn Desrae darauf bestand, dass ihm der Schwanz gelutscht
wurde.
Desrae lachte. »Keine Sorge, ich bin sehr
wählerisch, was das Ficken betrifft. War schon immer so. Und du,
Kumpel, pass nächstens besser auf. Du hast die falsche Person
abgezockt. Hast wohl kein Händchen mehr dafür, Alterchen.«
Als er in seinen schwarzen Stöckelschuhen aus dem
Kaffeehaus stakte, stieß Tony Gosa einen tiefen Seufzer der
Erleichterung aus. Er hätte sich denken müssen, dass das kleine
Luder Ärger bringen würde. Sah man doch schon daran, wie sie wieder
aufgetaucht und ihr Geld verlangt hatte.
Wenn sie unter dem Schutz von Desrae und Pasquale
stand, konnte sie sich jedenfalls glücklich preisen. Tony hoffte
nur, dass sie ihm nie wieder unter die Augen kommen würde.
Desrae machte seine Runden durch Soho und wurde
überall fürstlich begrüßt und empfangen. Auf dem Weg durch die
Marktgassen winkte er Huren wie Rausschmeißern huldvoll zu und
begrüßte sie mit seiner hohen Stimme und dem gehauchten,
übertrieben femininen Lachen.
»Hab meine Nichte bei mir einquartiert. Wartet nur,
bis ihr sie kennenlernt. Ist ein ganz entzückendes Geschöpf.«
Alle taten so, als freuten sie sich mit ihm, und
winkten ihm fröhlich zu.
Desrae wusste ganz genau, warum er diese Geschichte
erzählte. War Cathy einmal als seine Nichte akzeptiert, wie
unglaubwürdig es auch klingen mochte, würde sie in der Vorstellung
aller auch tatsächlich zu seiner Verwandten werden.
Sämtliche Fragen, die sie betrafen, würden auf eine Mauer des
Schweigens prallen, und eben das bezweckte er.
Er liebte es, sich um andere Menschen zu kümmern,
und jetzt hatte er eine Person gefunden, die er umsorgen konnte und
die bisher weder mit seinem Ruf noch mit seinem Lebensstil vertraut
war. Bevor Cathy darüber mehr herausfand, wollte er unbedingt
sicher sein, dass sie ihn bereits um seiner selbst willen
liebte.
Als er mit den fünfzig Pfund in seiner Handtasche
und Cathys Maßen im Kopf der Oxford Street zustrebte, kam ihm ein
amüsanter Gedanke. Er würde sie anziehen wie eine kleine Königin.
Sie würde die kleine Prinzessin der großen Queen Desrae sein!
Er musste laut lachen.
Was Joey wohl sagen würde, wenn er sie zu Gesicht
bekam? Desrae hatte keinen Schimmer, aber wie er Joey kannte, würde
der kaum was sagen. Was einen gewichtigen Teil seiner
Anziehungskraft ausmachte. Joey vertraute ihm blind. Sie vertrauten
einander. Niemand hatte je ahnen können, wie intensiv ihre
Beziehung tatsächlich war, und das war ihnen beiden nur
recht.
Desraes Blick verschleierte sich, als er an sein
erstes Zusammentreffen mit Joey Pasquale dachte. Seiner Überzeugung
nach hatte das Schicksal dabei die Hand im Spiel gehabt.
An einem kalten regnerischen Abend vor fünfzehn
Jahren hatte er sich in seine besten Fummel geworfen und war durch
die Straßen von Soho gestreift, um sich einen passenden Burschen zu
suchen. Einen Freier. Stattdessen hatte man ihn in ein Auto gezerrt
und in eine verlassene Gegend bei Notting Hill gebracht. Ein
Trümmergrundstück war der Ort gewesen, an dem er erleben musste,
was Massenvergewaltigung bedeutete.
Als seine Entführer feststellten, dass er keine
Frau war, hatten sie alle Beherrschung verloren, an seinem Penis
gerissen, ihn mit Messern verletzt. Nachdem er sie schließlich der
Reihe nach oral befriedigt hatte, war er von ihnen unter grölendem
Gelächter und allgemeinem Jubel brutal vergewaltigt worden.
Desrae hatte mit Erstaunen registriert, wie jung
sie waren. Nicht älter als er auch. Wahrscheinlich waren sie im
Kern ganz anständige Kerle, die schon bald die Ereignisse des
Abends vergessen hatten und ihr normales Leben führten. Er hatte
bereits die Erfahrung gemacht, dass viele der sogenannten
»richtigen« Männer die schlimmsten Schwanzjäger waren. Sehr viele
Männer führten ein Doppelleben. In den Clubs, die er frequentierte,
hatte er alles gelernt, was er in dieser Hinsicht wissen
musste.
Jetzt war er von fünf jungen Männern missbraucht
und erniedrigt worden, die ihre Handlungen zweifellos deswegen für
gerechtfertigt hielten, weil Desrae nicht zu ihnen, den Jungs,
zählte. Er stemmte sich auf die Knie und spürte die Tränen, die
sich im blauen Auge sammelten, das sie ihm verpasst hatten, als sie
ihn noch für ein weibliches Wesen hielten.
Einer der Typen schloss seinen Hosenschlitz. Weil
er sein Schnappmesser noch immer in der Hand hielt, hatte er große
Schwierigkeiten damit.
Über Desraes Oberschenkel rann das Blut, und er
spürte, wie sich die Stichwunde an seinen Hoden durch die
plötzliche Bewegung öffnete, als er nach dem Messer hechtete. Kaum
hatte er es gepackt, holte er aus und schwang es mit aller Kraft
gegen den Hals des Jungen.
Die zwanzig Zentimeter lange Klinge schlitzte die
Haut auf und durchtrennte die Luftröhre.
Die anderen standen da und sahen zu, vor Schreck
erstarrt.
Ein Zischlaut drang in die Dunkelheit und übertönte
in ihren Ohren sogar das Rattern der Züge, die in der Ferne
vorbeifuhren. Der Junge fiel auf den Rücken, die leeren Augen in
den Abendhimmel gerichtet.
Der kleinste von den Kerlen, ein Winzling mit viel
Pomade im Haar und in einer billigen Lederjacke, wiederholte
unentwegt: »Ach du lieber Gott! Ach du lieber Gott!«
Nach einem fassungslosen Blick auf das Messer in
seiner Hand sah Desrae die anderen ungläubig an. Der Junge auf dem
Boden gab ein Röcheln von sich, und instinktiv wussten sie alle,
dass er in dem Moment gestorben war.
In Sekundenschnelle war Desrae allein.
Die Burschen rannten davon, bestürzt und beschämt
darüber, was sie gesehen und getan hatten.
Desrae richtete seine Kleidung, so gut es ging, und
versuchte sich aufrecht zu halten. Sein Anus war wund, blutete
heftig und schmerzte ganz fürchterlich. Er wusste, dass er einen
Arzt aufsuchen und sich zudem so schnell wie möglich von dem toten
Jungen entfernen musste. Als er davontorkelte, behinderten ihn die
Stöckelschuhe, auf denen er Stunden zuvor noch so stolz durch die
Gegend gestakst war. Also blieb er stehen und zog sie aus.
In dem Augenblick sah er einen Mann auf sich
zukommen. Seine Angst war so groß, dass er sich auf die Knie fallen
ließ und laut zu wehklagen begann. Man hatte ihn erwischt,
überführt. Sein Leben war zu Ende. Sobald klar war, was er getan
hatte, würde er ganz tief in der Scheiße stecken. Niemand würde ihm
auch nur ein Wort glauben, das er zu seiner Verteidigung
vorbrachte. Man würde ihn als Perversling darstellen, der einen
unschuldigen jungen Mann kaltblütig umgebracht hatte.
Als ihm diese Gedanken durch den Kopf rasten,
spürte er plötzlich, wie sich eine schwere Hand über seine Lippen
legte. Er wollte vor Schreck schreien, aber es gelang ihm nicht.
Dann flüsterte eine eindringliche Stimme an seinem Ohr: »Wenn du
mal eine Sekunde mit diesem Theater aufhören würdest, dann versuch
ich dir zu helfen, Kleiner. Wo ist deine Perücke? Hattest du eine
Tasche?«
Desrae blickte in das faszinierendste Gesicht, das
er je gesehen
hatte. Er unterdrückte die Tränen und beantwortete die Fragen des
Mannes. »Die hab ich verloren. Bitte helfen Sie mir! Bitte …«
Der Mann war freundlich. Er half Desrae auf die
Beine und hob auch dessen Schuhe auf.
»Hör mal, Sohn. Ich hab die Leiche gesehen und kann
mir denken, was passiert ist. Also beruhige dich erstmal, und ich
sammel deine Siebensachen ein und bring dich dann nach Hause.
Okay?«
Desrae nickte. Der Mann hatte »Sohn« gesagt. Er
wusste also, was er war, und machte sich nichts daraus.
Zehn Minuten später saß er in einem eleganten Wagen
und fühlte sich unbehaglich, weil er auf die Lederpolster blutete.
Der Mann redete noch immer, um ihn zu beruhigen, und seine tiefe
Stimme erzielte die gewünschte Wirkung.
Sein Retter brachte ihn zu einem Arzt in Barnes.
Als er den Weg entlanghumpelte, fragte sich Desrae auf einmal,
worauf er sich eingelassen hatte. Der Mann musste geahnt haben, wie
er sich fühlte, denn er sagte freundlich: »Er ist ein richtiger
Arzt, keine Bange. Einer, der Abtreibungen macht. Im Rahmen meiner
Arbeit nehme ich seine Dienste manchmal in Anspruch. Okay? Da wird
es keine Anrufe bei den Bullen geben, das kannst du mir glauben.
Also entspann dich.«
Desrae hatte kaum eine andere Wahl.
Er blieb drei Tage bei dem Arzt, nachdem er genäht
und ruhiggestellt worden war. Sein Retter kam jeden Tag, und
nachdem er sich schließlich vorgestellt hatte, unterbreitete er dem
Jungen einen Vorschlag.
Er würde sich um ihn kümmern und sein Freund sein.
Im Gegenzug erwartete er gelegentlich eine Gefälligkeit. Sie
wussten beide, worum es sich dabei handelte, und waren zufrieden
und glücklich mit dieser Vereinbarung. Seitdem fühlte sich Desrae
Joey Pasquale für alle Zeiten in Dankbarkeit verpflichtet.
Freundschaften dieser Art waren für Männer wie ihn
eine
Seltenheit, und er war klug genug, das zu schätzen. Joeys
Freundschaft bedeutete ihm mehr als alles andere. Sein Freund hatte
ihm eine Wohnung gestellt und ihn in die besten Schwulenclubs
eingeführt, die London aufzuweisen hatte. Er fand exzellente
Kundschaft und stand stets unter dem Schutz, den seine Beziehung zu
Joey garantierte. Ihr Sexleben war beiderseitig befriedigend, und
inzwischen verband sie außer Zuneigung auch tief empfundener
Respekt. Desrae wusste, welches Glück er gehabt hatte, und dankte
täglich Gott dafür, dass es Joey gab.
Er verehrte seinen Freund und Beschützer, und er
konnte nur hoffen, dass die kleine Cathy es ebenfalls tun
würde.
Als er schließlich wieder in seine Wohnung
zurückkam, lächelte er beim Klang ihres Lachens, das aus der Küche
kam. Cathy war Joey begegnet, und offenbar hatten die beiden sich
auf Anhieb verstanden, wovon Desrae auch ausgegangen war.
Wenn jemand seine Gefühle für das Mädchen und seine
Gründe, sie bei sich aufzunehmen, würde nachvollziehen können, dann
Joey. Schließlich hatte er ja praktisch dasselbe getan.
Mit seinen Einkäufen beladen, betrat Desrae die
Küche und sagte betont ernst: »Was haben wir denn hier - einen
Kaffeeklatsch?«
Cathy und Joey sahen einander grinsend an.
Joey richtete den Blick seiner dunkelbraunen Augen
zur Zimmerdecke und sagte ähnlich ernst: »Jetzt reicht es aber mit
dieser verdammten Einkauferei, Des! Welche Boutique hast du denn
nun schon wieder leergeräumt?« Mit einem Blick auf Cathy schüttelte
er sorgenschwer den Kopf. »Aus einem Ackergaul kann man doch eh
kein Rennpferd machen.«
Noch immer vergnügt lachend, machte die Kleine
ihnen einen Tee, und die Atmosphäre in der Küche wurde beinahe
festlich.
Nachdem er Joey auf die Wange geküsst hatte, sah
Desrae
ihm in die Augen. »Ich konnte sie doch nicht auf der Straße
lassen, oder?«
Joey schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber
ich kann nur für euch beide hoffen, dass ihr mir ein Frühstück
serviert. Ich bin nämlich am Verhungern.«
Desrae zwinkerte ihm zu und lächelte. Joey lächelte
zurück.
Cathy betrachtete die beiden und dankte Gott, dass
er sie zu Desrae und ihrem Freund geführt hatte. Hätte sie um deren
Ruf gewusst, würde sie dennoch Gott gedankt haben, aber es sollte
noch eine Weile dauern, bis sie überhaupt etwas herausfand.