Kapitel sechzehn
Cathy erwachte und hörte Geschirrklappern und Radiomusik. Die Geräusche waren ihr fremd, und sekundenlang fragte sie sich, wo sie sein mochte. Dann öffnete sie die Augen und sah, dass fahler Wintersonnenschein durch die schweren rosa Vorhänge ins Zimmer fiel. Die Ereignisse des vorangegangenen Abends fielen ihr langsam wieder ein. Schnell schloss sie die Augen, um den Mann zu vergessen, die Seitengasse und den widerlichen Gestank.
Als sie sich jedoch an die Mannfrau mit Namen Desrae erinnerte, musste sie lächeln und wurde von einem intensiven Glücksgefühl erfasst. Trotz all der schrecklichen Dinge, die ihr während der letzten Wochen zugestoßen waren, war sie überzeugt, der Person trauen zu können, die sie gerettet hatte.
Sie hörte, wie er mit zarter Stimme zu den Monkees trällerte, und musste schmunzeln. Last Train to Clarksville hatte so noch nie geklungen! In einem langen blauen Frisiermantel und mit Lockenwicklern im Haar kam er ins Zimmer gestürmt und sang dabei noch immer in den höchsten Tönen.
»Wach auf, Cathy. Komm und iss etwas«, befahl er. »Ich hab uns mein Lieblingsfrühstück gemacht. Geräucherten Lachs mit Frischkäse auf Toast. Happy Harold wird Theater machen, wenn er sieht, dass alles aufgegessen ist. Aber scheiß drauf, was, Mädchen? Das Leben gehört den Lebendigen, wie ein Freund von mir zu sagen pflegte.« Sein Gesicht verdüsterte sich, und er betrachtete das Mädchen im Bett. Dann fügte er hinzu: »Das war natürlich, bevor er starb. Hat sich ‘ne Überdosis verpasst und alles. Dummer Kerl. Das Leben kann verdammt beschissen sein, ich weiß, aber jedes Leben ist doch wohl besser als gar kein Leben, oder was meinst du?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er einen großen Frotteebademantel aufs Bett und stolzierte aus dem Zimmer. Cathy wickelte sich in den duftenden Stoff und folgte ihm. Sie hatte inzwischen festgestellt, dass vieles, was er sagte, keiner Antwort bedurfte.
In der Küche betrachtete sie interessiert den Teller, der vor ihr stand. Da gab es tatsächlich rosa Räucherlachsscheiben und einen Berg Frischkäse. Dazu hatte er ihr aber auch Rührei gemacht und dick mit Butter bestrichene Scheiben knusprig braunen Toast serviert. Ausgehungert machte sich Cathy über das üppige Frühstück her. Irgendwann spürte sie eine große Hand auf ihrem Unterarm und musste grinsen, als Desrae sagte: »Um Gottes willen, Mädchen, es will dir doch niemand dein Frühstück wegnehmen. Also entspann dich und iss langsam.«
Cathy aß langsamer und beobachtete Desrae, der an seiner winzigen Portion knabberte und sich dann geziert mit einer Serviette den Mund abtupfte. Sie schämte sich, weil sie ihr Frühstück so gierig hinuntergeschlungen hatte.
»Trink deinen Tee, Süße, ich hab noch keinen Zucker reingetan. Das bleibt dir überlassen. Und wo das herkam, was auf dem Tisch steht, wartet noch eine ganze Menge mehr. Also iss verdammt nochmal langsamer. Sonst kriegst du noch Verstopfung.«
Aber Cathy war fertig und sah sich in der Küche um.
Wie die übrige Wohnung war sie sauber und modern. Sogar die Regale waren sorgfältig gestrichen. In Cathys kurzem Leben hatten Regale bisher immer aus nacktem Holz bestanden und waren schmutzverkrustet gewesen. Ihr wurde klar, dass sie eine Menge zu lernen hatte, wenn sie die Arbeit als Dienstmädchen und Zofe tadellos verrichten wollte. Madges schludrige Art war hier bestimmt nicht angesagt. Desrae grinste, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Sieht hübsch aus, nicht wahr? Die Wände hab ich höchstpersönlich gestrichen. Obwohl es mir nicht steht, mag ich Gelb, denn es ist eine sonnige, freundliche Farbe. Ich mein, sie verträgt sich gar nicht mit meinem Teint. Aber da pfeif ich drauf! Ich sitz gerne hier und futtere, weil ich dabei immer gute Laune krieg. Weißt du, Farben, von denen du umgeben bist, haben große Bedeutung. Wenn’s irgendwie geht, such ich mir fröhliche Farben aus. Rosa Töne, gelbe, blaue - na ja, hellblaue natürlich - und grüne. Grün ist eine sehr entspannende Farbe. Beruhigend. Wirst du alles von mir lernen, Liebes. Wenn ich fertig bin mit dir, Süße, dann kannst du als Zofe bei Danny la Rue anfangen.«
»Du hast das immer noch im Kopf?« Cathy klang zaghaft. Je länger sie mit dieser bizarren Person zusammen war, umso größer wurde ihr Wunsch, bei ihr zu bleiben, obwohl sie sich absolut nicht erklären konnte, warum sie so empfand. In Wirklichkeit hätte sie sich doch schrecklich vor ihm fürchten müssen. Ein Mann, ein erwachsener Mann, der Frauenkleider trug und sich fraulicher verhielt, als Cathy je erlebt hatte.
Ja, sie hatte schon von Menschen wie ihm gehört: Nicht nur Rosettenkrauler, Spinatstecher oder Bratengabel wurden die Homosexuellen im East End genannt, sondern es gab noch viel schlimmere Ausdrücke für sie, und behandelt wurden sie mit größter Verachtung. Nicht viele von ihnen hätten sich getraut, voll aufgerüscht die Straßen in Bethnal Green entlangzugehen, wenngleich einige es wagten, am Hafen anschaffen zu gehen. Schwule Männer, die auch wie Männer aussahen, wurden gerade noch toleriert, behielten aber ihre sexuellen Vorlieben möglichst für sich.
Nein, Cathy hatte natürlich schon von Schwulen gehört, aber Desrae war der erste schwule Transvestit, den sie kennenlernte, und mit Erstaunen stellte sie fest, was für ein netter Mensch er war. Sie konnte sich aber vorstellen, wie man dort, wo er herstammte, auf ihn reagieren würde, und zu Recht vermutete sie, dass er ursprünglich auch aus dem East End kam und sich klugerweise so schnell wie möglich an einen Ort abgesetzt hatte, wo man toleranter war.
Allem Anschein nach hatte er einen lukrativen Job und war erfolgreich darin. Seine Wohnung glich in Cathys Augen einem Palast, in dem sich Dinge befanden, die sie bisher nur aus Filmen kannte. In einer Ecke des Wohnzimmers stand sogar ein Fernsehapparat, was sie mit Staunen registrierte. Obwohl Madge genug verdient hatte, um ihnen zu ermöglichen, was die meisten Menschen ein gutes Leben genannt hätten, war doch der größte Teil ihres Geldes für Alkohol, Männer und billige Klamotten draufgegangen.
Cathy hob den Blick und sah, dass Desrae sie beobachtete. »Ob ich immer noch möchte, dass du mein Dienstmädchen und meine Zofe wirst? Aber klar doch, Süße. Aber es ist nur so, dass ich dich nicht erschrecken möchte. Ich weiß ja, es ist kaum zu glauben …« Er ließ die Augenlider kokett und übertrieben flattern. »Für den Fall, dass es dir noch nicht so ganz klargeworden ist: Ich bin in Wirklichkeit ein Mann.«
Cathy lachte fröhlich. »Ja, ganz im Ernst, meine Süße - schenk mir doch bitte noch ein Tässchen ein, sei so lieb - ich möchte dir das alles hier nicht zumuten, wenn du nicht sicher bist, dass du auch wirklich damit umgehen kannst. Wenn du dich nicht traust, setzen wir uns wieder die Denkmützen auf und lassen uns was anderes einfallen, okay?«
Cathy schenkte ihm Tee nach und schüttelte den Kopf. »Ich krieg das schon hin, Desrae. Meine Mom war eine Nutte. Ich mein, mich kann so leicht nichts erschüttern.«
Desrae wurde ernst und sagte rundheraus: »Gestern Abend, Schätzchen, warst du aber erschüttert, als ich dir diesen Kerl vom Hals geschafft hab.«
Cathy zuckte die Achseln. »Das war doch wohl was anderes. Ich mein, so was muss ich doch nicht machen, oder?«
Es war eine Frage und gleichzeitig eine hoffnungsvolle Bitte. Desraes ganzes Mitgefühl flog dem Mädchen zu.
»Aber natürlich nicht, Süße. Scheiße, ich selbst mach’s doch dieser Tage nur ab und zu, und das auch nur bei meinen Stammfreiern. Meine Güte, da hat man doch seine Prinzipien.«
»Was hab ich also zu tun?«, fragte Cathy wissbegierig.
Desrae zog seinen Frisiermantel enger um sich und steckte sich eine Sobranie-Zigarette in der Farbe seines Negligés an.
»Horch mal, Süße, dir würde ich niemals auch nur ein Härchen krümmen. Damit geht es schon los. Du hast ja wohl so einiges hinter dir, und ich denke, da musst du dich erstmal versteckt halten, stimmt’s? Nun, das möchte ich dir hier ermöglichen. Nur für eine Woche oder zwei, wohlgemerkt, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. In der Zeit werde ich dein Aussehen ein wenig verändern. Werd dir zeigen, wie du dich schminken musst und so. Wie du dir eine schicke Frisur machst … Davon abgesehen haben wir beide uns doch darauf geeinigt, dass du dich eine Weile vom East End fernhältst. Für meinen Teil bin ich überzeugt, dass du dich ein für alle Mal von der Gegend verabschieden solltest, aber das bleibt deine Entscheidung. Was deinen Knaben dort betrifft, würd ich sagen, gib ihm den Laufpass. Aber wie gesagt, das musst du selbst wissen.« Er nippte geziert an seinem Tee und fuhr dann erst fort.
»Immer der Reihe nach, äh? Ich war jahrelang Dienstmädchen, als ich ins West End kam. Und zwar bei einem üblen Mistkerl. Ein echtes Schwein war das. Hatte aber hübsches Haar, das musste man ihm lassen, absolut echt und alles. Hat ein Vermögen gemacht. Nichts für ungut, er hatte auch seine guten Seiten … aber ich schweife ab. Ich hatte seit Jahren keine Zofe mehr. Die meisten wollen höher hinaus. Wollen zwar durchaus ihren Job erledigen, aber wissen nicht, wie sie’s anstellen müssen. Du nimmst sie zu dir, verliebst dich in die kleinen Biester, und die haben nichts Besseres zu tun, als dich gnadenlos auszunehmen. Sie stehlen dir deine Freier, stibitzen dir dein Gold und rauben dir auch noch deine Selbstachtung, wenn du nicht aufpasst. Nein, schon seit ein paar Jahren hab ich für mich selbst gesorgt. Aber jetzt glaub ich, hab ich genau die richtige Person für diese Aufgabe gefunden … Ich werde dir beibringen, wie du meine Sachen in Schuss hältst. Wie meine Kunden zu behandeln sind, und dann lernst du noch den einen oder anderen Trick fürs Alltagsleben. Nichts Aufregendes, nur was man über Soho wissen muss. Wo man einkauft … ach, jede Menge Wissenswertes. Aber das ist Zukunftsmusik. Zuerst werde ich mich um Kleider und Unterwäsche für dich kümmern müssen. Du kannst mein Make-up benutzen, bis du eigenes hast. Wir müssen dir ein Image verpassen, was denkst du? Du bist ein wunderhübsches Mädchen und wirst Furore machen, schätz ich. Unterdessen bring ich dir bei, was eine Zofe zu tun hat. Die meisten meiner Kunden sind Stammfreier - hab immer darauf geachtet, mir einen Stamm aufzubauen, und hab das über die Jahre auch geschafft. Und dann wär da natürlich noch mein Freund.«
Er lachte, als er Cathys verblüfftes Gesicht sah.
»Ja, ich hab einen Boyfriend, Süße, und nicht die geringste Ahnung, wie der auf dich reagieren wird! Aber darüber machen wir uns im Moment noch keine Sorgen. Zuerst werd ich mich mal anziehen, und dann nehm ich bei dir Maß, damit wir dir ein paar schöne Sachen kaufen können. Kann doch nicht verantworten, dass meine Zofe aussieht wie ‘ne Vogelscheuche, oder? Was würden bloß die anderen Mädels sagen, hm?«
Cathy konnte nur noch staunen. Desrae klang bei allem, was er sagte, lebensfroh, sorglos und begeistert. Sie konnte nur hoffen, dass diese Unbekümmertheit abfärbte. Wenn sie im Moment etwas brauchte, dann war es ein wenig Erholung, ein Aufatmen. Sie hätte sich am liebsten in dieser schönen Wohnung verkrochen, in Gesellschaft dieses netten Mannes ihre Wunden geleckt und Leib und Seele gepflegt.
Mit Desrae bot sich vielleicht die Chance, ein neues Leben zu beginnen. Sie konnte Eamonn nicht gegenübertreten, nicht bevor sie so weit war. Nicht bevor sie ihm ebenbürtig war. Eamonn gefiel es nicht, mit den Problemen anderer belastet zu werden. Dazu war er zu sehr in die eigenen verstrickt.
Nein, sie würde diesem seltsamen Mann eine Zofe sein und sich vor der Welt verstecken, bis sie bereit war, im Triumph zurückzukehren. Wie gespannt sie war, Eamonns Gesicht zu sehen, wenn das geschah! Der Gedanke beglückte Cathy, und Desrae, dem das Leuchten in ihren Augen nicht entging, schürzte nachdenklich die Lippen.
 
Mit dumpfen Schmerzen am ganzen Körper und furchtbarem Brennen tief zwischen den Beinen erwachte Caroline.
Eamonns Arme hielten sie umschlungen, und instinktiv kuschelte sie sich an seinen warmen Körper. Vor Schmerz zusammenzuckend fiel ihr ein, dass sie ein blaues und fast ganz zugeschwollenes Auge hatte. Es fühlte sich an, als sei es zu groß für ihr Gesicht. Versuchsweise öffnete sie es ganz langsam und erkannte Eamonn, der auf sie herabsah. Der Ausdruck seines hübschen Gesichts verriet neben Scham auch eine Art Hochgefühl.
Er küsste sanft ihre Stirn. Es waren kleine Küsse, immer wieder unterbrochen von Liebesbekundungen.
»Es tut mir ja so leid, Caroline. Ich hab keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Du weißt, dass ich dich liebe. Ich werde dich immer lieben. Es gibt keine andere für mich.« Er drückte ihren von Schlägen malträtierten Körper an sich und bereitete ihr dadurch nur neue Schmerzen. Doch wie schlimm wären die erst gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass er die ganze Zeit, während er sie besänftigt und getröstet hatte, in Gedanken bei einem anderen Mädchen gewesen war. Cathy … seine Cathy … dem Rattennest entkommen und in Sicherheit bei den reichen und spießigen Hendersons.
Eamonn hätte sie am liebsten aufgespürt, um ihnen zu zeigen, was er von ihrem selbstzufriedenen und wohltätigen Leben hielt. Aber andererseits hatte er selbst ja auch die Schulkameraden mit sauberer Kleidung, gewaschenen Haaren und wohlgenährtem Äußeren beneidet, und er wusste, dass Cathy dort besser aufgehoben war, wo sie sich befand. Zumindest im Moment noch.
Aber sobald sie sechzehn war, würde er zur Stelle sein. Dann wäre sie nämlich frei, über ihr Leben zu bestimmen, frei, ihn so zu lieben, wie er sicher war, sie zu lieben. Sie unsterblich zu lieben. Bis dahin würde er sich mit dieser dämlichen Schlampe zufriedengeben müssen, die es anscheinend für ein Zeichen der Zuneigung hielt, wenn er sie verprügelte.
»Ich liebe dich, Eamonn.«
Sie sagte die Wahrheit. Am Abend zuvor hatte sich Caroline in die Gefahr verliebt, und ihr Leben lang würde sie der Gefahr verfallen sein. Als sie in sein hübsches Gesicht unter den dunklen Haaren blickte, als sie seine funkelnden Augen sah und seine vollen sinnlichen Lippen, entbrannte ihre Liebe noch stärker, und sie glaubte fest, dass dieser große Junge, der schon längst ein Mann war, sie ebenfalls liebte.
Er hatte ihretwegen einen anderen Mann verletzt. So stark war seine Liebe und Hingabe, dass er für sie töten würde. Trotz ihrer Schmerzen lächelnd, ließ Caroline die Hand seinen Körper hinuntergleiten, bis sie seinen steifen Penis gefunden hatte. Heiß und feucht vor Verlangen öffnete sie die Schenkel.
Sie wurde nicht enttäuscht. Besseren Sex hatte sie noch nie erlebt, und er machte süchtig. Von Eamonn Docherty konnte sie einfach nicht genug bekommen.
 
In einem Hemd, das Desrae zu klein war, und schwarzen Strumpfhosen schaute Cathy staunend zu, wie er sein »Gesicht« zurechtmachte. Obwohl sie doch jahrelang zugesehen hatte, wie sich ihre Mutter aufgetakelt hatte, war sie auf das, was sie hier zu sehen bekam, nicht vorbereitet.
Nachdem Desrae sich eine dicke Schicht Grundierung aufs Gesicht geklatscht hatte, modellierte er die Wangenknochen fachmännisch mit Make-up und korrigierte gekonnt Konturen und Falten. Begeistert von sich selbst sah er Cathy an, ließ die Augenbrauen tanzen und sagte: »Na, bin ich nicht ein cleveres Kerlchen? Was sagst du?«
Dann brachte er sie zum Lachen, indem er sich ein paarmal mit geschürzten Lippen Küsse im Spiegel zuwarf und die Augen verdrehte, bevor er die Umrisse seiner Lippen mit einem dunkelbraunen Strich betonte.
»So wirken sie voller, verstehst du? Meine sind ein wenig zu schmal. Hab eben Männerlippen, is’ so.«
Danach benutzte er einen hellrosa Lippenstift und verteilte die Farbe gleichmäßiger, indem er die Lippen aufreizend zusammenpresste und anschließend die Zunge im Mund kreisen ließ.
Inzwischen konnte sich Cathy vor Lachen kaum mehr halten.
»Und jetzt um die guten alten Augen rum, mein Mädchen. Eine geradezu lebensgefährliche Maßnahme, und als ich das erste Mal erleben musste, dass sie durchgeführt wurde, ist mir so übel geworden, dass man mich ins Krankenhaus bringen wollte.«
Er zog ein unteres Lid nach außen und bemalte es an der Innenseite mit einem Kohlestift, sodass die schwarze Farbe seine Augen sofort größer und offener wirken ließ. Er ließ die Wimpern flattern und strich dann mit einem dicken Pinsel fettigen blauen Lidschatten auf. Erst nach fünf Minuten war er mit seinem Werk zufrieden. Dann blinzelte er heftig und schnell, sah Cathy wieder an und grinste.
»Wird langsam was, hm?«
Als Nächstes kamen die falschen Wimpern an die Reihe, die er mit der Sorgfalt und Konzentration anbrachte, die auch ein Chirurg bei der Operation walten lässt. Er klebte sie sowohl an die Ober- wie an die Unterlider, lehnte sich zurück und erfreute sich stolz an seiner Kunstfertigkeit.
Die Wangen einsaugend, musterte er sich kritisch. »So, ich denke, heute mal wieder das bräunliche Rouge - bringt meine Wangenknochen besonders schön zur Geltung.« Er griff nach einem großen Pinsel und tupfte ihn in ein Pudertöpfchen.
»Verhalte dich immer so, als würde dich jemand beobachten. Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, aber seit vielen Jahren richte ich mich schon danach. Es stimmt nämlich hundertprozentig.« Er trug das Rouge mit schwungvollen Strichen auf. »Bleibt also nur noch der Wuschelkopf. Über Tag trag ich nie eine Perücke, außer wenn ich arbeite.«
Er nahm die Lockenwickler heraus, bürstete sein Haar und kämmte es streng zurück, bevor er es um den Kopf herum zu einem weiten Heiligenschein frisierte und an den Enden nach oben schnippte.
»Mandy Rice-Davis kann vor Neid nur käsebleich werden, oder? Ich mein, wer braucht ‘ne Frau, wenn ich zu haben bin?«
Cathy lachte noch immer. »Du siehst toll aus, ganz und gar nicht wie ein …« Sie verstummte.
Desrae legte seine sorgsam manikürten Finger auf Cathys Hände und sagte frohgelaunt: »Mach dir keine Gedanken wegen dem, was dir beinahe rausgerutscht wäre, Süße, ich seh das als Kompliment. Ich verbring Stunden damit, mich als Frau zurechtzumachen. Warum sollte ich verärgert sein, wenn du sagst, ich würde gar nicht aussehen wie ‘n Kerl?«
Cathy schüttelte nur den Kopf, denn ihr fiel keine Antwort ein.
»Hast du schon mal gesehen, was uns Männern zwischen den Beinen hängt?«
Sie nickte, wusste aber nicht, was jetzt kommen würde. Desrae musste über ihren Gesichtsausdruck lachen. »So süß du auch sein magst, ich glaub, wir haben festgestellt, dass du nicht mein Typ bist, oder? Nee, nee, Kleines, keine Angst. Ich werde mir jetzt nur meinen Body anziehen, mehr nicht. Und dabei wirst du den Kleinen ganz kurz sehen, wenn überhaupt.«
Nachdem er sein Nachtzeug ausgezogen hatte, stand er für einen Moment nackt vor ihr. Dann zog er ein paar winzige Shorts an. Dabei nahm er seinen Penis und schob ihn so weit zwischen die Schenkel nach hinten, wie es irgend ging. Im Spiegel sah ihn Cathy völlig verschwinden, als Desrae die gepolsterten Shorts hastig nach oben zog. Er machte ein Hohlkreuz, grinste und posierte mit seinem hageren, hoch aufgeschossenen Körper wie ein Balletttänzer.
»Clever, was?«
Cathy kicherte entzückt.
»Jetzt noch die Gummititten, und die Kerle können anrücken.«
Zehn Minuten später trug er einen roten Pulli, unter dem die falschen Brüste himmelwärts wiesen, und einen knielangen schwarzen Rock. Schwarze Strumpfhosen und hochhackige Schuhe vervollständigten das Bild.
»Also, was sagst du?«
Cathy lehnte sich auf dem Bett zurück und schüttelte staunend den Kopf. »Du siehst einfach umwerfend aus, Desrae. Blendend.«
In gespielter Begeisterung lobte er sich selbst: »Nicht schlecht für so einen alten Zausel, kann ich auch nicht anders sagen.« Und mit einem breiten Grinsen kommandierte er dann: »Jetzt los, schicke Klamotten kaufen.«
Als sie aus dem Schlafzimmer gingen, kam es Cathy vor, als sei sie noch nie glücklicher gewesen. Sie fühlte sich geliebt und in sicherer Obhut.
Außerdem hatte sie den Eindruck, dass gar nicht so viel nötig war, um die Menschen glücklich zu machen. Jedenfalls nicht so viel, wie sie meinten.
 
Desrae marschierte mit einem breiten Grinsen und entschlossener Miene in Tony Gosas Kaffeehaus. Tony, der ihn sofort erkannte, lächelte argwöhnisch zurück. »Hallo, was darf’s denn sein?«
Desrae flötete mit seiner lieblichsten Kleinmädchenstimme: »Kaffee, bitte. Süß und warm, so wie Sie.«
Tony nickte und sah zu, wie er sich setzte. Desrae war aus Soho nicht wegzudenken. Aber er war nicht nur als Transvestit bekannt, sondern eher noch deswegen, weil sein langjähriger Freund kein anderer war als Joey Pasquale.
Joey war ein Großer, ein echt Großer.
Er beherrschte das West End, indem er Angst und Schrecken verbreitete, und war verrufen wegen seiner Härte. Er war nicht hart, aber gerecht, wie die meisten Gangster, nein, er war nur hart. Seine einzigen Schwächen waren Desrae, mit dem er schon seit Jahren zusammen war, sowie seine Ehefrau und sein Sohn.
Tommy Pasquale war achtzehn und erst kürzlich ins Geschäft seines Vaters eingetreten. Den angestrebten Ruf erwarb er sich in Windeseile. Man erzählte sich, dass er Desrae schon seit langem »Tantchen« nannte, aber bis jetzt hatte noch niemand den Mumm besessen, offen danach zu fragen, ob es stimmte.
Normalerweise verkehrte Desrae nicht in Läden wie dem von Tony Gosa, sondern suchte die netteren Lokale in Piccadilly auf, wo man ihn kannte und mit Respekt behandelte. Nein, jetzt saß er aus einem ganz besonderen Grund in Tonys Kaffeehaus, und Tony wurde das Gefühl nicht los, dass Ärger auf ihn wartete.
Als Tony ihm den Kaffee auf den Tisch stellte, lächelte Desrae ihn herausfordernd an. »In letzter Zeit mal wieder arme kleine Mädchen beherbergt?«
Tonys Lächeln gefror.
»Macht ja ein mordsmäßiges Frühstück, deine Mom. Hat mir jedenfalls meine kleine Nichte erzählt. Wie ich höre, verbrachte sie wohl einen recht lehrreichen Abend bei dir und deiner Mutter.«
Tony sagte kein Wort. Es hatte ihm die Sprache verschlagen. »Heißt Cathy, die Kleine. Erinnerst du dich an sie? Ist nur so, dass du ihr wohl fünfundzwanzig Pfund berechnet hast. Ja, ich glaube, das war die Summe. Aber nein, wenn ich’s so recht bedenke, können es wohl auch fünfzig Pfund gewesen sein.« Er tat konzentriert, runzelte angestrengt die Stirn. »Ja, genau, fünfzig Pfund sind es gewesen. Zumindest hat sie es mir so erzählt, mir und meinem Freund Joey. War ganz schön vergrätzt deswegen, mein Freund Joey. Hat die Kleine nämlich in sein Herz geschlossen.«
Tony spürte, dass ihm der kalte Schweiß ausbrach.
»Hat er hier reingeguckt?«, fuhr Desrae fort. »Kann mir vorstellen, dass er inzwischen nach mir sucht.«
Tony schüttelte den Kopf. Er ging zurück an seine Kasse, hatte die fünfzig Pfund in Rekordzeit abgezählt, kam zurück und drückte sie Desrae in die ausgestreckte Hand. Dabei entschuldigte er sich unentwegt: »Hätte sie erwähnt, dass sie deine Nichte ist, ich schwör beim Augenlicht meiner Mutter …«
Desrae unterbrach ihn. »Halt bloß den Rand, du griechische Schwuchtel. Du würdest das Augenlicht deiner Mutter doch für ein paar Pfund verscherbeln, und sie würde mit deinem dasselbe tun. Also quatsch keinen Scheiß, sondern hör mir zu. Bis jetzt weiß Joey von nichts, aber wenn ich erfahre, dass irgendwo auch nur irgendwas über die Angelegenheiten meiner Nichte getratscht worden ist, dann mach ihr dir so viel Ärger, dass du dir wünschst, deine Mutter hätte für deinen Erzeuger niemals die Beine breit gemacht. Kannst du mir folgen?«
»Ja … Hör mal, Desrae, wenn du sagst, sie ist deine Nichte, dann ist sie deine Nichte. Sie mag meinetwegen auch deine Tochter sein, solange ich keinen Besuch von Mr. Pasquale kriege.«
Desrae lachte entzückt. »Tochter wäre selbst von mir ein wenig viel verlangt, mein Bester. Nichte reicht völlig. Und erwähne sie mal hier und da, okay? Das wüsste ich zu schätzen. Vielleicht bring ich sie mal auf einen kleinen Plausch mit hierher.«
Tony schluckte schwer. »Deine Nichte wird mir stets willkommen sein, ebenso wie du.«
Desrae stand auf und sah auf den kleineren Mann herab.
»Schiss, nicht wahr? Du hast so viel Schiss, dass du mir den Schwanz lutschen würdest, wenn ich nett darum bitte, oder?«
Tony war bestürzt. Desrae war zu allem fähig. Er galt als ebenso unerbittlich wie sein Boyfriend. Niemand, der sich je mit Desrae angelegt hatte, war heil davongekommen. Im Unterschied zu vielen Schwulen in Soho zählte dieser Mann ganz gewiss nicht zu den Opferlämmern. Trotz seiner mädchenhaften Stimme und seiner Manierismen konnte er zuschlagen wie ein Schauermann und scheute sich nicht, zum Messer zu greifen. Tony war geliefert und wusste das sehr wohl. Er wusste auch, dass er gehorchen musste, wenn Desrae darauf bestand, dass ihm der Schwanz gelutscht wurde.
Desrae lachte. »Keine Sorge, ich bin sehr wählerisch, was das Ficken betrifft. War schon immer so. Und du, Kumpel, pass nächstens besser auf. Du hast die falsche Person abgezockt. Hast wohl kein Händchen mehr dafür, Alterchen.«
Als er in seinen schwarzen Stöckelschuhen aus dem Kaffeehaus stakte, stieß Tony Gosa einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Er hätte sich denken müssen, dass das kleine Luder Ärger bringen würde. Sah man doch schon daran, wie sie wieder aufgetaucht und ihr Geld verlangt hatte.
Wenn sie unter dem Schutz von Desrae und Pasquale stand, konnte sie sich jedenfalls glücklich preisen. Tony hoffte nur, dass sie ihm nie wieder unter die Augen kommen würde.
 
Desrae machte seine Runden durch Soho und wurde überall fürstlich begrüßt und empfangen. Auf dem Weg durch die Marktgassen winkte er Huren wie Rausschmeißern huldvoll zu und begrüßte sie mit seiner hohen Stimme und dem gehauchten, übertrieben femininen Lachen.
»Hab meine Nichte bei mir einquartiert. Wartet nur, bis ihr sie kennenlernt. Ist ein ganz entzückendes Geschöpf.«
Alle taten so, als freuten sie sich mit ihm, und winkten ihm fröhlich zu.
Desrae wusste ganz genau, warum er diese Geschichte erzählte. War Cathy einmal als seine Nichte akzeptiert, wie unglaubwürdig es auch klingen mochte, würde sie in der Vorstellung aller auch tatsächlich zu seiner Verwandten werden. Sämtliche Fragen, die sie betrafen, würden auf eine Mauer des Schweigens prallen, und eben das bezweckte er.
Er liebte es, sich um andere Menschen zu kümmern, und jetzt hatte er eine Person gefunden, die er umsorgen konnte und die bisher weder mit seinem Ruf noch mit seinem Lebensstil vertraut war. Bevor Cathy darüber mehr herausfand, wollte er unbedingt sicher sein, dass sie ihn bereits um seiner selbst willen liebte.
Als er mit den fünfzig Pfund in seiner Handtasche und Cathys Maßen im Kopf der Oxford Street zustrebte, kam ihm ein amüsanter Gedanke. Er würde sie anziehen wie eine kleine Königin. Sie würde die kleine Prinzessin der großen Queen Desrae sein!
Er musste laut lachen.
Was Joey wohl sagen würde, wenn er sie zu Gesicht bekam? Desrae hatte keinen Schimmer, aber wie er Joey kannte, würde der kaum was sagen. Was einen gewichtigen Teil seiner Anziehungskraft ausmachte. Joey vertraute ihm blind. Sie vertrauten einander. Niemand hatte je ahnen können, wie intensiv ihre Beziehung tatsächlich war, und das war ihnen beiden nur recht.
Desraes Blick verschleierte sich, als er an sein erstes Zusammentreffen mit Joey Pasquale dachte. Seiner Überzeugung nach hatte das Schicksal dabei die Hand im Spiel gehabt.
An einem kalten regnerischen Abend vor fünfzehn Jahren hatte er sich in seine besten Fummel geworfen und war durch die Straßen von Soho gestreift, um sich einen passenden Burschen zu suchen. Einen Freier. Stattdessen hatte man ihn in ein Auto gezerrt und in eine verlassene Gegend bei Notting Hill gebracht. Ein Trümmergrundstück war der Ort gewesen, an dem er erleben musste, was Massenvergewaltigung bedeutete.
Als seine Entführer feststellten, dass er keine Frau war, hatten sie alle Beherrschung verloren, an seinem Penis gerissen, ihn mit Messern verletzt. Nachdem er sie schließlich der Reihe nach oral befriedigt hatte, war er von ihnen unter grölendem Gelächter und allgemeinem Jubel brutal vergewaltigt worden.
Desrae hatte mit Erstaunen registriert, wie jung sie waren. Nicht älter als er auch. Wahrscheinlich waren sie im Kern ganz anständige Kerle, die schon bald die Ereignisse des Abends vergessen hatten und ihr normales Leben führten. Er hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass viele der sogenannten »richtigen« Männer die schlimmsten Schwanzjäger waren. Sehr viele Männer führten ein Doppelleben. In den Clubs, die er frequentierte, hatte er alles gelernt, was er in dieser Hinsicht wissen musste.
Jetzt war er von fünf jungen Männern missbraucht und erniedrigt worden, die ihre Handlungen zweifellos deswegen für gerechtfertigt hielten, weil Desrae nicht zu ihnen, den Jungs, zählte. Er stemmte sich auf die Knie und spürte die Tränen, die sich im blauen Auge sammelten, das sie ihm verpasst hatten, als sie ihn noch für ein weibliches Wesen hielten.
Einer der Typen schloss seinen Hosenschlitz. Weil er sein Schnappmesser noch immer in der Hand hielt, hatte er große Schwierigkeiten damit.
Über Desraes Oberschenkel rann das Blut, und er spürte, wie sich die Stichwunde an seinen Hoden durch die plötzliche Bewegung öffnete, als er nach dem Messer hechtete. Kaum hatte er es gepackt, holte er aus und schwang es mit aller Kraft gegen den Hals des Jungen.
Die zwanzig Zentimeter lange Klinge schlitzte die Haut auf und durchtrennte die Luftröhre.
Die anderen standen da und sahen zu, vor Schreck erstarrt.
Ein Zischlaut drang in die Dunkelheit und übertönte in ihren Ohren sogar das Rattern der Züge, die in der Ferne vorbeifuhren. Der Junge fiel auf den Rücken, die leeren Augen in den Abendhimmel gerichtet.
Der kleinste von den Kerlen, ein Winzling mit viel Pomade im Haar und in einer billigen Lederjacke, wiederholte unentwegt: »Ach du lieber Gott! Ach du lieber Gott!«
Nach einem fassungslosen Blick auf das Messer in seiner Hand sah Desrae die anderen ungläubig an. Der Junge auf dem Boden gab ein Röcheln von sich, und instinktiv wussten sie alle, dass er in dem Moment gestorben war.
In Sekundenschnelle war Desrae allein.
Die Burschen rannten davon, bestürzt und beschämt darüber, was sie gesehen und getan hatten.
Desrae richtete seine Kleidung, so gut es ging, und versuchte sich aufrecht zu halten. Sein Anus war wund, blutete heftig und schmerzte ganz fürchterlich. Er wusste, dass er einen Arzt aufsuchen und sich zudem so schnell wie möglich von dem toten Jungen entfernen musste. Als er davontorkelte, behinderten ihn die Stöckelschuhe, auf denen er Stunden zuvor noch so stolz durch die Gegend gestakst war. Also blieb er stehen und zog sie aus.
In dem Augenblick sah er einen Mann auf sich zukommen. Seine Angst war so groß, dass er sich auf die Knie fallen ließ und laut zu wehklagen begann. Man hatte ihn erwischt, überführt. Sein Leben war zu Ende. Sobald klar war, was er getan hatte, würde er ganz tief in der Scheiße stecken. Niemand würde ihm auch nur ein Wort glauben, das er zu seiner Verteidigung vorbrachte. Man würde ihn als Perversling darstellen, der einen unschuldigen jungen Mann kaltblütig umgebracht hatte.
Als ihm diese Gedanken durch den Kopf rasten, spürte er plötzlich, wie sich eine schwere Hand über seine Lippen legte. Er wollte vor Schreck schreien, aber es gelang ihm nicht. Dann flüsterte eine eindringliche Stimme an seinem Ohr: »Wenn du mal eine Sekunde mit diesem Theater aufhören würdest, dann versuch ich dir zu helfen, Kleiner. Wo ist deine Perücke? Hattest du eine Tasche?«
Desrae blickte in das faszinierendste Gesicht, das er je gesehen hatte. Er unterdrückte die Tränen und beantwortete die Fragen des Mannes. »Die hab ich verloren. Bitte helfen Sie mir! Bitte …«
Der Mann war freundlich. Er half Desrae auf die Beine und hob auch dessen Schuhe auf.
»Hör mal, Sohn. Ich hab die Leiche gesehen und kann mir denken, was passiert ist. Also beruhige dich erstmal, und ich sammel deine Siebensachen ein und bring dich dann nach Hause. Okay?«
Desrae nickte. Der Mann hatte »Sohn« gesagt. Er wusste also, was er war, und machte sich nichts daraus.
Zehn Minuten später saß er in einem eleganten Wagen und fühlte sich unbehaglich, weil er auf die Lederpolster blutete. Der Mann redete noch immer, um ihn zu beruhigen, und seine tiefe Stimme erzielte die gewünschte Wirkung.
Sein Retter brachte ihn zu einem Arzt in Barnes. Als er den Weg entlanghumpelte, fragte sich Desrae auf einmal, worauf er sich eingelassen hatte. Der Mann musste geahnt haben, wie er sich fühlte, denn er sagte freundlich: »Er ist ein richtiger Arzt, keine Bange. Einer, der Abtreibungen macht. Im Rahmen meiner Arbeit nehme ich seine Dienste manchmal in Anspruch. Okay? Da wird es keine Anrufe bei den Bullen geben, das kannst du mir glauben. Also entspann dich.«
Desrae hatte kaum eine andere Wahl.
Er blieb drei Tage bei dem Arzt, nachdem er genäht und ruhiggestellt worden war. Sein Retter kam jeden Tag, und nachdem er sich schließlich vorgestellt hatte, unterbreitete er dem Jungen einen Vorschlag.
Er würde sich um ihn kümmern und sein Freund sein. Im Gegenzug erwartete er gelegentlich eine Gefälligkeit. Sie wussten beide, worum es sich dabei handelte, und waren zufrieden und glücklich mit dieser Vereinbarung. Seitdem fühlte sich Desrae Joey Pasquale für alle Zeiten in Dankbarkeit verpflichtet.
Freundschaften dieser Art waren für Männer wie ihn eine Seltenheit, und er war klug genug, das zu schätzen. Joeys Freundschaft bedeutete ihm mehr als alles andere. Sein Freund hatte ihm eine Wohnung gestellt und ihn in die besten Schwulenclubs eingeführt, die London aufzuweisen hatte. Er fand exzellente Kundschaft und stand stets unter dem Schutz, den seine Beziehung zu Joey garantierte. Ihr Sexleben war beiderseitig befriedigend, und inzwischen verband sie außer Zuneigung auch tief empfundener Respekt. Desrae wusste, welches Glück er gehabt hatte, und dankte täglich Gott dafür, dass es Joey gab.
Er verehrte seinen Freund und Beschützer, und er konnte nur hoffen, dass die kleine Cathy es ebenfalls tun würde.
Als er schließlich wieder in seine Wohnung zurückkam, lächelte er beim Klang ihres Lachens, das aus der Küche kam. Cathy war Joey begegnet, und offenbar hatten die beiden sich auf Anhieb verstanden, wovon Desrae auch ausgegangen war.
Wenn jemand seine Gefühle für das Mädchen und seine Gründe, sie bei sich aufzunehmen, würde nachvollziehen können, dann Joey. Schließlich hatte er ja praktisch dasselbe getan.
Mit seinen Einkäufen beladen, betrat Desrae die Küche und sagte betont ernst: »Was haben wir denn hier - einen Kaffeeklatsch?«
Cathy und Joey sahen einander grinsend an.
Joey richtete den Blick seiner dunkelbraunen Augen zur Zimmerdecke und sagte ähnlich ernst: »Jetzt reicht es aber mit dieser verdammten Einkauferei, Des! Welche Boutique hast du denn nun schon wieder leergeräumt?« Mit einem Blick auf Cathy schüttelte er sorgenschwer den Kopf. »Aus einem Ackergaul kann man doch eh kein Rennpferd machen.«
Noch immer vergnügt lachend, machte die Kleine ihnen einen Tee, und die Atmosphäre in der Küche wurde beinahe festlich.
Nachdem er Joey auf die Wange geküsst hatte, sah Desrae ihm in die Augen. »Ich konnte sie doch nicht auf der Straße lassen, oder?«
Joey schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber ich kann nur für euch beide hoffen, dass ihr mir ein Frühstück serviert. Ich bin nämlich am Verhungern.«
Desrae zwinkerte ihm zu und lächelte. Joey lächelte zurück.
Cathy betrachtete die beiden und dankte Gott, dass er sie zu Desrae und ihrem Freund geführt hatte. Hätte sie um deren Ruf gewusst, würde sie dennoch Gott gedankt haben, aber es sollte noch eine Weile dauern, bis sie überhaupt etwas herausfand.
Die Aufsteigerin
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