Kapitel sechs
»Ist auch alles in Ordnung mit dir, Kleines?«
Madges Stimme klang tief und heiser von zu vielen Zigaretten und zu viel Alkohol, als sie Stunden später ins Zimmer ihrer Tochter trat.
Cathy nickte, schloss die Augen gegen das grelle Licht und hörte die laute Radiomusik aus dem Vorderzimmer. Sie hörte auch eine Männerstimme und seufzte: »Mom, dein Freier wartet. Mir geht’s gut. Wirklich.«
Madge sah forschend in das verkniffene bleiche Gesicht ihrer Tochter und sagte freundlich: »Hast du deine Tage, Liebes?«
Cathy schüttelte den Kopf. »Ich hab Bauchschmerzen, Mom, sonst nichts. Mir geht’s gut.«
Madge wandte den Blick nicht ab, sondern kniff die Augen zusammen und sagte: »Du hast es doch nicht etwa mit Eamonn getrieben, oder?«
Cathy kam hoch und schrie sie an: »Nein, hab ich verdammt nochmal nicht! Und wenn ich’s hätte, wärst du die Letzte, die was zu meckern hätte. Ich mein, sei mal ehrlich, Mom. Ist doch ein Wunder, dass ich nicht mit dir zusammen auf’n Strich geh. Das denken sowieso ‘ne Menge Leute.«
Ihr Gefühlsausbruch flaute so schnell ab, wie er aufgeflammt war, und Cathy legte sich wieder hin. Erschöpft sagte sie: »Bitte, lass mich allein, Mom. Ich fühl mich verdammt angeschlagen. Wahrscheinlich hab ich mir was eingefangen.«
Madge stand auf und sagte bissig: »Solange es kein Bündel Arme und Beine ist.«
»Ach, verpiss dich, Mutter. Manchmal gehst du mir echt auf die Nerven.«
Cathys Reaktion war so heftig, dass Madge erschrak.
»Nicht in diesem Ton, junge Dame! Kannst ja halten von mir, was du willst, aber ich bleib immer noch deine Mutter.«
Cathy unterbrach sie höhnisch: »Schade, dass du daran nicht denkst, wenn du von deinen Touren den halben Hafen mit nach Hause abschleppst.«
Die schallende Ohrfeige erschreckte Mutter wie Tochter. Das Mädchen weinte und schien nie wieder aufhören zu wollen. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht und tropften ungehindert aufs Laken. Als sie auf ihre Tochter hinabsah, wurde Madge auf einmal von bisher nicht gekannten Gefühlen überwältigt. Nachdem sie sie als Kind nie verstanden hatte, war die Tochter jetzt, da sie zur Frau heranwuchs, fast wie eine Schwester, eine Freundin, und sie bedauerte es sehr, dass sie so oft miteinander im Clinch lagen.
»Tut mir leid, Baby, mir ist die verdammte Hand doch nur ausgerutscht.«
Unsanft zog sie ihre Tochter an sich. Die beiden lagen sich in den Armen und weinten. Ausnahmsweise einmal mütterlich streichelte Madge den schmalen Rücken des Mädchens und flüsterte tröstende Worte. »Es tut mir so leid, Cathy. Es tut mir ja so leid, mein Kleines.«
Cathy genoss es, in den Armen ihrer Mutter zu liegen. »Ich liebe dich doch auch, Mom. Tut mir leid, dass ich so ein Miesepeter war.«
Madge lächelte trotz der Tränen. »Miesepeter« war Cathys Wort aus frühester Kinderzeit, als sie noch ein Winzling gewesen war, nichts als Streichholzbeine und riesige blaue Augen.
»Du bist kein Miesepeter, Liebling. Es stimmt ja, was du gesagt hast: Ich bin eine dumme alte Kuh. Das hat Gott nun mal für mich vorgesehen - aber ich liebe dich, Cathy. Auf meine ganz besondere Weise liebe ich dich über alles.«
In dem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und Ron kam ins Zimmer. »Was findet denn hier statt, hä? Weiberverschwörung, oder was? Schieb deinen fetten Arsch wieder nach vorn ins Zimmer, Mädchen. Ich fühl mich sonst so einsam und allein.«
Madge protestierte lauthals. »Verpiss dich, Ron. Siehst du nicht, dass die Kleine unglücklich ist?«
»Was ist denn mit ihr?« Er streckte Cathy das Gesicht entgegen und schnauzte sie an: »Was hast du denn, du dummes Gör?«
Sie schloss die Augen und stöhnte. »Schaff ihn hier raus, Mom.«
Ron, betrunken und ehrpusselig, polterte: »›Schaff ihn hier raus‹? Meinst du mich, junge Dame? Wenn’s so ist, solltest du wissen, dass ich es bin, der seit ‘ner Weile dafür sorgt, dass ihr ‘n Scheißdach überm Kopf habt. Würde gar nicht schaden, wenn du dir das merken könntest.«
Er trat aufs Bett zu, stieß Cathy den Finger auf die Brust und wetterte: »Ich hab deine Mutter von der Straße geholt und ‘ne echt Professionelle aus ihr gemacht. Also, niemand redet so mit mir, am allerwenigsten eine Gossengöre, die besser ihre Klappe hält und ihre Rotznase in die eigenen Sachen steckt!«
Madge stand auf, stützte ihren imposanten Vorbau auf einen fleischigen Unterarm und sagte: »Bist du jetzt fertig?« Ihre Stimme klang leise, gelassen und würdevoll. Für Cathy das sichere Zeichen dafür, dass ihre Mutter jeden Moment explodieren konnte.
Mit Madges kleinen Eigenarten noch nicht vertraut, fuhr Ron mit seiner Tirade fort: »Nein, ich bin verdammt noch lange nicht fertig! Und wenn ich fertig bin, erfährst du’s als Erste, verstanden? Und schaff jetzt deinen Arsch nach vorn ins Zimmer, und schenk mir was zu trinken ein.«
Cathy schaute mit großen Augen zu, wie ihre Mutter überlegte, ob sie ihn killen oder küssen sollte.
Zu Cathys Schrecken gewann das Küssen.
Sie packte Ron am Arm, um ihn aus dem Zimmer zu zerren, und ermunterte ihn mit fröhlicher Stimme: »Na, komm schon, kippen wir ein Gläschen, und dann ist auch rundherum die Laune besser.«
Ron warf sich in die Brust, lächelte sie milde an und ließ sich aus Cathys Zimmer bugsieren. Über die Schulter zwinkerte Madge ihrer Tochter zu, bevor sie die übertrieben geschminkten Augen in Richtung Zimmerdecke verdrehte.
Cathy legte sich wieder hin, kreuzte die Arme über der Brust und seufzte. Wenn es ihr Leben lang so weitergehen sollte, war es vielleicht nicht der Mühe wert.
005
Ron, betrunken und entsprechend großspurig, hackte nebenan auf Madge herum.
»Scheiße, du behandelst sie wie ein Porzellanpüppchen. Die Göre müsste schon längst anschaffen gehen. Mit ihrem Haar und ihren Augen könnte sie ein Vermögen nach Hause bringen. Ein gottverdammtes Vermögen.« Seine Stimme war leiser geworden, denn er malte sich die Summen aus, die einzufahren wären, wenn man das kleine Mädchen mit den riesigen blauen Augen und dem dicken blonden Haar auf den Strich schickte. Er wäre gar nicht so abgeneigt, die Kleine höchstpersönlich einzureiten; natürlich nicht, wenn der verdammte Lauser Docherty ihm bereits zuvorgekommen war. Der Gedanke wurmte ihn.
Madge schenkte Ron einen großen Scotch ein und schloss dabei ganz fest die Augen. Rons Blicke waren schon einige Male an den knospenden Reizen ihrer Tochter hängen geblieben, aber sie hatte das nicht weiter beachtet. Jetzt sprach er jedoch seine Gedanken laut aus, und darüber war Madge gar nicht glücklich.
»Rede nicht so, Ron.« Schneidende Kälte war in Madges Stimme zurückgekehrt. Mit diesem Ton konnte sie jeden, der sie kannte, dazu bringen, sofort das Thema fallenzulassen, das sie verärgert hatte. Mit ein paar Drinks intus war Madge unberechenbar. Wie die meisten Huren hatte sie so manchen Groll in sich hineingefressen, ließ aber ab und zu mal richtig Dampf ab. Und wenn sie es tat, glichen ihre Wutanfälle mittleren Vulkanausbrüchen.
»Lass gut sein, Ron«, warnte sie ihn jetzt. »Das Mädchen war durcheinander. Und am Ende bleibt sie doch immer meine Kleine.«
Er schnaufte verächtlich durch seine lange Hakennase. »Nur schade, dass du daran nicht denkst, wenn die Göre durch die Gegend stolziert wie ‘ne Mininutte. Voll geschminkt, die spitzen Tittchen unter den engen Klamotten … ganz die versaute Tochter der versauten Mutter.«
Madge betrachtete den Mann neben sich, sah sein schütteres Haar, den Mund mit den feuchten und schlaffen Lippen, die schmutzigen Fingernägel. Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, kippte sie ihm ihren Drink ins Gesicht.
»Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen, so von meinem Kind zu sprechen? Ich bin vielleicht keine ideale Mutter, das weiß ich wohl, aber sie bleibt doch mein Baby. Mein Fleisch und Blut. Niemand spricht so von meinem Kind. Niemand, hast du mich verstanden?«
Sie rückte ihm dicht auf die Pelle und schrie ihn an: »Du elender Hundsfott! Sieh dich doch nur an, Arschloch. Ein Stück Scheiße bist du, mehr nicht. Du und deine Spießgesellen, ihr habt doch Schiss vor euren eigenen Schatten. Ein feiger Hund bist du, ein Jammerlappen, wie er im Buche steht. Und jetzt willst du tatsächlich mein Mädchen? Du willst mein Baby? Dir reicht es nicht, mich auf den Strich zu schicken. Du willst, dass wir beide für dich anschaffen gehen, oder? Nun, ich will dir eins sagen, selbst wenn ich wollte, dass sie auf Männerfang geht, von dir würde sie sich ums Verrecken nicht antatschen lassen. Mein Mädchen ist fünfzig … nein, hundert wert von deiner Sorte, Freundchen. Die wird mal wer sein.«
Höhnisch lachend sagte sie schließlich: »Wer, zur Hölle, glaubst du, dass du bist, mit deinem schäbigen Club und deinem Winzpimmel? Was hast du einer Frau zu bieten, äh? Nicht mal für ‘ne alte Hure wie mich reicht’s bei dir. Eamonn hat mich wenigstens auf Touren gebracht, hat’s mir besorgt wie ‘n richtiger Liebhaber. Du bist doch der absolute Blindgänger.«
Irgendwo in ihrem beduselten Hirn dämmerte es Madge, dass sie zu weit ging. Aber der Alkohol schien etwas in ihr ausgelöst zu haben. All ihre Wut und ihr Frust wurden an die Oberfläche gespült, und Ron bekam den ganzen Hass ab, den sie auf sich selbst hatte, auf ihr Leben und all die Hässlichkeiten, die sie hatte ertragen müssen.
»Ein Aufstieg, dein Club?« Jetzt kreischte sie nur noch. »Dass ich nicht lache! Ich hatte unten am Hafen bessere Freier als in deinem Laden, Kumpel. Und was dich betrifft - mich haben zwergwüchsige Matrosen besser gefickt als du mit deinem Stummelschwanz. Der dreckige kleine Wurmfortsatz, den du vorzuweisen hast, und dein Stöhnen und Ächzen und Schwitzen … ich muss schon kotzen, wenn ich nur daran denke. So, jetzt weißt du verdammt noch mal Bescheid.«
Ron sah sie entgeistert an. Noch nie hatte eine Hure so mit ihm geredet. Besonders keine von seinen eigenen. Er war außer sich vor Wut, und der spontane Schlag mit dem Handrücken in Madges Gesicht war ein Schock für beide. Und dann begann der Kampf.
Mit ihren vielen Extrapfunden war Madge eine beachtliche Gegnerin. Sie packte Ron an den Haaren und zerrte ihn ohne viel Federlesens vom Sofa, wobei ihre schweren Brüste vor Anstrengung bebten. Schon seit ewigen Zeiten hatte sie sich gegen Männer zur Wehr setzen müssen. Das gehörte zu ihrer Arbeit und war notwendig zum Überleben. Diesmal ging es jedoch um etwas Persönliches. Madge war ihr Leben lang missbraucht worden, und dieser Mann wollte jetzt ihre Tochter missbrauchen. Sie spürte kalte Wut und auch Eifersucht in sich aufsteigen. Fühlte, wie der grenzenlose Hass auf ihn und auf alle Männer von ihr Besitz ergriff. Sie schlug die Fingernägel in seinen Hals und spuckte ihm ins Auge.
Halb blind nahm Ron ihr Gesicht wahr und erkannte, dass die Frau völlig die Kontrolle verloren hatte. Die feuchten Augen mit der verklumpten Wimperntusche und den blauen Lidschatten gehörten einer enthemmten Frau. Nach Jahren des Missbrauchs und der Misshandlungen schlug sie jetzt zurück.
Ron verkörperte jetzt jeden einzelnen Mann, der sie grob misshandelt hatte, jede spießige Frau, die auf ihre Kosten einen Witz gerissen hatte, jeden Freier, ob übel oder nicht erwähnenswert, der ihr verächtlich den Liebeslohn in die Hand gedrückt hatte.
Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte stieß der Mann sie so heftig von sich, dass sie durchs Zimmer taumelte und mit Wucht an die Wand auf der gegenüberliegenden Seite prallte. Als Ron auf die Beine kam, beobachtete sie ihn misstrauisch, und ihr massiger Leib bebte von Kopf bis Fuß.
»Ich brech dir den verdammten Hals, Weib.« Als er auf sie losstürmte, hatten beide nicht bemerkt, dass Cathy in der Tür stand und alles mit ansah. Sie rannte durchs Zimmer und riss Ron wie besessen an den Haaren.
»Lass meine Mom in Ruhe! Lass sie los! Geh nach Hause, Ron, um Gottes willen!«
Er stieß sie achtlos von sich.
»Geh nach Hause, Mann. Meine Mutter ist betrunken und du auch. Komm morgen früh wieder.« Cathys Stimme überschlug sich fast vor Angst.
Die Sullivans von nebenan, die so oft unter dem Lärm litten, klopften wieder einmal gegen die Wand. Da sie an derartige Tumulte gewöhnt waren, hielten sie die Situation für nicht ernst genug, um sich einzumischen oder etwas zu unternehmen. Wie geschlagene Ehefrauen konnte man eben auch geprügelte Huren einfach unbeachtet lassen oder deren Lage sogar hinnehmen. Opfer häuslicher Gewalt blieben stets sich selbst überlassen. Das war der Lauf der Welt.
Ron schlug jetzt ruhig und methodisch auf Madge ein. Der erste Schock war zu kalter Wut geworden. Unter seinen Schlägen sank Madge auf dem Fußboden zusammen. Sie verschränkte die Arme über dem Kopf und entspannte sich so, wie Menschen es lernen, die immer wieder Gewalt erleiden. Schläge werden von einem schlaffen Körper leichter abgefangen, und nur die Anspannung der Muskeln verursacht richtige Schmerzen. Madge war an Schmerzen gewöhnt, lebte Tag um Tag mit ihnen. Bei der Arbeit war ihr Leben ständig bedroht, und verprügelt zu werden, war für sie ein kleines Übel.
Für Cathy war es anders. Sie nahm das Brotmesser vom Tisch, stellte sich neben Ron und flehte ihn an, ihrer Mutter nicht mehr länger wehzutun. Sie sah, wie Madges Körper Schlag um Schlag hinnehmen musste, und als Rons Zorn beinahe verraucht war, holte er noch einmal aus, um ihr den letzten Tritt zu versetzen.
In dem Moment stieß Cathy ihm das Messer in den Hals. Es war eine reine Reflexhandlung. Sie wollte nur, dass er aufhörte, ihrer Mutter wehzutun.
Starr vor Schreck sah das Mädchen, wie die Haut aufklaffte, Zentimeter für Zentimeter. In Zeitlupe. Stumm schaute sie auf das Messer in ihrer Hand, und ihr wurde erst langsam bewusst, was sie getan hatte. Verblüfft sah Ron das Mädchen an, das vor ihm stand, blickte in die großen angstgeweiteten Augen und auf die zitternden Hände, bevor er schwer auf die Knie sank, eine Hand an den Hals gepresst.
Erst nach einer Ewigkeit sprudelte Blut aus der Wunde. Die Halsschlagader presste stoßweise dunkelrote Blutstrahlen hervor, die einen halben Meter weit durch die Luft schossen. Innerhalb von Sekunden waren seine Hände von Blut bedeckt. Mit jedem seiner Schläge pumpte das immer schwächer werdende Herz mehr Blut aus seinem Köper. Erst als Cathy bespritzt wurde und den warmen Geruch wahrnahm, schrie sie.
Der Schrei schien von jemand anderem zu kommen, und in dem kleinen Zimmer klang er ohrenbetäubend.
Madge sah ihren Liebhaber sterben, und irgendwann schrie sie dann auch.
 
Detective Inspector Richard Gates drängte sich rücksichtslos durch die kleine Gruppe von Schaulustigen im Flur und brüllte: »Gut jetzt, gut jetzt, habt ihr genug gesehen? Jetzt raus mit euch, und bitte ganz ruhig. Wir nehmen später von euch allen die Aussagen auf.«
Er scheuchte sie zur Tür hinaus, als Deputy Commissioner Fuller die Wohnung der Connors betrat. Zwei Bobbies wurden draußen vor der Tür postiert, um die Neugierigen im Zaum zu halten, und Gates ging in das kleine Wohnzimmer, nicht ohne vorher sein schütteres Haar glattzustreichen.
Das Blutbad, das sich dort anscheinend abgespielt hatte, raubte ihm die Fassung.
»Gerechter Gott! Was ist denn hier passiert?«, entfuhr es ihm unwillkürlich.
Die von Blut bespritzten Wände schimmerten purpurrot, und das zierliche Mädchen vor ihm sah aus wie von Blut durchtränkt. Der dunkelrote Fleck auf ihrem Nachthemd hatte etwas Obszönes. Sie hielt ein Messer in der Hand. Er zog ein Taschentuch hervor, ging zu ihr hinüber und nahm ihr behutsam das Messer ab.
Zwei blaue Augen, in denen sich Entsetzen spiegelte, sahen ihn flehentlich an. Entgegen besserer Einsicht hätte der Polizist die Verdächtige am liebsten in die Arme geschlossen und getröstet. Stattdessen legte er das Messer auf den Tisch und schaute sich nochmal um.
»Also schön, Madge. Was ist hier vorgefallen?«
»Bitte, Mom.« Die Stimme des Mädchens war dünn, aber dennoch war der flehentliche Ton für niemanden zu überhören. Gates seufzte. Er kannte Madge seit Jahren, noch aus seiner Zeit als Streifenpolizist. Jetzt war er mit seinen neunundzwanzig Jahren der jüngste Detective Inspector im East End. Seine Sporen hatte er sich verdient, indem er solche wie Madge und ihre Freundinnen immer mal wieder eingebuchtet hatte. Sie beide verband eine Art feindseliger Freundschaft, die sich von Zeit zu Zeit für beide als zweckdienlich erwies. Allen Huren lag das Spitzeln im Blut, und allen ging es letztlich nur darum, den eigenen Hintern zu retten. Gates bedachte sie mit einem ingrimmigen Lächeln.
»Und der da?« Er stieß mit dem Fuß gegen Rons Leichnam. »Doch kein Freier, oder? Dein Zuhälter? Ich weiß doch, der Ronnie hat gearbeitet.«
DC Fuller grinste zynisch. »Wird er jetzt wohl kaum mehr können, stimmt’s?«
Sein geringschätziges Grinsen war kennzeichnend für die Laune der Polizisten an diesem Abend. Sie hatten es mal wieder mit einem typischen Nuttenproblem zu tun. Der Tote war ebenfalls nur Abschaum. Sie würden die Sache im Nu geklärt haben und schnell heimgehen können. Alles schon so gut wie unter Dach und Fach. Niemand Ehrbares dabei, und daher war kein Kopfzerbrechen nötig. Abgesehen vom vielen Blut unterschied sich dieser Mord nicht sonderlich von den meisten anderen im East End. Messer waren hier an der Tagesordnung, es sei denn, da hatte einer genug Knete für eine Schusswaffe.
Cathy stand da wie eine Statue, aber jeder im Raum konnte sehen, wie sehr ihre Beine zitterten.
»Warum setzt du dich nicht hin, Kleine?«
Gates’ Stimme klang unerwartet sanft. Er nahm Cathys Arm, führte sie ans Sofa und half ihr behutsam, sich zu setzen. Dann ging er ins Schlafzimmer und brachte einen schweren Mantel vom Bett, den er ihr umlegte.
»Sie steht unter Schock, und das überrascht mich nicht. Armes Ding.«
Cathy schluchzte haltlos. Die unerwartete Freundlichkeit hatte alle Dämme brechen lassen.
»Sie hat ihn erstochen.« Mit zitterndem Finger deutete Madge auf ihre Tochter.
Gates warf ihr einen angewiderten Blick zu.
»Es stimmt, Mr. Gates. Wir haben uns gestritten. Sie kam dazu, und auf einmal war er tot. Jähzornig ist sie schon immer gewesen, die Göre. Fertig werden konnte man nie so richtig mit ihr … Sie hat das Messer genommen, und dann hat er plötzlich geblutet. Ich glaub nicht, dass sie es mit Absicht getan hat. Bestimmt wollte sie mir nur helfen, denk ich.«
»Schaff sie runter in den Wagen, Bernie. Die Kriminaltechniker sind da. Wir machen dann auf dem Revier weiter.« Als Madge aus dem Zimmer ging, flüsterte Gates ihr zu: »Wusstest du eigentlich, was für ein übles Dreckstück du bist, Madge? Eine wie du ändert sich nie. Du bringst Abschaum wie den da mit nach Hause, wo deine kleine Tochter …« Voller Verachtung wandte er sich ab.
Madge ließ beschämt den Kopf sinken.
»Scher dich runter in den Wagen, Hure, und denk drüber nach, was du gerade gesagt hast.« Er sprach leise, resigniert und voller Abscheu. Dann hob er Cathy vom Sofa auf, trug sie die Treppen hinunter und lud sie unter den neugierigen Blicken der Nachbarn auf den Beifahrersitz des Wagens. So blutüberströmt bot Cathy einen schaurigen Anblick, und die mitfühlende Mrs. Sullivan versetzte ihrem ältesten Sohn einen Stoß und sagte nur: »Los, zum Haus von diesem Iren. Sag ihm, was passiert ist, und sag, dass Cathy ihn braucht.«
Dann sammelte sie ihre Kinderschar um sich und scheuchte sie aus der Kälte der Nacht die Treppen hinauf.
 
Auf dem Polizeirevier wickelte man Cathy in eine Decke und gab ihr süßen, heißen Tee zu trinken. Ihr Haar war klebrig von Blut und ihre Hände waren voller bräunlich roter Flecken. Gates kam in ihre Zelle, brachte eine Schüssel warmes Wasser mit und wusch sie fürsorglich.
Währenddessen schaute sie den Mann nur unverwandt an, ohne einen Ton zu sagen. Auf sie wirkte er furchteinflößend, mit seinem großen runden Gesicht und dem durchdringenden Blick der blauen Augen. Normalerweise fanden ihn Unbeteiligte freundlich und sympathisch, aber jetzt, da er seinen Zorn nur mühsam zurückhalten konnte, sah er grimmig und bedrohlich aus. Obwohl er sich doch so besorgt um sie kümmerte, nahm Cathy irrtümlicherweise an, dass der Zorn ihr galt.
Sie konnte den großen Mann mit dem schütteren Blondhaar und den mächtigen Muskeln nicht einschätzen. Sein Bauch wölbte sich weit vor, und durch die Decke hindurch spürte Cathy die Körperwärme des Mannes. Als sich seine schwere Hand ihrem Gesicht näherte, um es zu säubern, zuckte sie unwillkürlich zurück.
Gates schaute den zarten Teenager an und seufzte. Irgendwie rührte ihn das Mädchen. Er kannte Madge, wusste Bescheid über die Probleme von Huren und deren Kindern, und obwohl er es nie im Leben offen eingestanden hätte, empfand er Verständnis und Mitgefühl für Cathy Connor. Madge würde sie garantiert im Stich lassen, und er wusste, was dem jungen Mädchen dann drohte. Sie war fast vierzehn, und wenn sie erstmal in die Mühle der Justiz geriet, würde sie auf unbefristete Zeit festgehalten werden. Bei diesem Gedanken fühlte er verzweifelte Wut in sich aufsteigen.
Menschen wie Madge hatten immer nur sich selbst im Kopf. Anders als die meisten Huren, die sich um ihrer Kinder willen verkauften, war Madge die eine unter Tausenden, die tatsächlich Gefallen an dem fand, was sie tat, ja, die es sogar genoss. Und jetzt würde sie, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, ihr Kind für die Konsequenzen ihrer Lebensweise büßen lassen.
»Cathy?« Gates sprach ganz ruhig, mit seiner unverkennbar tiefen Stimme. »Komm, Kleines. Sag mir, was passiert ist, und dann sehen wir, was sich machen lässt, hm?« Er legte ihr den schweren Arm um die Schultern und zog sie unbeholfen näher an sich, bis ihr Kopf an seiner breiten Brust ruhte.
»Wein nur - das tut dir gut«, sagte er, als er sah, dass ihr dicke Tränen übers Gesicht rollten. »Lass nur alles raus. Dann reden wir und sehen, wie wir mit diesem Schlamassel fertigwerden.«
Er hielt Cathy fest, bis sie eingeschlafen war. Dann legte er sie behutsam aufs Bett, schob ein Kissen unter ihren Kopf und breitete eine Decke über ihr aus. Fuller, der die beiden durch ein Guckloch beobachtete, mochte seinen Augen kaum trauen.
 
Madge bot ein Bild unsäglichen Elends. Ihr Haar war wild zerzaust, ihr Make-up wüst über das feiste Gesicht verteilt. Ihre Wangen waren geschwollen und vom vielen Weinen rot gefleckt - vom Weinen über ihre eigene Lage wohlgemerkt, nicht über Rons Tod. Sie saß auf der schmalen Pritsche in ihrer Zelle und starrte auf die blassgelben, von Graffiti bedeckten Wände. Dann konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
Was sollte sie nur tun?
Diese Frage ging ihr seit Stunden quälend durch den Kopf. Man hatte ihr eine Tasse Tee und ein paar Zigaretten zukommen lassen, aber ansonsten war niemand aufgetaucht. Nervös richtete sie sich auf und machte sich daran, ihr Haar zu richten. Unentwegt schmiedete sie neue Pläne. Insgeheim wusste sie durchaus, dass sie ihre Tochter schützen müsste, aber sie hatte ihr Leben lang ausschließlich das eigene Interesse im Auge gehabt und konnte das nicht plötzlich ändern.
Madge war nicht in der Lage, eine Strafe abzusitzen. Dazu noch in einem richtigen Knast. Man hatte sie als jugendliche Straftäterin ein paarmal in Holloway eingesperrt. Das war ihr eine Lehre gewesen, und die Aussicht, etwa nochmal hinter Gitter zu kommen, konnte sie nicht ertragen.
Und dazu noch für lange Zeit.
Lebenslang.
Sie redete sich ein weiteres Mal ein, dass Cathy ja noch jung sei, bald wieder frei sein würde und alles bestimmt leicht verkraften könne. Im Gegensatz zu ihr selbst, die sie auf die fünfzig zuging und ihre Freiheit gewohnt war.
Und sowieso: Cathy hatte zum Messer gegriffen.
Cathy hatte Ron erstochen.
Cathy war durchaus alt genug, um die Konsequenzen ihrer Tat zu tragen.
Aber irgendwo tief in ihr rührte sich doch ein ganz klein wenig das schlechte Gewissen. Sie sprang auf, lief in der Zelle auf und ab. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, sie atmete schwer und keuchend. Angst hatte sie ergriffen. Sie konnte sie schmecken. Und sie schmeckte bitter.
 
Mit resignierter Miene betrachtete Gates seinen Vorgesetzten, Detective Chief Inspector Bannister. Als einem Vertreter der alten Schule galt für ihn nur eine Devise: Finde einen Verdächtigen und nagele ihn fest.
Im stickigen Büroraum reagierten beide Männer gereizt, und Bannister, der den Blick seines DI erwiderte, unterdrückte seine aufkommende Abneigung.
Als Gates in sein Leben getreten war, hatte er zum ersten Mal das Gefühl der Unsicherheit kennengelernt. Äußerlich glich dieser Mann eher einem Kriminellen als einem Polizisten, mit seinem kurzgeschorenen Haar auf der beginnenden Glatze, mit seinem Stiernacken und den unnachsichtigen blauen Augen. Gates pflegte zudem eine höchst eigenwillige Lebensauffassung, die sich in der augenfälligen Seelenverwandtschaft mit vielen der Kriminellen offenbarte, mit denen er beruflich zu tun hatte.
Er war im East End geboren und hatte es auf Umwegen zur Ehrbarkeit gebracht. Sein Vater war Wirt eines Pubs gewesen und hatte so manchen Gangsterboss jener Zeit bewirtet. Auf jeden, der ihn kennenlernte, wirkte DI Richard Gates absonderlich, und da er das sehr wohl wusste, nutzte er es schonungslos aus. Seine sanfte Stimme flößte seinen Männern genauso panische Angst ein wie den Gangstern. Mit seinen muskulösen Armen und dem mächtigen Bauch konnte er gemütlich aussehen, aber im nächsten Moment schon bedrohlich wirken wie ein Bär.
Jetzt, da er seinem Vorgesetzten in die Augen sah, wusste er sehr genau um die Wirkung, die er damit hervorrief, und genoss es sehr. Er hatte Respekt vor nichts und niemandem, und das unterschied ihn von anderen Polizisten. Was er sich schamlos zunutze machte.
»Für meine Person denk ich, es war die Mutter. Das Mädchen hatte nichts damit zu tun.«
Bannister nickte und sagte: »Soweit ich weiß, soll Madge Connor lauthals behauptet haben, dass ihre Tochter die Schuldige ist?«
Gates zuckte die Achseln. »Madge ist eine Hure, und Huren würden alles behaupten, um ihren Hintern zu retten. So viel sollten Sie doch auch wissen.«
Dieser Affront wurde sehr wohl gespeichert und zur späteren Bezugnahme abgelegt. Bannister war entschlossen, Gates eines Tages auszubooten, und zwar ein für alle Mal.
»Und … was wollen Sie unternehmen?«
Gates schmunzelte. Er wusste, dass er die Schlacht gewonnen hatte. Jetzt musste er nur noch den Krieg siegreich beenden.
»Ich werde mich mal mit Madge unterhalten und sehen, ob ich sie nicht zur Vernunft bringen kann. Ihr sozusagen den Irrweg klarmachen, den sie eingeschlagen hat.«
Bannister nickte. »Gute Idee. Ich kann die Sache also Ihnen überlassen, nicht wahr?«
Gates nickte und schritt hinaus. Sein Vorgesetzter wünschte nur, dass der DI so schnell wie möglich auf ein anderes Revier versetzt würde.
Die Aufsteigerin
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