Kapitel sechs
»Ist auch alles in Ordnung mit dir,
Kleines?«
Madges Stimme klang tief und heiser von zu vielen
Zigaretten und zu viel Alkohol, als sie Stunden später ins Zimmer
ihrer Tochter trat.
Cathy nickte, schloss die Augen gegen das grelle
Licht und hörte die laute Radiomusik aus dem Vorderzimmer. Sie
hörte auch eine Männerstimme und seufzte: »Mom, dein Freier wartet.
Mir geht’s gut. Wirklich.«
Madge sah forschend in das verkniffene bleiche
Gesicht ihrer Tochter und sagte freundlich: »Hast du deine Tage,
Liebes?«
Cathy schüttelte den Kopf. »Ich hab Bauchschmerzen,
Mom, sonst nichts. Mir geht’s gut.«
Madge wandte den Blick nicht ab, sondern kniff die
Augen zusammen und sagte: »Du hast es doch nicht etwa mit Eamonn
getrieben, oder?«
Cathy kam hoch und schrie sie an: »Nein, hab ich
verdammt nochmal nicht! Und wenn ich’s hätte, wärst du die Letzte,
die was zu meckern hätte. Ich mein, sei mal ehrlich, Mom. Ist doch
ein Wunder, dass ich nicht mit dir zusammen auf’n Strich geh. Das
denken sowieso ‘ne Menge Leute.«
Ihr Gefühlsausbruch flaute so schnell ab, wie er
aufgeflammt war, und Cathy legte sich wieder hin. Erschöpft sagte
sie: »Bitte, lass mich allein, Mom. Ich fühl mich verdammt
angeschlagen. Wahrscheinlich hab ich mir was eingefangen.«
Madge stand auf und sagte bissig: »Solange es kein
Bündel Arme und Beine ist.«
»Ach, verpiss dich, Mutter. Manchmal gehst du mir
echt auf die Nerven.«
Cathys Reaktion war so heftig, dass Madge
erschrak.
»Nicht in diesem Ton, junge Dame! Kannst ja halten
von mir, was du willst, aber ich bleib immer noch deine
Mutter.«
Cathy unterbrach sie höhnisch: »Schade, dass du
daran nicht denkst, wenn du von deinen Touren den halben Hafen mit
nach Hause abschleppst.«
Die schallende Ohrfeige erschreckte Mutter wie
Tochter. Das Mädchen weinte und schien nie wieder aufhören zu
wollen. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht und tropften
ungehindert aufs Laken. Als sie auf ihre Tochter hinabsah, wurde
Madge auf einmal von bisher nicht gekannten Gefühlen überwältigt.
Nachdem sie sie als Kind nie verstanden hatte, war die Tochter
jetzt, da sie zur Frau heranwuchs, fast wie eine Schwester, eine
Freundin, und sie bedauerte es sehr, dass sie so oft miteinander im
Clinch lagen.
»Tut mir leid, Baby, mir ist die verdammte Hand
doch nur ausgerutscht.«
Unsanft zog sie ihre Tochter an sich. Die beiden
lagen sich in den Armen und weinten. Ausnahmsweise einmal
mütterlich streichelte Madge den schmalen Rücken des Mädchens und
flüsterte tröstende Worte. »Es tut mir so leid, Cathy. Es tut mir
ja so leid, mein Kleines.«
Cathy genoss es, in den Armen ihrer Mutter zu
liegen. »Ich liebe dich doch auch, Mom. Tut mir leid, dass ich so
ein Miesepeter war.«
Madge lächelte trotz der Tränen. »Miesepeter« war
Cathys Wort aus frühester Kinderzeit, als sie noch ein Winzling
gewesen war, nichts als Streichholzbeine und riesige blaue
Augen.
»Du bist kein Miesepeter, Liebling. Es stimmt ja,
was du gesagt hast: Ich bin eine dumme alte Kuh. Das hat Gott nun
mal für mich vorgesehen - aber ich liebe dich, Cathy. Auf meine
ganz besondere Weise liebe ich dich über alles.«
In dem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und Ron
kam ins Zimmer. »Was findet denn hier statt, hä?
Weiberverschwörung, oder was? Schieb deinen fetten Arsch wieder
nach vorn ins Zimmer, Mädchen. Ich fühl mich sonst so einsam und
allein.«
Madge protestierte lauthals. »Verpiss dich, Ron.
Siehst du nicht, dass die Kleine unglücklich ist?«
»Was ist denn mit ihr?« Er streckte Cathy das
Gesicht entgegen und schnauzte sie an: »Was hast du denn, du dummes
Gör?«
Sie schloss die Augen und stöhnte. »Schaff ihn hier
raus, Mom.«
Ron, betrunken und ehrpusselig, polterte: »›Schaff
ihn hier raus‹? Meinst du mich, junge Dame? Wenn’s so ist, solltest
du wissen, dass ich es bin, der seit ‘ner Weile dafür sorgt, dass
ihr ‘n Scheißdach überm Kopf habt. Würde gar nicht schaden, wenn du
dir das merken könntest.«
Er trat aufs Bett zu, stieß Cathy den Finger auf
die Brust und wetterte: »Ich hab deine Mutter von der Straße geholt
und ‘ne echt Professionelle aus ihr gemacht. Also, niemand redet so
mit mir, am allerwenigsten eine Gossengöre, die besser ihre Klappe
hält und ihre Rotznase in die eigenen Sachen steckt!«
Madge stand auf, stützte ihren imposanten Vorbau
auf einen fleischigen Unterarm und sagte: »Bist du jetzt fertig?«
Ihre Stimme klang leise, gelassen und würdevoll. Für Cathy das
sichere Zeichen dafür, dass ihre Mutter jeden Moment explodieren
konnte.
Mit Madges kleinen Eigenarten noch nicht vertraut,
fuhr Ron mit seiner Tirade fort: »Nein, ich bin verdammt noch lange
nicht fertig! Und wenn ich fertig bin, erfährst du’s als Erste,
verstanden? Und schaff jetzt deinen Arsch nach vorn ins Zimmer, und
schenk mir was zu trinken ein.«
Cathy schaute mit großen Augen zu, wie ihre Mutter
überlegte, ob sie ihn killen oder küssen sollte.
Zu Cathys Schrecken gewann das Küssen.
Sie packte Ron am Arm, um ihn aus dem Zimmer zu
zerren, und ermunterte ihn mit fröhlicher Stimme: »Na, komm schon,
kippen wir ein Gläschen, und dann ist auch rundherum die Laune
besser.«
Ron warf sich in die Brust, lächelte sie milde an
und ließ sich aus Cathys Zimmer bugsieren. Über die Schulter
zwinkerte Madge ihrer Tochter zu, bevor sie die übertrieben
geschminkten Augen in Richtung Zimmerdecke verdrehte.
Cathy legte sich wieder hin, kreuzte die Arme über
der Brust und seufzte. Wenn es ihr Leben lang so weitergehen
sollte, war es vielleicht nicht der Mühe wert.
Ron, betrunken und entsprechend großspurig, hackte
nebenan auf Madge herum.
»Scheiße, du behandelst sie wie ein
Porzellanpüppchen. Die Göre müsste schon längst anschaffen gehen.
Mit ihrem Haar und ihren Augen könnte sie ein Vermögen nach Hause
bringen. Ein gottverdammtes Vermögen.« Seine Stimme war leiser
geworden, denn er malte sich die Summen aus, die einzufahren wären,
wenn man das kleine Mädchen mit den riesigen blauen Augen und dem
dicken blonden Haar auf den Strich schickte. Er wäre gar nicht so
abgeneigt, die Kleine höchstpersönlich einzureiten; natürlich
nicht, wenn der verdammte Lauser Docherty ihm bereits zuvorgekommen
war. Der Gedanke wurmte ihn.
Madge schenkte Ron einen großen Scotch ein und
schloss dabei ganz fest die Augen. Rons Blicke waren schon einige
Male an den knospenden Reizen ihrer Tochter hängen geblieben, aber
sie hatte das nicht weiter beachtet. Jetzt sprach er jedoch seine
Gedanken laut aus, und darüber war Madge gar nicht glücklich.
»Rede nicht so, Ron.« Schneidende Kälte war in
Madges Stimme zurückgekehrt. Mit diesem Ton konnte sie jeden, der
sie kannte, dazu bringen, sofort das Thema fallenzulassen, das sie
verärgert hatte. Mit ein paar Drinks intus war Madge unberechenbar.
Wie die meisten Huren hatte sie so manchen Groll in sich
hineingefressen, ließ aber ab und zu mal richtig Dampf ab. Und wenn
sie es tat, glichen ihre Wutanfälle mittleren
Vulkanausbrüchen.
»Lass gut sein, Ron«, warnte sie ihn jetzt. »Das
Mädchen war durcheinander. Und am Ende bleibt sie doch immer meine
Kleine.«
Er schnaufte verächtlich durch seine lange
Hakennase. »Nur schade, dass du daran nicht denkst, wenn die Göre
durch die Gegend stolziert wie ‘ne Mininutte. Voll geschminkt, die
spitzen Tittchen unter den engen Klamotten … ganz die versaute
Tochter der versauten Mutter.«
Madge betrachtete den Mann neben sich, sah sein
schütteres Haar, den Mund mit den feuchten und schlaffen Lippen,
die schmutzigen Fingernägel. Ohne auch nur eine Sekunde zu
überlegen, kippte sie ihm ihren Drink ins Gesicht.
»Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen, so
von meinem Kind zu sprechen? Ich bin vielleicht keine ideale
Mutter, das weiß ich wohl, aber sie bleibt doch mein Baby. Mein
Fleisch und Blut. Niemand spricht so von meinem Kind. Niemand, hast
du mich verstanden?«
Sie rückte ihm dicht auf die Pelle und schrie ihn
an: »Du elender Hundsfott! Sieh dich doch nur an, Arschloch. Ein
Stück Scheiße bist du, mehr nicht. Du und deine Spießgesellen, ihr
habt doch Schiss vor euren eigenen Schatten. Ein feiger Hund bist
du, ein Jammerlappen, wie er im Buche steht. Und jetzt willst du
tatsächlich mein Mädchen? Du willst mein Baby? Dir reicht es nicht,
mich auf den Strich zu schicken. Du willst, dass wir beide für dich
anschaffen gehen, oder? Nun, ich will dir eins sagen, selbst wenn
ich wollte, dass sie auf Männerfang geht, von dir würde sie sich
ums Verrecken nicht antatschen lassen. Mein Mädchen ist fünfzig …
nein, hundert wert von deiner Sorte, Freundchen. Die wird mal
wer sein.«
Höhnisch lachend sagte sie schließlich: »Wer, zur
Hölle,
glaubst du, dass du bist, mit deinem schäbigen Club und deinem
Winzpimmel? Was hast du einer Frau zu bieten, äh? Nicht mal für ‘ne
alte Hure wie mich reicht’s bei dir. Eamonn hat mich wenigstens auf
Touren gebracht, hat’s mir besorgt wie ‘n richtiger Liebhaber. Du
bist doch der absolute Blindgänger.«
Irgendwo in ihrem beduselten Hirn dämmerte es
Madge, dass sie zu weit ging. Aber der Alkohol schien etwas in ihr
ausgelöst zu haben. All ihre Wut und ihr Frust wurden an die
Oberfläche gespült, und Ron bekam den ganzen Hass ab, den sie auf
sich selbst hatte, auf ihr Leben und all die Hässlichkeiten, die
sie hatte ertragen müssen.
»Ein Aufstieg, dein Club?« Jetzt kreischte sie nur
noch. »Dass ich nicht lache! Ich hatte unten am Hafen bessere
Freier als in deinem Laden, Kumpel. Und was dich betrifft - mich
haben zwergwüchsige Matrosen besser gefickt als du mit deinem
Stummelschwanz. Der dreckige kleine Wurmfortsatz, den du
vorzuweisen hast, und dein Stöhnen und Ächzen und Schwitzen … ich
muss schon kotzen, wenn ich nur daran denke. So, jetzt weißt du
verdammt noch mal Bescheid.«
Ron sah sie entgeistert an. Noch nie hatte eine
Hure so mit ihm geredet. Besonders keine von seinen eigenen. Er war
außer sich vor Wut, und der spontane Schlag mit dem Handrücken in
Madges Gesicht war ein Schock für beide. Und dann begann der
Kampf.
Mit ihren vielen Extrapfunden war Madge eine
beachtliche Gegnerin. Sie packte Ron an den Haaren und zerrte ihn
ohne viel Federlesens vom Sofa, wobei ihre schweren Brüste vor
Anstrengung bebten. Schon seit ewigen Zeiten hatte sie sich gegen
Männer zur Wehr setzen müssen. Das gehörte zu ihrer Arbeit und war
notwendig zum Überleben. Diesmal ging es jedoch um etwas
Persönliches. Madge war ihr Leben lang missbraucht worden, und
dieser Mann wollte jetzt ihre Tochter missbrauchen. Sie spürte
kalte Wut und auch Eifersucht in sich aufsteigen. Fühlte, wie der
grenzenlose Hass auf ihn und auf alle Männer
von ihr Besitz ergriff. Sie schlug die Fingernägel in seinen Hals
und spuckte ihm ins Auge.
Halb blind nahm Ron ihr Gesicht wahr und erkannte,
dass die Frau völlig die Kontrolle verloren hatte. Die feuchten
Augen mit der verklumpten Wimperntusche und den blauen Lidschatten
gehörten einer enthemmten Frau. Nach Jahren des Missbrauchs und der
Misshandlungen schlug sie jetzt zurück.
Ron verkörperte jetzt jeden einzelnen Mann, der sie
grob misshandelt hatte, jede spießige Frau, die auf ihre Kosten
einen Witz gerissen hatte, jeden Freier, ob übel oder nicht
erwähnenswert, der ihr verächtlich den Liebeslohn in die Hand
gedrückt hatte.
Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte stieß der
Mann sie so heftig von sich, dass sie durchs Zimmer taumelte und
mit Wucht an die Wand auf der gegenüberliegenden Seite prallte. Als
Ron auf die Beine kam, beobachtete sie ihn misstrauisch, und ihr
massiger Leib bebte von Kopf bis Fuß.
»Ich brech dir den verdammten Hals, Weib.« Als er
auf sie losstürmte, hatten beide nicht bemerkt, dass Cathy in der
Tür stand und alles mit ansah. Sie rannte durchs Zimmer und riss
Ron wie besessen an den Haaren.
»Lass meine Mom in Ruhe! Lass sie los! Geh nach
Hause, Ron, um Gottes willen!«
Er stieß sie achtlos von sich.
»Geh nach Hause, Mann. Meine Mutter ist betrunken
und du auch. Komm morgen früh wieder.« Cathys Stimme überschlug
sich fast vor Angst.
Die Sullivans von nebenan, die so oft unter dem
Lärm litten, klopften wieder einmal gegen die Wand. Da sie an
derartige Tumulte gewöhnt waren, hielten sie die Situation für
nicht ernst genug, um sich einzumischen oder etwas zu unternehmen.
Wie geschlagene Ehefrauen konnte man eben auch geprügelte Huren
einfach unbeachtet lassen oder deren Lage sogar hinnehmen.
Opfer häuslicher Gewalt blieben stets sich selbst überlassen. Das
war der Lauf der Welt.
Ron schlug jetzt ruhig und methodisch auf Madge
ein. Der erste Schock war zu kalter Wut geworden. Unter seinen
Schlägen sank Madge auf dem Fußboden zusammen. Sie verschränkte die
Arme über dem Kopf und entspannte sich so, wie Menschen es lernen,
die immer wieder Gewalt erleiden. Schläge werden von einem
schlaffen Körper leichter abgefangen, und nur die Anspannung der
Muskeln verursacht richtige Schmerzen. Madge war an Schmerzen
gewöhnt, lebte Tag um Tag mit ihnen. Bei der Arbeit war ihr Leben
ständig bedroht, und verprügelt zu werden, war für sie ein kleines
Übel.
Für Cathy war es anders. Sie nahm das Brotmesser
vom Tisch, stellte sich neben Ron und flehte ihn an, ihrer Mutter
nicht mehr länger wehzutun. Sie sah, wie Madges Körper Schlag um
Schlag hinnehmen musste, und als Rons Zorn beinahe verraucht war,
holte er noch einmal aus, um ihr den letzten Tritt zu
versetzen.
In dem Moment stieß Cathy ihm das Messer in den
Hals. Es war eine reine Reflexhandlung. Sie wollte nur, dass er
aufhörte, ihrer Mutter wehzutun.
Starr vor Schreck sah das Mädchen, wie die Haut
aufklaffte, Zentimeter für Zentimeter. In Zeitlupe. Stumm schaute
sie auf das Messer in ihrer Hand, und ihr wurde erst langsam
bewusst, was sie getan hatte. Verblüfft sah Ron das Mädchen an, das
vor ihm stand, blickte in die großen angstgeweiteten Augen und auf
die zitternden Hände, bevor er schwer auf die Knie sank, eine Hand
an den Hals gepresst.
Erst nach einer Ewigkeit sprudelte Blut aus der
Wunde. Die Halsschlagader presste stoßweise dunkelrote Blutstrahlen
hervor, die einen halben Meter weit durch die Luft schossen.
Innerhalb von Sekunden waren seine Hände von Blut bedeckt. Mit
jedem seiner Schläge pumpte das immer schwächer werdende Herz mehr
Blut aus seinem Köper. Erst als Cathy bespritzt wurde und den
warmen Geruch wahrnahm, schrie sie.
Der Schrei schien von jemand anderem zu kommen, und
in dem kleinen Zimmer klang er ohrenbetäubend.
Madge sah ihren Liebhaber sterben, und irgendwann
schrie sie dann auch.
Detective Inspector Richard Gates drängte sich
rücksichtslos durch die kleine Gruppe von Schaulustigen im Flur und
brüllte: »Gut jetzt, gut jetzt, habt ihr genug gesehen? Jetzt raus
mit euch, und bitte ganz ruhig. Wir nehmen später von euch allen
die Aussagen auf.«
Er scheuchte sie zur Tür hinaus, als Deputy
Commissioner Fuller die Wohnung der Connors betrat. Zwei Bobbies
wurden draußen vor der Tür postiert, um die Neugierigen im Zaum zu
halten, und Gates ging in das kleine Wohnzimmer, nicht ohne vorher
sein schütteres Haar glattzustreichen.
Das Blutbad, das sich dort anscheinend abgespielt
hatte, raubte ihm die Fassung.
»Gerechter Gott! Was ist denn hier passiert?«,
entfuhr es ihm unwillkürlich.
Die von Blut bespritzten Wände schimmerten
purpurrot, und das zierliche Mädchen vor ihm sah aus wie von Blut
durchtränkt. Der dunkelrote Fleck auf ihrem Nachthemd hatte etwas
Obszönes. Sie hielt ein Messer in der Hand. Er zog ein Taschentuch
hervor, ging zu ihr hinüber und nahm ihr behutsam das Messer
ab.
Zwei blaue Augen, in denen sich Entsetzen
spiegelte, sahen ihn flehentlich an. Entgegen besserer Einsicht
hätte der Polizist die Verdächtige am liebsten in die Arme
geschlossen und getröstet. Stattdessen legte er das Messer auf den
Tisch und schaute sich nochmal um.
»Also schön, Madge. Was ist hier
vorgefallen?«
»Bitte, Mom.« Die Stimme des Mädchens war dünn,
aber dennoch war der flehentliche Ton für niemanden zu überhören.
Gates seufzte. Er kannte Madge seit Jahren, noch aus seiner Zeit
als
Streifenpolizist. Jetzt war er mit seinen neunundzwanzig Jahren
der jüngste Detective Inspector im East End. Seine Sporen hatte er
sich verdient, indem er solche wie Madge und ihre Freundinnen immer
mal wieder eingebuchtet hatte. Sie beide verband eine Art
feindseliger Freundschaft, die sich von Zeit zu Zeit für beide als
zweckdienlich erwies. Allen Huren lag das Spitzeln im Blut, und
allen ging es letztlich nur darum, den eigenen Hintern zu retten.
Gates bedachte sie mit einem ingrimmigen Lächeln.
»Und der da?« Er stieß mit dem Fuß gegen Rons
Leichnam. »Doch kein Freier, oder? Dein Zuhälter? Ich weiß doch,
der Ronnie hat gearbeitet.«
DC Fuller grinste zynisch. »Wird er jetzt wohl kaum
mehr können, stimmt’s?«
Sein geringschätziges Grinsen war kennzeichnend für
die Laune der Polizisten an diesem Abend. Sie hatten es mal wieder
mit einem typischen Nuttenproblem zu tun. Der Tote war ebenfalls
nur Abschaum. Sie würden die Sache im Nu geklärt haben und schnell
heimgehen können. Alles schon so gut wie unter Dach und Fach.
Niemand Ehrbares dabei, und daher war kein Kopfzerbrechen nötig.
Abgesehen vom vielen Blut unterschied sich dieser Mord nicht
sonderlich von den meisten anderen im East End. Messer waren hier
an der Tagesordnung, es sei denn, da hatte einer genug Knete für
eine Schusswaffe.
Cathy stand da wie eine Statue, aber jeder im Raum
konnte sehen, wie sehr ihre Beine zitterten.
»Warum setzt du dich nicht hin, Kleine?«
Gates’ Stimme klang unerwartet sanft. Er nahm
Cathys Arm, führte sie ans Sofa und half ihr behutsam, sich zu
setzen. Dann ging er ins Schlafzimmer und brachte einen schweren
Mantel vom Bett, den er ihr umlegte.
»Sie steht unter Schock, und das überrascht mich
nicht. Armes Ding.«
Cathy schluchzte haltlos. Die unerwartete
Freundlichkeit hatte alle Dämme brechen lassen.
»Sie hat ihn erstochen.« Mit zitterndem Finger
deutete Madge auf ihre Tochter.
Gates warf ihr einen angewiderten Blick zu.
»Es stimmt, Mr. Gates. Wir haben uns gestritten.
Sie kam dazu, und auf einmal war er tot. Jähzornig ist sie schon
immer gewesen, die Göre. Fertig werden konnte man nie so richtig
mit ihr … Sie hat das Messer genommen, und dann hat er plötzlich
geblutet. Ich glaub nicht, dass sie es mit Absicht getan hat.
Bestimmt wollte sie mir nur helfen, denk ich.«
»Schaff sie runter in den Wagen, Bernie. Die
Kriminaltechniker sind da. Wir machen dann auf dem Revier weiter.«
Als Madge aus dem Zimmer ging, flüsterte Gates ihr zu: »Wusstest du
eigentlich, was für ein übles Dreckstück du bist, Madge? Eine wie
du ändert sich nie. Du bringst Abschaum wie den da mit nach Hause,
wo deine kleine Tochter …« Voller Verachtung wandte er sich
ab.
Madge ließ beschämt den Kopf sinken.
»Scher dich runter in den Wagen, Hure, und denk
drüber nach, was du gerade gesagt hast.« Er sprach leise,
resigniert und voller Abscheu. Dann hob er Cathy vom Sofa auf, trug
sie die Treppen hinunter und lud sie unter den neugierigen Blicken
der Nachbarn auf den Beifahrersitz des Wagens. So blutüberströmt
bot Cathy einen schaurigen Anblick, und die mitfühlende Mrs.
Sullivan versetzte ihrem ältesten Sohn einen Stoß und sagte nur:
»Los, zum Haus von diesem Iren. Sag ihm, was passiert ist, und sag,
dass Cathy ihn braucht.«
Dann sammelte sie ihre Kinderschar um sich und
scheuchte sie aus der Kälte der Nacht die Treppen hinauf.
Auf dem Polizeirevier wickelte man Cathy in eine
Decke und gab ihr süßen, heißen Tee zu trinken. Ihr Haar war
klebrig von Blut und ihre Hände waren voller bräunlich roter
Flecken. Gates kam in ihre Zelle, brachte eine Schüssel warmes
Wasser mit und wusch sie fürsorglich.
Währenddessen schaute sie den Mann nur unverwandt
an, ohne einen Ton zu sagen. Auf sie wirkte er furchteinflößend,
mit seinem großen runden Gesicht und dem durchdringenden Blick der
blauen Augen. Normalerweise fanden ihn Unbeteiligte freundlich und
sympathisch, aber jetzt, da er seinen Zorn nur mühsam zurückhalten
konnte, sah er grimmig und bedrohlich aus. Obwohl er sich doch so
besorgt um sie kümmerte, nahm Cathy irrtümlicherweise an, dass der
Zorn ihr galt.
Sie konnte den großen Mann mit dem schütteren
Blondhaar und den mächtigen Muskeln nicht einschätzen. Sein Bauch
wölbte sich weit vor, und durch die Decke hindurch spürte Cathy die
Körperwärme des Mannes. Als sich seine schwere Hand ihrem Gesicht
näherte, um es zu säubern, zuckte sie unwillkürlich zurück.
Gates schaute den zarten Teenager an und seufzte.
Irgendwie rührte ihn das Mädchen. Er kannte Madge, wusste Bescheid
über die Probleme von Huren und deren Kindern, und obwohl er es nie
im Leben offen eingestanden hätte, empfand er Verständnis und
Mitgefühl für Cathy Connor. Madge würde sie garantiert im Stich
lassen, und er wusste, was dem jungen Mädchen dann drohte. Sie war
fast vierzehn, und wenn sie erstmal in die Mühle der Justiz geriet,
würde sie auf unbefristete Zeit festgehalten werden. Bei diesem
Gedanken fühlte er verzweifelte Wut in sich aufsteigen.
Menschen wie Madge hatten immer nur sich selbst im
Kopf. Anders als die meisten Huren, die sich um ihrer Kinder willen
verkauften, war Madge die eine unter Tausenden, die tatsächlich
Gefallen an dem fand, was sie tat, ja, die es sogar genoss. Und
jetzt würde sie, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, ihr Kind für
die Konsequenzen ihrer Lebensweise büßen lassen.
»Cathy?« Gates sprach ganz ruhig, mit seiner
unverkennbar tiefen Stimme. »Komm, Kleines. Sag mir, was passiert
ist, und dann sehen wir, was sich machen lässt, hm?« Er legte ihr
den
schweren Arm um die Schultern und zog sie unbeholfen näher an
sich, bis ihr Kopf an seiner breiten Brust ruhte.
»Wein nur - das tut dir gut«, sagte er, als er sah,
dass ihr dicke Tränen übers Gesicht rollten. »Lass nur alles raus.
Dann reden wir und sehen, wie wir mit diesem Schlamassel
fertigwerden.«
Er hielt Cathy fest, bis sie eingeschlafen war.
Dann legte er sie behutsam aufs Bett, schob ein Kissen unter ihren
Kopf und breitete eine Decke über ihr aus. Fuller, der die beiden
durch ein Guckloch beobachtete, mochte seinen Augen kaum
trauen.
Madge bot ein Bild unsäglichen Elends. Ihr Haar
war wild zerzaust, ihr Make-up wüst über das feiste Gesicht
verteilt. Ihre Wangen waren geschwollen und vom vielen Weinen rot
gefleckt - vom Weinen über ihre eigene Lage wohlgemerkt, nicht über
Rons Tod. Sie saß auf der schmalen Pritsche in ihrer Zelle und
starrte auf die blassgelben, von Graffiti bedeckten Wände. Dann
konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
Was sollte sie nur tun?
Diese Frage ging ihr seit Stunden quälend durch den
Kopf. Man hatte ihr eine Tasse Tee und ein paar Zigaretten zukommen
lassen, aber ansonsten war niemand aufgetaucht. Nervös richtete sie
sich auf und machte sich daran, ihr Haar zu richten. Unentwegt
schmiedete sie neue Pläne. Insgeheim wusste sie durchaus, dass sie
ihre Tochter schützen müsste, aber sie hatte ihr Leben lang
ausschließlich das eigene Interesse im Auge gehabt und konnte das
nicht plötzlich ändern.
Madge war nicht in der Lage, eine Strafe
abzusitzen. Dazu noch in einem richtigen Knast. Man hatte sie als
jugendliche Straftäterin ein paarmal in Holloway eingesperrt. Das
war ihr eine Lehre gewesen, und die Aussicht, etwa nochmal hinter
Gitter zu kommen, konnte sie nicht ertragen.
Und dazu noch für lange Zeit.
Lebenslang.
Sie redete sich ein weiteres Mal ein, dass Cathy ja
noch jung
sei, bald wieder frei sein würde und alles bestimmt leicht
verkraften könne. Im Gegensatz zu ihr selbst, die sie auf die
fünfzig zuging und ihre Freiheit gewohnt war.
Und sowieso: Cathy hatte zum Messer
gegriffen.
Cathy hatte Ron erstochen.
Cathy war durchaus alt genug, um die Konsequenzen
ihrer Tat zu tragen.
Aber irgendwo tief in ihr rührte sich doch ein ganz
klein wenig das schlechte Gewissen. Sie sprang auf, lief in der
Zelle auf und ab. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, sie atmete
schwer und keuchend. Angst hatte sie ergriffen. Sie konnte sie
schmecken. Und sie schmeckte bitter.
Mit resignierter Miene betrachtete Gates seinen
Vorgesetzten, Detective Chief Inspector Bannister. Als einem
Vertreter der alten Schule galt für ihn nur eine Devise: Finde
einen Verdächtigen und nagele ihn fest.
Im stickigen Büroraum reagierten beide Männer
gereizt, und Bannister, der den Blick seines DI erwiderte,
unterdrückte seine aufkommende Abneigung.
Als Gates in sein Leben getreten war, hatte er zum
ersten Mal das Gefühl der Unsicherheit kennengelernt. Äußerlich
glich dieser Mann eher einem Kriminellen als einem Polizisten, mit
seinem kurzgeschorenen Haar auf der beginnenden Glatze, mit seinem
Stiernacken und den unnachsichtigen blauen Augen. Gates pflegte
zudem eine höchst eigenwillige Lebensauffassung, die sich in der
augenfälligen Seelenverwandtschaft mit vielen der Kriminellen
offenbarte, mit denen er beruflich zu tun hatte.
Er war im East End geboren und hatte es auf Umwegen
zur Ehrbarkeit gebracht. Sein Vater war Wirt eines Pubs gewesen und
hatte so manchen Gangsterboss jener Zeit bewirtet. Auf jeden, der
ihn kennenlernte, wirkte DI Richard Gates absonderlich, und da er
das sehr wohl wusste, nutzte er es schonungslos aus. Seine sanfte
Stimme flößte seinen Männern genauso panische
Angst ein wie den Gangstern. Mit seinen muskulösen Armen und dem
mächtigen Bauch konnte er gemütlich aussehen, aber im nächsten
Moment schon bedrohlich wirken wie ein Bär.
Jetzt, da er seinem Vorgesetzten in die Augen sah,
wusste er sehr genau um die Wirkung, die er damit hervorrief, und
genoss es sehr. Er hatte Respekt vor nichts und niemandem, und das
unterschied ihn von anderen Polizisten. Was er sich schamlos
zunutze machte.
»Für meine Person denk ich, es war die Mutter. Das
Mädchen hatte nichts damit zu tun.«
Bannister nickte und sagte: »Soweit ich weiß, soll
Madge Connor lauthals behauptet haben, dass ihre Tochter die
Schuldige ist?«
Gates zuckte die Achseln. »Madge ist eine Hure, und
Huren würden alles behaupten, um ihren Hintern zu retten. So viel
sollten Sie doch auch wissen.«
Dieser Affront wurde sehr wohl gespeichert und zur
späteren Bezugnahme abgelegt. Bannister war entschlossen, Gates
eines Tages auszubooten, und zwar ein für alle Mal.
»Und … was wollen Sie unternehmen?«
Gates schmunzelte. Er wusste, dass er die Schlacht
gewonnen hatte. Jetzt musste er nur noch den Krieg siegreich
beenden.
»Ich werde mich mal mit Madge unterhalten und
sehen, ob ich sie nicht zur Vernunft bringen kann. Ihr sozusagen
den Irrweg klarmachen, den sie eingeschlagen hat.«
Bannister nickte. »Gute Idee. Ich kann die Sache
also Ihnen überlassen, nicht wahr?«
Gates nickte und schritt hinaus. Sein Vorgesetzter
wünschte nur, dass der DI so schnell wie möglich auf ein anderes
Revier versetzt würde.